Leitsatz (redaktionell)
Kostenvorschuß - Nichteinhaltung der Bedingung des SGG § 109 Abs 1 S 2 - Entscheidung des Gerichts - ZPO § 379, GKG § 114:
1. Das Gericht kann zwar die Anhörung des bestimmten Arztes von einem Kostenvorschuß abhängig machen (SGG § 109 Abs 1 S 2), es darf aber bei Nichteinhaltung dieser Bedingung die aus rechtsstaatlichen Gründen ergangene zwingende Verfahrensvorschrift des SGG § 109 Abs 1 nicht einfach übergehen.
2. Wird der Antrag nach SGG § 109 bis zur letzten mündlichen Verhandlung nicht zurückgenommen, muß das Gericht entweder durch Beschluß oder in den Urteilsgründen über den Antrag entscheiden.
3. In SGG ist zwar nicht ausdrücklich gesagt, welche Folgen die Nichteinzahlung eines nach SGG § 109 Abs 1 S 2 verlangten Kostenvorschusses nach sich zieht. Wegen der sachlich ähnlichen Regelung im Zivilprozeß ist es aber gerechtfertigt, über SGG § 202 die Vorschrift des ZPO § 379 und die erweiternde Vorschrift in GKG § 114 ergänzend heranzuziehen. Danach unterbleiben Handlungen des Gerichts, die mit Auslagen verbunden sind - also auch die Ausführung einer Beweisanordnung -, wenn die zur Einzahlung eines Kostenvorschusses gesetzte Frist nicht eingehalten und die Einzahlung auch nicht so zeitig nachgeholt wird, daß die Beweiserhebung ohne Verzögerung des Verfahrens durchgeführt werden kann.
4. Die Nichteinzahlung des Vorschusses macht aber die Beweisanordnung als solche nicht hinfällig oder gegenstandslos. Sie beseitigt auch den Anspruch aus SGG § 109 Abs 1 S 1 nicht. Dieser kann, wenn der Antrag aufrechterhalten bleibt, nur aus den Gründen des SGG § 109 Abs 2 abgelehnt werden.
Normenkette
SGG § 109 Abs. 1 Sätze 1-2, Abs. 2, § 202; ZPO § 379; GKG § 114
Tenor
Das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 22. März 1972 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Die Klägerin ist die Witwe des im Januar 1948 im Alter von 56 Jahren an einem Kehlkopfkrebs des linken Stimmbandes nach Operation (Laryngofissur) infolge Herzschwäche verstorbenen Beschädigten des ersten Weltkrieges J St (St.). Bei St. war im Zeitpunkt des Todes als Leistungsgrund nach dem Körperbeschädigten-Leistungsgesetz (KBLG) "Verlust des rechten Oberschenkels, Narben an der linken Rückenseite, Brustfellschwarte links und Plattfuß links" mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 100 v. H. anerkannt. Der Antrag der Klägerin auf Hinterbliebenenrente (Witwen- und Waisenrente) wurde im November 1948 abgelehnt; Berufung und Rekurs blieben ohne Erfolg. Die Klägerin bezieht seit Inkrafttreten des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) eine Witwenbeihilfe gemäß § 48 BVG.
Im März 1968 beantragte die Klägerin die Erteilung eines Zugunstenbescheides hinsichtlich ihres Anspruchs auf Witwenrente. Diesen Antrag lehnte das Versorgungsamt (VersorgA) mit Bescheid vom 26. Februar 1969 unter Hinweis auf die Rechtsverbindlichkeit des Bescheids vom November 1948 ab und verneinte auch die Voraussetzungen für eine Kannversorgung (§ 1 Abs. 3 Satz 2 BVG). Widerspruch und Klage blieben ohne Erfolg.
Im Berufungsverfahren beschloß das Landessozialgericht (LSG) in der mündlichen Verhandlung vom 10. November 1971 auf Antrag der Klägerin gemäß § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) die Einholung eines Gutachtens bei Prof. Dr. B, machte dies aber von der Einzahlung eines Kostenvorschusses von 200,- DM bis 10. Januar 1972 abhängig. Auf die Terminsmitteilung vom 7. März 1972 (Termin am 22. März 1972) fragte die Klägerin beim LSG mit Schreiben vom 12. März 1972 an, weshalb die Annahme des von ihrem Sohn im November 1971 eingezahlten Betrages von 200,- DM verweigert worden sei. Auf die Rückfrage des Berichterstatters teilte die Zahlstelle des LSG mit, weder in der Zahl- noch in der Kostenstelle habe jemand zwecks Einzahlung eines Kostenvorschusses vorgesprochen. Im Verhandlungstermin erschien für die Klägerin niemand. Der erschienene Beklagte beantragte Entscheidung nach § 126 SGG. In der Sitzungsniederschrift heißt es, bei nochmaliger Rückfrage in der Zahlstelle werde festgestellt, daß kein Kostenvorschuß eingegangen sei. Das LSG wies die Berufung der Klägerin zurück (Urteil vom 22. März 1972). Es vertrat in Übereinstimmung mit dem Sozialgericht (SG) die Auffassung, der die Erteilung einer Zugunstenentscheidung und eine Kannversorgung ablehnende Bescheid vom 26. Februar 1969 sei nicht rechtswidrig, weil nach dem im ersten Verfahren von Prof. Dr. B im August 1949 erstatteten Gutachten weder der frühere Bescheid tatsächlich und rechtlich unrichtig gewesen sei, noch die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs des Todes mit Schädigungsfolgen nur wegen der unbekannten Ätiologie des Krebsleidens nicht zu bejahen sei. Der Antrag der Klägerin auf Einholung eines Ergänzungsgutachtens bei Prof. Dr. B nach § 109 SGG sei dadurch gegenstandslos geworden, daß sie den Kostenvorschuß in Höhe von 200,- DM weder innerhalb der gesetzten Frist noch bis zum Verhandlungstermin bei Gericht eingezahlt habe. Die Behauptung der Klägerin, das LSG habe die Annahme des Kostenvorschusses verweigert, treffe nicht zu; denn weder in der Zahlstelle noch in der Kostenstelle des LSG habe jemand zum Zwecke der Einzahlung eines Kostenvorschusses vorgesprochen. Das LSG hat die Revision nicht zugelassen.
Die Klägerin hat mit Schreiben vom 7. Juni 1972 die Bewilligung des Armenrechts beantragt. Gleichzeitig hat sie die Fotokopie eines Überweisungsauftrages der Kreissparkasse B. vom 15. November 1971 über 200,- DM zu Lasten ihres Kontos, gerichtet "an das LSG München - Az.: L 15/V 585/70 -, L 15/V 586/70 -", vorgelegt und ua ausgeführt, der genannte Betrag sei an sie zurücküberwiesen worden. Der Senat hat der Klägerin das Armenrecht bewilligt. Die Klägerin hat durch den ihr beigeordneten Rechtsanwalt form- und fristgerecht Revision eingelegt, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt und die Revision innerhalb eines weiteren Monats begründet.
Die Revision rügt die Verletzung der §§ 103, 109, 124, 126, 127, 128 SGG: Das LSG hätte den Antrag der Klägerin nach § 109 SGG nicht als gegenstandslos betrachten dürfen, auch wenn der Vorschuß nicht innerhalb der gesetzten Frist eingezahlt worden sei; vielmehr hätte es den Antrag nur unter den Voraussetzungen des § 109 Abs. 2 SGG ablehnen dürfen. Der Klägerin könne nicht als Verschulden angerechnet werden, daß die Annahme des Kostenvorschusses "verweigert" worden sei. Das LSG habe sich nicht nur auf die Auskunft der Zahl- oder Kostenstelle verlassen dürfen, daß niemand vorgesprochen habe, um Geld einzuzahlen. Im Hinblick auf den auswärtigen Wohnsitz der Klägerin und ihr Vorbringen im Schriftsatz vom 12. März 1972 hätte es die Klägerin vielmehr auffordern müssen, ihre Behauptung über die erfolgte Überweisung und die "Annahmeverweigerung" zu beweisen. Hierzu wäre die Klägerin an Hand der Fotokopie des Überweisungsauftrages der Kreissparkasse B vom 15. November 1971, auf dessen Ausführung sie sich habe verlassen dürfen, in der Lage gewesen. Die Klägerin habe darauf vertrauen dürfen, daß die Kreissparkasse das in der Überweisung nicht angegebene Konto des LSG, dessen Kopfbogen keine diesbezüglichen Angaben enthalte, ermitteln und die Überweisung ausführen werde. Da der Betrag nach einigen Tagen zurückgekommen sei, habe die Klägerin annehmen müssen, das LSG habe den Vorschuß nicht angenommen, sondern zurücküberwiesen. Das LSG hätte der Klägerin deshalb die nachträgliche erneute Einzahlung des Kostenvorschusses gestatten und das Gutachten nach § 109 SGG einholen müssen. Die Auskünfte der Kostenstelle vom 17. und 22. März 1972, auf die das LSG seine Entscheidung über den Antrag nach § 109 SGG ua gestützt habe, seien der Klägerin nicht mitgeteilt worden. Das Urteil des LSG sei auch ausweislich der Urteilsurschrift aufgrund mündlicher Verhandlung ergangen, obwohl eine solche nach dem Inhalt der Niederschrift vom 22. März 1972 nicht stattgefunden habe. Einer Entscheidung nach § 126 SGG hätten die §§ 127, 128 Abs. 2 SGG entgegengestanden.
Die Klägerin beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der Beklagte tritt dem Antrag der Klägerin nicht entgegen; hilfsweise beantragt er die Verwerfung der Revision.
II
Der Klägerin ist wegen der Versäumung der Revisions- und der Revisionsbegründungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (§ 67 Abs. 1 SGG). Ihre Revision ist statthaft, weil mehrere der geltend gemachten Verfahrensrügen durchgreifen (§§ 162 Abs. 1 Nr. 2, 164 Abs. 2 SGG; BSG 1, 150). Sie ist auch in dem Sinne begründet, als der Rechtsstreit unter Aufhebung des angefochtenen Urteils an das LSG zurückzuverweisen ist.
Zutreffend rügt die Klägerin, das LSG habe den Antrag nach § 109 SGG, Prof. Dr. B als Gutachter zu hören, nicht als "gegenstandslos" behandeln dürfen. Das LSG konnte zwar die Anhörung des bestimmten Arztes von einem Kostenvorschuß abhängig machen (§ 109 Abs. 1 Satz 2 SGG), durfte aber bei Nichteinhaltung dieser Bedingung die aus rechtsstaatlichen Gründen ergangene zwingende Verfahrensvorschrift des § 109 Abs. 1 SGG nicht einfach übergehen (SozR Nr. 1 zu § 109 SGG). Da die Klägerin den Antrag bis zur letzten mündlichen Verhandlung nicht zurückgenommen hatte, mußte das LSG vielmehr entweder durch Beschluß oder in den Urteilsgründen über den Antrag entscheiden (SozR Nr. 35 zu § 109 SGG). Im SGG ist zwar nicht ausdrücklich gesagt, welche Folgen die Nichteinzahlung eines nach § 109 Abs. 1 Satz 2 SGG verlangten Kostenvorschusses nach sich zieht. Wegen der sachlich ähnlichen Regelung im Zivilprozeß ist es aber gerechtfertigt, über § 202 SGG die Vorschrift des § 379 der Zivilprozeßordnung (ZPO) und die erweiternde Vorschrift in § 114 des Gerichtskostengesetzes ergänzend heranzuziehen. Danach unterbleiben Handlungen des Gerichts, die mit Auslagen verbunden sind - also auch die Ausführung einer Beweisanordnung -, wenn die zur Einzahlung eines Kostenvorschusses gesetzte Frist nicht eingehalten und die Einzahlung auch nicht so zeitig nachgeholt wird, daß die Beweiserhebung ohne Verzögerung des Verfahrens durchgeführt werden kann. Die Nichteinzahlung des Vorschusses macht aber die Beweisanordnung als solche nicht hinfällig oder gegenstandslos. Sie beseitigt auch den Anspruch aus § 109 Abs. 1 Satz 1 SGG nicht (SozR Nr. 32 zu § 109 SGG). Dieser kann, wenn der Antrag aufrechterhalten bleibt, nur aus den Gründen des § 109 Abs. 2 SGG abgelehnt werden. Eine solche Entscheidung hat aber das LSG, das den Antrag nach § 109 SGG wegen Nichtzahlung des Kostenvorschusses als "gegenstandslos" angesehen hat, gerade nicht getroffen, es hat damit gegen § 109 SGG verstoßen. Hieran ändert nichts, daß das LSG das Vorbringen der Klägerin in ihrem Schreiben vom 12. März 1972, wonach die Annahme des Kostenvorschusses "verweigert" worden sei, nicht als zutreffend angesehen hat. Das LSG hat dieses Vorbringen nicht deshalb als widerlegt ansehen dürfen, weil es festgestellt hat, bei der Zahl- und Kostenstelle habe niemand zum Zwecke der Einzahlung des Kostenvorschusses vorgesprochen. Abgesehen davon, daß eine Vorsprache der Klägerin bei der Zahl- oder Kostenstelle des LSG zum Zwecke der Einzahlung des Kostenvorschusses im Hinblick auf den im Wirtschaftsleben üblichen bargeldlosen Zahlungsverkehr und die Entfernung des Wohnsitzes der Klägerin vom Gerichtsort kaum zu erwarten gewesen wäre, mußte das LSG sich gerade durch das Vorbringen der Klägerin dazu gedrängt fühlen, seine Ermittlungen auch darauf zu erstrecken, ob die Klägerin nicht - möglicherweise erfolglos - eine bargeldlose Zahlung versucht hatte; insoweit war die Rüge eines Verstoßes gegen § 103 SGG begründet. Hinzu kommt, daß das LSG nach § 107 SGG verpflichtet gewesen ist, der Klägerin den Inhalt der Auskunft der Zahlstelle vom 17. März 1972 mitzuteilen, um ihr Gelegenheit zu einer Stellungnahme bzw. zur Zahlung zu geben. Es hätte auch die weitere Auskunft der Kostenstelle, die es offenbar im Termin vom 22. März 1972 noch eingeholt hat, nicht zum Nachteil der Klägerin in seinem Urteil verwerten dürfen; die Klägerin ist nicht darüber unterrichtet worden, daß in der mündlichen Verhandlung eine Beweiserhebung stattfinde; da sie nicht erschienen und nicht vertreten war, hat ein ihr ungünstiges Urteil, das sich auf diese Beweiserhebung stützte, in diesem Termin nicht ergehen dürfen (§ 127 SGG). Da die Rügen von Verstößen gegen die §§ 109, 103, 127 SGG durchgreifen, kommt es auf die weiter erhobenen Verfahrensrügen nicht an.
Die sonach statthafte Revision ist auch begründet. Es ist nicht auszuschließen, daß das LSG, falls es den Antrag der Klägerin nach § 109 SGG nicht als gegenstandslos angesehen hätte, aufgrund des Gutachtens von Prof. Dr. B zu einer anderen Sachentscheidung gelangt wäre. Deshalb ist das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen