Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitsunfall. vorzeitiges Ende der Tagesarbeit. Aufsuchen eines Zahnarztes. Weg von der Arbeitsstätte
Orientierungssatz
1. Versicherungsschutz ist nicht schon deshalb gegeben, weil der Verletzte auf dem "Betriebsgrundstück" verunglückte; denn auch die räumliche Nähe zum Arbeitsplatz begründet allein noch nicht den in § 550 Abs 1 RVO geforderten ursächlichen Zusammenhang zwischen dem auf dem Betriebsgelände zurückgelegten Weg und der Tätigkeit; ein sogenannter Betriebsbann ist dem Recht der gesetzlichen Unfallversicherung im allgemeinen fremd.
2. Versicherungsschutz auf Wegen von der Arbeitsstätte kann auch bestehen, wenn der Zeitpunkt für den Antritt des Weges oder für einen Teil desselben aus persönlichen oder privaten Gründen bestimmt worden ist. Das gilt auch, wenn der Antritt des Weges wegen eines geplanten Zahnarztbesuches vorverlegt wird.
Normenkette
RVO § 550 Abs 1 Fassung: 1974-04-01
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 03.11.1982; Aktenzeichen L 17 U 119/81) |
SG Detmold (Entscheidung vom 03.07.1981; Aktenzeichen S 8 U 78/81) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob bei dem Unfall des Klägers am 11. Juni 1979 Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung gegeben war. Das Sozialgericht (-SG-; Urteil vom 3. Juli 1981) hat dies angenommen, das Landessozialgericht (-LSG-; Urteil vom 3. November 1982) dagegen verneint.
Der Kläger beendete am Unfalltage seine Arbeit im Einverständnis mit seinem Arbeitgeber eine Stunde früher als gewöhnlich, um akute Zahnbeschwerden behandeln zu lassen. Zum Zahnarzt hatte er zunächst dieselbe Wegstrecke zu befahren, welche er üblicherweise für den Heimweg benutzte. Auf ihr ereignete sich der Unfall, und zwar noch in dem Kasernengelände, in dem er arbeitete.
Die Beklagte lehnte durch Bescheid vom 31. Januar 1980 die Gewährung von Leistungen mit der Begründung ab, der Kläger habe die Arbeitsstelle aus eigenwirtschaftlichen Gründen verlassen, so daß er auf der Fahrt zum Zahnarzt nicht versichert gewesen sei. Der Widerspruch des Klägers wurde durch Widerspruchsbescheid vom 27. Februar 1981 zurückgewiesen.
Das SG hat die Beklagte verurteilt, wegen der Folgen des Unfalles Entschädigung zu gewähren, weil die Fahrt zum Zahnarzt auch im betrieblichen Interesse erfolgt, der Arbeitgeber einverstanden gewesen sei und der Unfall sich im Kasernengelände ereignet habe. Dieses Urteil hat das LSG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Für die Zurücklegung des Weges hätten private Interessen derart im Vordergrund gestanden, daß der Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit in den Hintergrund getreten sei. Die rechtlich wesentliche finale Handlungstendenz des Klägers sei auf ein eigenwirtschaftliches und privates Ziel gerichtet gewesen; er habe im Anschluß an die Behandlung die Arbeit nicht wieder aufnehmen, sondern nach Hause fahren wollen. Hieran ändere der Umstand nichts, daß der Unfall sich auf einem Teil des üblichen Heimweges ereignet habe. Diese Teilstrecke sei im Vergleich sowohl mit dem gesamten Heimweg als auch mit dem Weg zum Zahnarzt geringfügig. Das LSG hat die Revision zugelassen.
Der Kläger hat dieses Rechtsmittel eingelegt und im wesentlichen wie folgt begründet: Er habe sich auf dem Heimweg befunden und dabei einen Umweg zum Zahnarzt einschieben wollen. Er habe daher am Unfalltage einen sogenannten gemischten Weg zurücklegen wollen, bei dem die Heimwegfunktion nicht unwesentlich gewesen sei.
Der Kläger beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 3. November 1982 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 3. Juli 1981 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Nach ihrer Ansicht hätte Unfallversicherungsschutz nur bestanden, wenn der Kläger nach Ablauf der üblichen Arbeitszeit eine Wegstrecke befahren hätte, welche sowohl Heimweg als auch Weg zum Zahnarzt gewesen wäre. Auf das Verhältnis der befahrenen Teilstrecke zum Gesamtweg könne es dagegen nicht ankommen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-) einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist begründet. Der Senat ist, wie im Ergebnis auch schon das SG, der Auffassung, daß der Kläger im Unfallzeitpunkt gem § 550 Abs 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) versichert war und folglich einen Arbeitsunfall erlitten hat.
Nach § 550 Abs 1 RVO gilt ein auf einem mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden Weg erlittener Unfall als Arbeitsunfall. Das LSG und die Beteiligten haben mit Recht dem Umstand besondere Beachtung geschenkt, daß der Gesetzgeber, wie sich aus dem Wortlaut der Norm bereits ergibt, nicht schlechthin auf jedem Weg Versicherungsschutz begründet hat, der von der Arbeitsstätte aus begonnen wird. Vielmehr ist nach § 550 Abs 1 RVO darüber hinaus erforderlich, daß der Weg mit der Tätigkeit in dem Unternehmen zusammenhängt, dh mit ihr in einem rechtlich wesentlichen ursächlichen Zusammenhang steht. Dazu genügt nicht, daß der Weg in nahem zeitlichen Zusammenhang mit dem Ende der Arbeit zurückgelegt wird (vgl zuletzt Urteil des Senats vom 28. Juli 1983 - 2 RU 50/82 -, zur Veröffentlichung bestimmt, mit umfangreichen Nachweisen; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 9. Aufl, S 486c; Benz, BG 1977, 32 mwN), erforderlich ist vielmehr, wie der Senat wiederholt entschieden hat (vgl zuletzt Urteile vom 19. Oktober 1982 - 2 RU 7/81 - und - 2 RU 67/81 -), ein mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängender Grund. Zutreffend hat das LSG daher nicht angenommen, Versicherungsschutz sei etwa schon deshalb gegeben, weil der Kläger auf dem "Betriebsgrundstück" verunglückte; denn auch die räumliche Nähe zum Arbeitsplatz begründet allein noch nicht den in § 550 Abs 1 RVO geforderten ursächlichen Zusammenhang zwischen dem auf dem Kasernengelände zurückgelegten Weg und der Tätigkeit; ein sogenannter Betriebsbann ist dem Recht der gesetzlichen Unfallversicherung im allgemeinen fremd (Brackmann, aaO, S 480t mwN).
Der Senat ist jedoch mit der Revision der Meinung, daß die in § 550 Abs 1 RVO verlangte kausale Verknüpfung des Weges des Klägers mit der versicherten Tätigkeit gegeben ist, weil er vor dem Unfall den Heimweg angetreten hatte und noch auf einem Wegabschnitt verunglückte, der gewöhnlich zu dem Weg von der Arbeitsstätte zum häuslichen Bereich gehörte.
Die Beklagte vertritt die Meinung, Versicherungsschutz wäre gegeben gewesen, wenn der Kläger seine Absicht, auf dem Heimweg einen Zahnarzt aufzusuchen, erst nach dem üblichen Ende der Arbeitszeit, also eine Stunde später als hier geschehen, verwirklicht hätte. Diese Auffassung stützt sie mit der Begründung, daß dann Motive aus der persönlichen Sphäre des Klägers nicht im Vordergrund für die Zurücklegung des Weges gestanden haben würden. Nach dieser Ansicht entfällt der Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung, weil der Zeitpunkt für den Antritt des Weges vom Ort der Tätigkeit aus durch Gründe festgelegt war, welche im privaten Bereich des Versicherten angesiedelt sind. Bei Zugrundelegung der Rechtsauffassung der Beklagten entfiele Versicherungsschutz auf dem Weg vom Ort der Tätigkeit immer dann, wenn der Zeitpunkt des Antrittes des Weges nicht mit dem gewöhnlichen Ende der Arbeitszeit zusammenfällt und dieses zeitliche Auseinanderfallen auf Gründen beruht, welche betriebsfremd sind. Danach müßte das Vorliegen von Versicherungsschutz zB verneint werden, wenn der Versicherte wegen plötzlicher Erkrankung oder eines Ereignisses im häuslichen Bereich die berufliche Tätigkeit vorzeitig beendet und nach Hause fährt oder gebracht wird. Dies müßte ferner für die erhebliche Anzahl von Versicherten gelten, welche das Arbeitsende in gewissen Grenzen frei bestimmen kann, demzufolge die Arbeit zu dem von den Beschäftigten als persönlich besonders vorteilhaft erachteten Zeitpunkt beendet und den Weg vom Ort der Tätigkeit demgemäß in Verfolgung persönlicher Zwecke zeitlich festlegt.
Die Auffassung der Beklagten widerspricht den in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen für den Versicherungsschutz auf Heimwegen, wenn gleichzeitig persönliche Angelegenheiten erledigt werden. Das Bundessozialgericht (BSG) hat stets entschieden, daß der Versicherungsschutz nicht verlorengeht, wenn ein Versicherter den Weg von dem Ort der Tätigkeit zur Erledigung privater Verrichtungen unterbricht und ihn ohne endgültige Lösung des Zusammenhanges zwischen der Tätigkeit und dem Heimweg wieder aufnimmt; trotz zeitlicher Verschiebung eines Teiles des Weges aus persönlichen Gründen ist Versicherungsschutz für die restliche Wegstrecke bejaht worden (BSG SozR 2200 § 550 Nr 12 mwN). Diese Rechtsprechung hat allgemeine Zustimmung gefunden (Brackmann, aaO, S 487a ff; Lauterbach, Unfallversicherung, 3. Aufl, § 550 Anm 18; Gitter, SGB-Sozialversicherung-Gesamtkommentar, § 550Anm 6; Podzun, Der Unfallsachbearbeiter, 3. Aufl, Kennzahl 70 S 9 ff). Der erkennende Senat hat ferner von Anfang an entschieden (BSG SozR § 550 RVO Nr 7) und später bekräftigt (BSG SozR 2200 § 550 Nr 42), daß die für die Unterbrechung des bereits begonnenen Weges geltenden Grundsätze auch anzuwenden sind, wenn sich der Beginn des Weges aus Gründen verzögert, welche nicht mit der beruflichen Tätigkeit zusammenhängen (s auch das Urteil des Senats vom 28. Juli 1983 - 2 RU 51/82 - für den Fall eines verspäteten Antritts einer Familienheimfahrt nach § 550 Abs 3 RVO). Danach steht bei Anwendung der in der Rechtsprechung herausgearbeiteten Regeln, welche keinen allgemeinen Widerspruch erfahren haben, fest, daß Versicherungsschutz auf Wegen von der Arbeitsstätte auch bestehen kann, wenn der Zeitpunkt für den Antritt des Weges oder für einen Teil desselben aus persönlichen oder privaten Gründen bestimmt worden ist. Hiervon eine Ausnahme zu machen, wenn der Antritt des Weges nicht verzögert, sondern vielmehr aus betriebsfremden Gründen vorverlegt wird, sind Gründe nicht ersichtlich. Insbesondere vermag der Senat nicht zu erkennen, warum es auf die Länge einzelner Wegabschnitte oder deren Verhältnis zueinander ankommen könnte.
Nach den Feststellungen des LSG befand der Kläger sich im Unfallzeitpunkt auf einer Wegstrecke, die er gewöhnlich für seine Fahrt vom Ort der Tätigkeit aus benutzte. Da er diesen Weg noch nicht aus betriebsfremden Gründen unterbrochen hatte, war er versichert und erlitt folglich einen Arbeitsunfall. Das klagabweisende Urteil des LSG war aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen