Leitsatz (amtlich)

1. Beträgt die durch mehrere Schädigungsfolgen bedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit im allgemeinen Erwerbsleben (BVG § 30 Abs 1) mindestens 81 vom Hundert und kommt hierzu eine Höherbewertung um 10 vom Hundert gemäß BVG § 30 Abs 2, so gilt der Beschädigte als erwerbsunfähig (BVG § 31 Abs 3); eine Abrundung des Vomhundertsatzes findet nicht statt.

2. Der Anspruch auf Schwerstbeschädigtenzulage, der nach BVG § 31 Abs 5 ein gesundheitliches Betroffensein voraussetzt, ist nicht gegeben, wenn die Minderung der Erwerbsfähigkeit erst auf Grund der Beurteilung nach BVG § 30 Abs 2 mehr als 90 vom Hundert beträgt.

 

Normenkette

BVG § 30 Abs. 1 Fassung: 1960-06-27, Abs. 2 Fassung: 1960-06-27, § 31 Abs. 3 Fassung: 1960-06-27, Abs. 5 Fassung: 1960-06-27

 

Tenor

Die Revisionen des Klägers und des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 1. April 1971 werden zurückgewiesen.

Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zur Hälfte zu erstatten.

 

Gründe

I

Dem 1911 geborenen Kläger wurde ab 1. Juli 1950 wegen der Schädigungsfolgen "Schädelbasisbruch, Hirnquetschung, vasomotorische Anfälle, Hirnverletzung, Schlüsselbeinbruch" Beschädigtenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 50 v. H. gewährt. 1958 wurde wegen Verschlimmerung der Schädigungsfolgen die MdE auf 70 v. H. erhöht. Die hiergegen erhobene Klage hatte Erfolg; auf Grund eines nervenärztlichen Gutachtens verurteilte das Sozialgericht (SG) den Beklagten im Februar 1961 zur Anerkennung weiterer Schädigungsfolgen (zentrale Regulierungsstörungen, Wesensveränderung, Hirnleistungsschwäche) und vom 1. Januar 1958 an zur Rentenzahlung nach einer MdE um 90 v. H., wovon 10 v. H. auf das berufliche Betroffensein entfielen. Das Urteil wurde rechtskräftig. Ab August 1960 wurde dem Kläger von der Landesversicherungsanstalt Rente wegen Berufsunfähigkeit gewährt. Hierauf gestützt verlangte er im Mai 1962 die Erhöhung seiner Beschädigtenrente auf 100 v. H., ferner die Gewährung von Schwerstbeschädigtenzulage und Berufsschadensausgleich. Nachdem der Nervenarzt Dr. eine Verschlimmerung der Schädigungsfolgen verneint hatte, lehnte das Versorgungsamt (VersorgA) mit drei Bescheiden vom 2. Juli 1963 die Anträge des Klägers auf Rentenerhöhung, Schwerstbeschädigtenzulage und Berufsschadensausgleich ab. Während des Widerspruchsverfahrens wurde dem Kläger mit Wirkung ab 1. Januar 1964 Berufsschadensausgleich gewährt, gegen dessen Berechnung der Kläger nichts einwandte. Mit dem Widerspruch gegen die Ablehnung der Rentenerhöhung verband der Kläger einen Antrag auf Gewährung der einfachen Pflegezulage ab Mai 1962. Durch Bescheid vom 9. März 1966 wurden die Widersprüche des Klägers mit der Begründung zurückgewiesen, die Schädigungsfolgen hätten sich nicht verschlimmert, bei der MdE um 90 v. H. könne dem Kläger nach den Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) idF des 1. Neuordnungsgesetzes (NOG) vom 27. Juni 1960 weder Berufsschadensausgleich noch Schwerstbeschädigtenzulage gewährt werden; zum Antrag auf Pflegezulage wurde im Widerspruchsbescheid nicht Stellung genommen.

Der Kläger beantragte mit seiner hiergegen erhobenen Klage die Verurteilung des Beklagten, vom 1. Mai 1962 an die Rente eines Erwerbsunfähigen mit der Pflegezulage der Stufe I sowie Berufsschadensausgleich und Schwerstbeschädigtenzulage zu gewähren. In der mündlichen Verhandlung am 6. Februar 1969 wurde als Klagantrag protokolliert: Verurteilung des Beklagten, als weitere Schädigungsfolgen "psychische Störungen" anzuerkennen und dem Kläger ab 1. Mai 1962 die Beschädigtenrente eines Erwerbsunfähigen, für die Zeit vom 1. Juni 1960 bis zum 31. Dezember 1963 einen Berufsschadensausgleich und ab 1. Januar 1960 eine Schwerstbeschädigtenzulage der Stufe III zu gewähren. Der Nervenarzt Dr. ... führte aus, gegenüber dem 1960 erhobenen Befund sei seit 1964 eine wesentliche Verschlimmerung der Schädigungsfolgen eingetreten, der Kläger sei erwerbsunfähig und hilfsbedürftig; die MdE im allgemeinen Erwerbsleben betrage 100 v. H.. Das SG hielt das Gutachten des Sachverständigen Dr. nicht für überzeugend und wies die Klage ab; in der Rechtsmittelbelehrung wurde die Berufung insgesamt als unzulässig gemäß § 148 Nr. 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) bezeichnet.

Im Verfahren über die Berufung des Klägers sind der Nervenarzt Dr. P und der HNO-Arzt Dr. K als Sachverständige gehört worden. Dr. P hat eine Verschlimmerung der bislang anerkannten Schädigungsfolgen verneint und die Gesamt-MdE infolge der Hirnverletzung auf 80 bis 90 v. H. geschätzt Dr. K hat beim Kläger eine leichtgradige beidseitige kombinierte Schwerhörigkeit festgestellt, dieses Leiden als Schädigungsfolge erachtet und die hierdurch bedingte MdE auf 10 bis 15 v. H. geschätzt. Das Landessozialgericht (LSG) Berlin hat mit Urteil vom 1. April 1971 die Berufung des Klägers verworfen, soweit sie die Ansprüche auf Berufsschadensausgleich und einfache Pflegezulage betraf; unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidungen hat das LSG den Beklagten verurteilt, "kombinierte beidseitige Schwerhörigkeit" als weitere Schädigungsfolge anzuerkennen und dem Kläger ab 1. Mai 1962 die Rente eines Erwerbsunfähigen zu gewähren; im übrigen ist die Berufung des Klägers zurückgewiesen worden: Hinsichtlich der Gewährung von Berufsschadensausgleich für die Zeit vom 1. Juni 1960 bis 31. Dezember 1963 handele es sich um einen Anspruch für eine abgelaufene Zeit, deshalb sei die Berufung gemäß § 148 Nr. 2 SGG unzulässig; dies gelte auch dann, wenn der Anspruch dem Grunde nach streitig sei. Über die Pflegezulage sei im Verwaltungsverfahren nicht entschieden worden; im ersten Rechtszuge habe der Kläger zwar mit der Klageschrift vom 14. April 1966 die Gewährung von Pflegezulage begehrt, doch habe er diesen Antrag im Termin am 6. Februar 1969 nicht mehr gestellt, demgemäß habe das SG auch nicht hierüber entschieden; der Anspruch auf Pflegezulage werde nicht automatisch dadurch geltend gemacht, daß der Kläger die Rente eines Erwerbsunfähigen beanspruche, vielmehr müßten die einzelnen Versorgungsleistungen grundsätzlich gesondert beantragt werden. Da das Urteil des SG keinen Ausspruch über die Pflegezulage enthalte, sei der Kläger insoweit nicht beschwert, seine Berufung sei daher mangels Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig.

Hinsichtlich der beanspruchten Neufeststellung der Versorgungsbezüge wegen wesentlicher Verschlimmerung der Schädigungsfolgen (§ 62 BVG) sei die Berufung zum Teil begründet. Zwar sei gegenüber der letzten maßgeblichen Feststellung vom 2. Februar 1961 auf dem neurologisch-psychiatrischen Gebiet keine Verschlimmerung eingetreten Eine wesentliche Änderung der Verhältnisse ergebe sich jedoch aus der im Berufungsverfahren ermittelten weiteren Schädigungsfolge (Schwerhörigkeit) und ihrer vom Kläger mit zulässiger Klageerweiterung beantragten Feststellung als solche; das hierfür maßgebende Gutachten des Sachverständigen Dr. K sei hinsichtlich der Zusammenhangsbeurteilung und der Bewertung der gehörbedingten MdE mit 10 bis 15 v. H. bedenkenfrei. Der Grad der Gesamt-MdE sei jedoch nicht ohne weiteres durch Addition auf 100 v. H. zu bemessen, sondern folgendermaßen zu ermitteln: Die sich aus der bisher maßgebenden Feststellung ergebende MdE habe - ohne Berücksichtigung des Berufs - 80 v. H. betragen und sei vom SG mit Urteil vom 2. Februar 1961 gemäß § 30 Abs. 2 BVG auf 90 v. H. erhöht worden. Aus der bisher nach § 30 Abs. 1 BVG festgestellten MdE von 80 v. H. würde sich durch die Gehörschädigung (10 bis 15 v. H.) bei Anwendung der Lohmüller___AMPX_‚_SEMIKOLONX___Xschen Formel eine MdE im allgemeinen Erwerbsleben von 82 bis 83 v. H. ergeben, hierzu käme die Erhöhung um wenigstens 10 v. H. gemäß § 30 Abs. 2 BVG, woraus eine Gesamt-MdE von 92 bis 93 v. H. folge. Bei dieser Berechnungsweise gelte der Kläger als erwerbsunfähig im Sinne von § 31 Abs. 3 BVG, denn er sei um mehr als 90 v. H. in seiner Erwerbsfähigkeit beeinträchtigt. § 31 Abs. 2 BVG finde hierbei keine Anwendung, diese Vorschrift sei begrenzt bis zur MdE um 90 v. H., die noch den Grad von 85 v. H. mitumfasse; bei einer MdE über 90 v. H. gelte allein § 31 Abs. 3 BVG. Erwerbsunfähigkeit im Sinne des § 31 Abs. 3 BVG sei also schon dann gegeben, wenn der Grad der MdE z. B. 91 v. H. betrage. Die Auffassung des Beklagten, die Gesamt-MdE beim Kläger betrage nur (80 + 15 = 83 v. H., abgerundet auf 80 v. H., + 10 v. H. gemäß § 30 Abs. 2 =) 90 v. H., treffe nicht zu. Es gehe nicht an, bei Anwendung der Lohmüller'schen Formel zunächst den MdE-Grad nach § 30 Abs. 1 festzustellen, alsdann gemäß § 31 Abs. 2 Halbsatz 2 den Vomhundertsatz der MdE zu ermitteln, um schließlich dann erst die MdE gemäß § 30 Abs. 2 zu erhöhen. Die Anwendung des § 31 BVG setze die Bildung einer einheitlichen MdE voraus, bei der MdE gemäß § 30 Abs. 2 BVG handele es sich nicht um eine besondere, sondern um einen Teil der Gesamt-MdE. Erst nach Anwendung von § 30 Abs. 1 und 2 könne der nach § 31 Abs. 1 maßgebliche Vomhundertsatz unter Anwendung von § 31 Abs. 2 ermittelt werden; hierbei gelte für den Fall der Erwerbsunfähigkeit die Sonderregelung in § 31 Abs. 3 BVG. Schon bei früheren ärztlichen Untersuchungen (1958 und 1963) sei eine Beeinträchtigung des Hörvermögens beobachtet worden, deshalb sei anzunehmen, daß beim Kläger bereits seit Mai 1962 durch Schwerhörigkeit eine MdE um 10 bis 15 v. H. bestanden habe.

Eine Schwerstbeschädigtenzulage gemäß § 31 Abs. 5 BVG stehe dem Kläger nicht zu, da seine Erwerbsunfähigkeit nicht allein auf Grund der Beurteilung nach § 30 Abs. 1 BVG gegeben sei; die Gesamt-MdE nach § 30 Abs. 1 BVG unter Berücksichtigung der Gehörschädigung betrage hier nur 83 v. H., woraus sich noch keine Erwerbsunfähigkeit ergebe.

Das LSG hat die Revision zugelassen, "weil es sich bei der Frage der Feststellung von Erwerbsunfähigkeit im Sinne von § 31 Abs. 3 BVG beim Bestehen mehrerer Schädigungsfolgen und einer besonderen beruflichen Betroffenheit um eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung handelt". Beide Beteiligten haben form- und fristgerecht Revision eingelegt.

Der Kläger beantragt,

unter Änderung der angefochtenen Entscheidungen den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger Berufsschadensausgleich auch für die Zeit vom 1. Juni 1960 bis 31. Dezember 1963, vom 1. Mai 1962 an die einfache Pflegezulage und vom 1. Mai 1962 an die Schwerstbeschädigtenzulage der Stufe II zu gewähren,

hilfsweise,

das Urteil des LSG insoweit aufzuheben, als die Berufung des Klägers wegen der Ansprüche auf Berufsschadensausgleich und einfache Pflegezulage verworfen und wegen des Anspruchs auf Schwerstbeschädigtenzulage zurückgewiesen worden ist.

Zur Begründung führt der Kläger aus, die Berufung hätte hinsichtlich der Ansprüche auf Berufsschadensausgleich vor dem 1. Januar 1964 und auf Pflegezulage nicht als unzulässig verworfen werden dürfen, da beide Ansprüche sich erst bei Bejahung der - vom LSG ab 1. Mai 1962 zuerkannten - Erwerbsunfähigkeit ergäben. Der für die Zeit vor 1. Januar 1964 beanspruchte Berufsschadensausgleich sei keine Leistung für zurückliegende Zeit, denn er habe damals auf anderen materiell-rechtlichen Voraussetzungen beruht. Ähnlich verhalte es sich mit dem Anspruch auf Pflegezulage, die der Kläger bei seinem Rentenerhöhungsbegehren habe mit beantragen müssen. Die Gehörschädigung resultiere aus der als Versorgungsleiden anerkannten Schädelhirnverletzung, so daß bei der 90 v. H. übersteigenden Gesamt-MdE der Kläger als erwerbsunfähiger Hirnbeschädigter (§ 35 Abs. 1 Satz 4 BVG) anzusehen sei. Es bedeute einen Verfahrensmangel, daß das LSG diese Erwägungen nicht angestellt habe. Das LSG habe auch § 109 SGG verletzt, indem es zum Antrag des Klägers auf ergänzende Anhörung des Dr. ... nicht Stellung genommen habe. Mangelnde Sachaufklärung sei darin zu erblicken, daß das LSG sich nicht mit dem Beweisantrag des Klägers auf Einholung eines nervenklinischen Gutachtens befaßt habe. - Die Auslegung des § 31 Abs. 3 BVG durch das LSG treffe zu und werde durch das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 21. April 1966 (9 RV 754/65) bestätigt; die Revision des Beklagten sei daher unbegründet.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen, soweit sie auf Gewährung der Rente eines Erwerbsunfähigen gerichtet ist.

Nach seiner Auffassung beruht das angefochtene Urteil auf unrichtiger Anwendung des § 31 Abs. 2 und 3 BVG. Es gehe nicht an, die einzelnen MdE-Grade, die sich aus § 30 Abs. 1 und 2 ergäben, einfach zu addieren und sie erst dann unter § 31 Abs. 2 Halbsatz 2 oder Abs. 3 zu subsumieren. § 31 Abs. 1 setze nicht eine einheitliche MdE voraus, die Gesamt-MdE ergebe sich erst bei Anwendung der folgenden Absätze. Die berufliche Betroffenheit sei ein selbständiger Berechnungsfaktor. Beim Kläger betrage die MdE nach § 30 Abs. 1 BVG unter Anwendung von § 31 Abs. 2 BVG 80 v. H.; erst dann sei der Grad der beruflichen Betroffenheit gemäß § 30 Abs. 2 BVG hinzuzufügen und erhöhe die MdE auf 90 v. H.; Erwerbsunfähigkeit im Sinne von § 31 Abs. 3 BVG, wofür mindestens 91 v. H. MdE erforderlich sei, liege also nicht vor. - Zur Revision des Klägers führt der Beklagte aus, diese sei von der Zulassung gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG nicht erfaßt und müsse als unzulässig verworfen werden, da ihre Verfahrensrügen nicht zuträfen.

II

Der Rechtsstreit betrifft vier verschiedene Ansprüche des Klägers, die sich auf die Erhöhung der Beschädigtenrente, die Gewährung von Schwerstbeschädigtenzulage und von Pflegezulage sowie - für einen zurückliegenden Zeitabschnitt - auf die Gewährung von Berufsschadensausgleich beziehen. Da das LSG die Revisionszulassung mit dem Hinweis auf eine spezielle Rechtsfrage begründet hat, welche nur für den Anspruch auf Rentenerhöhung grundsätzlich bedeutsam erscheint, könnte eine Beschränkung der Zulassung auf diesen einen Anspruch (vgl. BSG 3, 135, 139; BGHZ 48, 136, 138; 53, 152, 155) an sich in Betracht kommen. Indessen hat das LSG sonst weder in der Urteilsformel noch in den Entscheidungsgründen die Absicht einer solchen Beschränkung zu erkennen gegeben; insbesondere ist nicht zum Ausdruck gebracht worden, daß "im übrigen" - also wegen der von jener Rechtsfrage nicht berührten Ansprüche - die Revision nur gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG zulässig sein sollte; hiermit stünde auch die Rechtsmittelbelehrung nicht in Einklang. Mit dem Hinweis auf die von ihm als grundsätzlich erachtete Rechtsfrage hat das LSG mithin lediglich eine unvollständige Begründung dafür gegeben, daß es die Revision allgemein zugelassen hat (BSG 3, 138; vgl. auch BGH LM Nr. 68 und 77 zu § 546 ZPO). Die von beiden Beteiligten form- und fristgerecht eingelegten Revisionen sind hiernach zulässig; sie haben jedoch keinen Erfolg.

Zu Unrecht wendet sich der Kläger dagegen, daß hinsichtlich seiner Ansprüche auf Gewährung von Berufsschadensausgleich und Pflegezulage das LSG nicht sachlich entschieden, sondern seine Berufung insoweit verworfen hat.

Soweit der Kläger die Gewährung von Berufsschadensausgleich für die Zeit vor dem 1. Januar 1964 (Neufassung des § 30 Abs. 3 BVG durch das 2. NOG vom 21. Februar 1964) begehrte, betraf seine Berufung nur Versorgung für bereits abgelaufene Zeitabschnitte und war deshalb aufgrund des § 148 Nr. 2 SGG unzulässig; hierbei kommt es nicht darauf an, daß für die fragliche Zeit (1. Juni 1960 bis 31. Dezember 1963) der Anspruch auf Berufsschadensausgleich dem Grunde nach streitig gewesen ist (vgl. SozR Nr. 28 zu § 148 SGG; Urteile des erkennenden Senats vom 25. Juli 1967 - 9 RV 248/65 - und 27. Januar 1970 - 9 RV 722/67 -). Die Voraussetzungen des § 148 Nr. 2 SGG waren schon zur Zeit der Klageerhebung Anfang 1966 gegeben, da der Beklagte den Bewilligungsbescheid für die Zeit ab 1. Januar 1964 bereits im Jahre 1965 erteilt hatte; die Berufung des Klägers ist also nicht erst durch Maßnahmen des Beklagten nach Einlegung des Rechtsmittels auf einen zeitlich begrenzten Anspruch eingeschränkt worden (vgl. SozR Nr. 9 zu § 146 SGG, Nr. 35 zu § 148 SGG).

Über einen Anspruch des Klägers auf Pflegezulage nach § 35 Abs. 1 Satz 4 BVG ist weder im Widerspruchsbescheid vom 9. März 1966 noch im Urteil des SG vom 6. Februar 1969 entschieden worden. Im Klageverfahren fehlte es hierzu an einem entsprechenden Antrag; denn nach der Niederschrift zur mündlichen Verhandlung vom 6. Februar 1969 hat der Kläger diesen zunächst allerdings geltend gemachten Anspruch nicht weiter verfolgt, sondern nur noch die Anerkennung einer weiteren Schädigungsfolge und entsprechende Rentenerhöhung sowie die Gewährung von Schwerstbeschädigtenzulage und Berufsschadensausgleich beantragt. Von dem Antrag, dem Kläger ab 1. Mai 1962 die Beschädigtenrente eines Erwerbsunfähigen zu gewähren, ist ein Anspruch auf Pflegezulage nicht mitumfaßt worden (vgl. BSG, Urteil vom 8. Juli 1970 - 10 RV 24/68 - SGb 1970, 383 Nr. 33). Die Vorinstanzen waren somit verfahrensrechtlich nicht befugt, über die Begründetheit dieses Anspruchs (vgl. hierzu SozR Nr. 19 zu § 35 BVG) eine Sachentscheidung zu treffen.

Hinsichtlich des Klagbegehrens auf Erhöhung der für die Grundrente maßgebenden MdE hat das LSG die - an sich durch § 148 Nr. 3 SGG ausgeschlossene - Berufung des Klägers als ohne weiteres nach § 150 Nr. 3 SGG zulässig erachtet. Ob das in dieser Allgemeinheit zutrifft, könnte fraglich sein (vgl. SozR Nr. 47 zu § 150 SGG); jedoch bestehen im vorliegenden Fall keine Bedenken hiergegen, weil es auch noch in der Berufungsinstanz streitig war, ob die vom Kläger behauptete Verschlimmerung auf das Hirntrauma oder auf arteriosklerotische Veränderungen zurückzuführen war. - Mit der Verurteilung des Beklagten, dem Kläger ab 1. Mai 1962 die Rente eines Erwerbsunfähigen zu gewähren, hat das LSG den diesbezüglichen Anträgen, die der Kläger im ersten und im zweiten Rechtszuge jeweils gestellt hatte, vollauf stattgegeben. Sollte der Kläger angestrebt haben, diese Rente allein aufgrund des § 30 Abs. 1 BVG zu erlangen, also ohne Berücksichtigung seines beruflichen Betroffenseins als erwerbsunfähig anerkannt zu werden, so hätte er dies im Hinblick auf die damit verknüpften Auswirkungen auf andere Versorgungsleistungen (§§ 30 Abs. 5, 31 Abs. 5 BVG; bei Erwerbsunfähigkeit nach § 30 Abs. 1 BVG allein wegen Hirnschädigung käme auch § 35 Abs. 1 Satz 4 BVG in Betracht) in seinen Sachanträgen geltend machen können, ohne daran durch das Prinzip der einheitlichen MdE-Bewertung gehindert zu sein (vgl. SozR Nr. 46 zu § 30 BVG; Urteil des erkennenden Senats vom 18. November 1971 - 9 RV 326/70 -). Dafür, daß dem Kläger etwas derartiges vorgeschwebt hat, scheint der Umstand zu sprechen, daß er mit seiner Revision u. a. auch Verstöße des LSG gegen §§ 103, 109 SGG gerügt hat; diese Verfahrensrügen gewinnen nämlich erst dann einen Sinn, wenn das Klagebegehren dahin gedeutet wird, die schädigungsbedingte MdE solle allein gemäß § 30 Abs. 1 BVG auf mehr als 90 v. H. erhöht werden. Der Kläger hat es jedoch in den Vorinstanzen versäumt, seine Sachanträge in diesem Sinne hinreichend deutlich zu formulieren; im Revisionsverfahren ist es ihm aber nicht möglich, dies durch eine Erweiterung des Klagebegehrens nachzuholen (vgl. SozR Nr. 2 zu § 168 SGG). Davon abgesehen würden die genannten Verfahrensrügen auch nicht durchgreifen; denn es ist nicht ersichtlich, wodurch sich das LSG zur Einholung eines nervenklinischen Gutachtens hätte gedrängt fühlen müssen (vgl. SozR Nr. 14 zu § 103 SGG) und ein etwaiges Recht, wegen der Nichteinholung eines Ergänzungsgutachtens von Dr. B Verletzung des § 109 SGG zu rügen, würde der Kläger durch sein Schweigen in der Berufungsverhandlung am 1. April 1971 eingebüßt haben (BSG 3, 284).

Unbegründet ist die Revision des Klägers schließlich auch, soweit sie den Anspruch auf Schwerstbeschädigtenzulage betrifft. Das LSG hat die Voraussetzungen des § 31 Abs. 5 BVG als nicht gegeben erachtet, weil die Erwerbsunfähigkeit des Klägers nicht allein auf der Beurteilung der MdE nach § 30 Abs. 1 BVG beruhe, vielmehr die schädigungsbedingte MdE im allgemeinen Erwerbsleben sich hier insgesamt nur auf 83 v. H. belaufe. Diese Auffassung stimmt überein mit den Regelungen der §§ 1 Satz 1 und 2 Abs. 1 Satz 2 DVO vom 17. April 1961/17. Juli 1964 zu § 31 Abs. 5 BVG, zu deren Auslegung der erkennende Senat schon in seinem Urteil vom 27. Januar 1967 (BVBl 1967, 73) eingehend Stellung genommen hat. Bei den Bedenken, die Kempe (SGb 1970, 411) gegen die Rechtsgültigkeit des § 1 DVO dargelegt hat, wird außer Acht gelassen, daß es § 31 Abs. 5 BVG auf ein gesundheitliches außergewöhnliches Betroffensein als Anspruchsvoraussetzung abstellt; dies läßt erkennen, daß ein besonderes berufliches Betroffensein (§ 30 Abs. 2 BVG) hier ausnahmsweise unberücksichtigt bleiben soll.

Die Ausführungen des LSG zum Begriff der Erwerbsunfähigkeit (§ 31 Abs. 3 BVG) und seiner Anwendung auf den hier gegebenen Fall sind frei von Rechtsirrtum. Auch nach Meinung des Senats muß ein Beschädigter als erwerbsunfähig gelten (§ 31 Abs. 3 BVG), dessen durch mehrere Schädigungsfolgen bedingte MdE im allgemeinen Erwerbsleben (§ 30 Abs. 1 BVG) - bei Anwendung der sogenannten Lohmüller'schen Formel - 82 bis 83 v. H. beträgt, wenn die MdE gemäß § 30 Abs. 2 BVG noch um 10 v. H. höher zu bewerten ist; eine Abrundung des Vomhundertsatzes gemäß § 31 Abs. 2 BVG kann hier nicht stattfinden. Der demgegenüber vom Beklagten mit seiner Revision vertretene Standpunkt würde bedeuten, daß Erwerbsunfähigkeit i. S. des § 31 Abs. 3 BVG erst anzunehmen wäre, wenn die Schwerhörigkeit des Klägers eine MdE von 25 v. H. bedingte; erst dann nämlich würde bei Anwendung der Lohmüller'schen Formel die Gesamt-MdE den Grad von 95 v. H. erreicht haben. Bei dieser Betrachtungsweise wird aber verkannt, daß Erwerbsunfähigkeit i. S. des § 31 Abs. 3 BVG schon dann gegeben ist, wenn die MdE über 90 v. H., also z. B. bei 91 v. H. liegt (vgl. Vorberg/v. Nuis IV S. 141 Anm. 3 zu § 31; BSG 8, 69; Urteil des erkennenden Senats vom 21. April 1966 - 9 RV 754/65 -).

Die Revisionen sind hiernach unbegründet und müssen zurückgewiesen werden (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).

Bei der auf § 193 SGG beruhenden Kostenentscheidung hat der Senat berücksichtigt, daß beide Beteiligten erfolglos Revision eingelegt haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1669385

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