Leitsatz (amtlich)
Ein Schüler, der die Oberstufe (Sekundarstufe II) einer allgemeinbildenden Schule besucht, ist bei der Erledigung von Hausaufgaben in den von der Schule dafür bereitgestellten Räumen gegen Arbeitsunfall versichert (§ 539 Abs 1 Nr 14 Buchst b RVO). Er erleidet einen Arbeitsunfall, wenn er auf dem nach Beendigung seiner Tätigkeit angetretenen Weg von der Schule nach Hause verunglückt (§ 550 Abs 1 RVO).
Normenkette
RVO § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst b Fassung: 1971-03-18, § 550 Abs 1 Fassung: 1974-04-01
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger besuchte die Sekundarstufe II des Wilhelm-Gymnasiums in B., Leonhardstraße 63. Am 31. Januar 1980 nahm er in der Zeit von 7.45 Uhr bis 9.20 Uhr am Deutsch-Unterricht teil. Der im Anschluß daran in der Zeit von 9.35 Uhr bis 11.10 Uhr vorgesehene Physik-Unterricht fiel wegen Erkrankung der Lehrkraft aus. Am Nachmittag desselben Tages sollte in der Zeit von 14.45 Uhr bis 16.00 Uhr Sport-Unterricht in B.-M. stattfinden.
Nachdem für den Kläger der Vormittagsunterricht um 9.20 Uhr beendet war, verließ er mit drei Mitschülern die Schule, ging mit ihnen in die Innenstadt und kaufte dort nach seinen Angaben in einem Kaufhaus Ringbucheinlagen und Tintenpatronen sowie in einer Buchhandlung Schulbücher für den Englisch- und Deutsch-Unterricht. Außerdem frühstückte er mit seinen Mitschülern in einem Cafe. Da für die Mitschüler um 11.25 Uhr Unterricht in der Schule anstand, ging der Kläger mit ihnen zur Schule zurück. Dort machte der Kläger im Arbeitsraum der Sekundarstufe II bzw im Fahrschülerraum Hausarbeiten, die ihm im vorangegangenen Deutsch-Unterricht aufgegeben worden waren. Gegen 12.35 Uhr trat der Kläger mit seinem Mokick den Weg zur elterlichen Wohnung in B.-S. an. Auf der Gliesmaroder Straße erlitt er einen Unfall, bei dem er schwer verletzt wurde. Der Beklagte lehnte Entschädigungsansprüche ab, weil der Kläger wegen der eigenwirtschaftlichen Tätigkeiten in der Zeit von 9.20 Uhr bis 12.35 Uhr auf dem Weg von der Schule nach Hause nicht unter Versicherungsschutz gestanden habe (Bescheid vom 23. Mai 1980).
Das Sozialgericht (SG) Braunschweig hat die Klage auf Feststellung, daß der Kläger am 31. Januar 1980 einen Arbeitsunfall erlitten hat und auf Verurteilung des Beklagten dem Grunde nach, Entschädigungsleistungen zu gewähren, abgewiesen (Urteil vom 27. Januar 1982). Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen hat auf die Berufung des Klägers das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und den Beklagten dem Grunde nach verurteilt, dem Kläger aus Anlaß des Arbeitsunfalls vom 31. Januar 1980 Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren (Urteil vom 31. August 1982). Zur Begründung hat es ua ausgeführt: Es könne dahingestellt bleiben, ob der Kläger während des Stadtganges in der Zeit von 9.20 Uhr bis 11.25 Uhr versichert gewesen sei. Unabhängig von der Dauer des Stadtganges sei der Versicherungsschutz mit der Rückkehr in die Schule um 11.25 Uhr wieder aufgelebt. Denn der Kläger habe sich von dieser Zeit an bis 12.35 Uhr in dem Arbeitsraum mit Bibliothek und damit im organisatorischen Verantwortungsbereich der Schule aufgehalten, um seine Deutsch-Hausaufgaben zu erledigen. Hierbei sei er nach § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst b Reichsversicherungsordnung (RVO) versichert gewesen. In der Sekundarstufe II werde der Unterricht entsprechend dem Kurssystem in Lerngruppen mit wechselnder Zusammensetzung erteilt. Wegen der sich dabei ergebenden Freistunden sei es eine sachliche Voraussetzung für die Einführung der Sekundarstufe II gewesen, Arbeitsräume mit entsprechend eingerichteten Bibliotheken zur Verfügung zu stellen, in denen die Schüler nicht nur ihre Hausaufgaben erledigen, sondern auch sonst eigenverantwortlich arbeiten können. Den Schülern der Sekundarstufe II sei damit im Vorgriff auf ein späteres Studium eine Entscheidungsfreiheit eingeräumt, wie sie ihre Freistunden sinnvoll nutzen. Abgesehen vom Überbrücken und Ausfüllen von Freistunden sei der Schüler der Sekundarstufe II versicherungsrechtlich auch dann geschützt, wenn er die Schule unabhängig von Unterrichtsstunden aufsuche, um in den dafür vorgesehenen Räumen Hausaufgaben anzufertigen. Bei den Verrichtungen, die der Kläger in den dafür von der Schulleitung vorgesehenen Räumen durchführe, komme es nicht auf eine von dem Unfallversicherungsträger nachzuprüfende objektive pädagogische Zweckdienlichkeit an. Vielmehr genüge es, daß der Schüler von seinem Standpunkt aus der Auffassung habe sein können, die Tätigkeit sei geeignet, seinem schulischen Aufgabenbereich zu dienen. Die bei diesen Schülern unter Versicherungsschutz gestellten Tätigkeiten ähnelten daher denen der Studierenden an Hochschulen, bei denen der Aufenthalt in Universitäts- und Staatsbibliotheken für Studienzwecke als studienbezogene, versicherte Tätigkeit angesehen werde.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Der Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt und im wesentlichen wie folgt begründet: Nach § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst b RVO sei der Versicherungsschutz bei solchen Tätigkeiten nicht gegeben, die zwar in einem inneren Zusammenhang mit dem Schulbesuch stünden, jedoch außerhalb des rechtlichen und organisatorischen Verantwortungsbereichs der Schule erfolgten. Es genüge nicht, daß die Schule lediglich Räume für die Verrichtung nichtschulischer Tätigkeiten zur Verfügung stelle. Erforderlich sei vielmehr, daß darüber hinaus ein von der Schulorganisation getragenes Angebot an die Schüler vorliege, an bestimmten unter Leitung und Beaufsichtigung von Lehrkräften stehenden Veranstaltungen (zB freiwilligen Arbeitsgemeinschaften) teilzunehmen. Aus diesen Erwägungen sei für den privaten Nachhilfeunterricht und die Anfertigung von Hausaufgaben im häuslichen Bereich oder im Rahmen privater Arbeitsgemeinschaften der Versicherungsschutz bereits mehrfach abgelehnt worden. Die Tatsache, daß Hausaufgaben in der Schule in einem dafür zur Verfügung stehenden Raum erledigt werden können, lasse nicht den Schluß zu, daß die dort anwesenden Schüler dem organisatorischen Verantwortungsbereich der Schule unterstünden. Die Schüler würden vielmehr auch dort eigenwirtschaftlich ohne Aufsicht tätig. Entgegen der Meinung des LSG könne der Versicherungsschutz nicht aus den für Studenten (§ 539 Abs 1 Nr 14 Buchst d RVO) entwickelten Grundsätzen abgeleitet werden. Da der Kläger am Unfalltag in der Zeit von 9.20 Uhr bis 12.35 Uhr an keiner schulischen Veranstaltung teilgenommen habe, sei er folglich auch nicht versichert gewesen. Das Verweilen des Klägers in der Innenstadt und anschließend in der Schule sei von eigenwirtschaftlichen unversicherten Interessen des Klägers bestimmt gewesen. Im Hinblick auf die Dauer der eigenwirtschaftlichen Tätigkeit von mehr als drei Stunden sei eine Lösung von der versicherten Tätigkeit eingetreten. Auf dem Weg von der Schule nach Hause sei der Kläger daher nicht mehr versichert gewesen. Ein Arbeitsunfall habe nicht vorgelegen.
Der Beklagte beantragt, das Urteil des LSG Niedersachsen vom 31. August 1982 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Braunschweig vom 27. Januar 1982 zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Er trägt vor, daß ein wesentlicher innerer Zusammenhang mit dem Schulbesuch entgegen der Meinung des Beklagten auch dann bestehe, wenn ein von der Schulorganisation getragenes Angebot an die Schüler nicht durch Lehrkräfte geleitet oder beaufsichtigt werde. Es genüge, daß eine eigenverantwortliche unbeaufsichtigte Tätigkeit des Schülers innerhalb der von der Schule zur Verfügung gestellten Arbeitsräume und Bibliotheken stattfinde. Hierin liege der entscheidende Unterschied zur Anfertigung von Hausarbeiten in privaten Räumen und privaten Arbeitsgemeinschaften. Er habe sich durch sein Verhalten auch zu keinem anderen Zeitpunkt von der Schultätigkeit gelöst gehabt. Insoweit werde auf das Vorbringen in den Vorinstanzen Bezug genommen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision des Beklagten ist nicht begründet.
Nach § 550 Abs 1 RVO gilt als Arbeitsunfall ein Unfall auf einem mit einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten zusammenhängenden Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit. Da der Kläger als Schüler während des Besuchs einer allgemeinbildenden Schule nach § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst b RVO gegen Arbeitsunfall versichert war, kommen hier Tätigkeiten in Betracht, die der Kläger am Unfalltag im inneren Zusammenhang mit dem Besuch des Wilhelm-Gymnasiums verrichtet hat. Ferner ist erforderlich, daß auch der Weg zur Zeit des Unfalls noch mit den versicherten Tätigkeiten ursächlich verknüpft war.
Der Unfall hat sich ereignet, als der Kläger, nachdem er die Schule um 12.35 Uhr verlassen hatte, sich mit dem Mokick auf dem unmittelbaren Weg nach Hause befand. Die Zurücklegung dieses Weges stand mit einer zuvor verrichteten versicherten Tätigkeit in einem inneren Zusammenhang. Denn unabhängig davon, ob der durch den Besuch des Vormittagsunterrichts begründete Versicherungsschutz des Klägers mit dem Verlassen der Schule nach Beendigung des Vormittagsunterrichts um 9.20 Uhr und dem anschließenden Stadtgang bis zum Wiederaufsuchen der Schule um 11.25 Uhr fortbestanden hat oder nicht, war der Kläger jedenfalls bei der Erledigung seiner Hausaufgaben in der Schule erneut versichert.
Schon bevor die Unfallversicherung für Schüler mit Wirkung vom 1. April 1971 eingeführt wurde (vgl Gesetz über Unfallversicherung für Schüler und Studenten sowie Kinder in Kindergärten vom 18. März 1971 - BGBl I 237), waren nach § 539 Abs 1 Nr 14 RVO aF Lernende während der beruflichen Aus- und Fortbildung in Betriebsstätten, Lehrwerkstätten, Fachschulen, Berufsfach- und Berufsschulen, Schulungskursen und ähnlichen Einrichtungen gegen Arbeitsunfall versichert. Hierzu hat das Bundessozialgericht (BSG) entschieden, daß Versicherungsschutz nicht für Unfälle besteht, die sich außerhalb des Bereichs jeder Einwirkungsmöglichkeit einer ordnungsmäßigen betrieblichen oder schulischen Aufsicht ereignen (BSGE 35, 207, 209; BSG SozR Nr 3 zu § 548 RVO). Gleichzeitig hat das BSG unter Bezugnahme auf die amtliche Begründung zu dem Gesetz vom 18. März 1971 (aaO) darauf hingewiesen, daß weder bei Schülern noch bei Lernenden in den im § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst b und c RVO aufgeführten Einrichtungen von einem umfassenden Versicherungsschutz ohne Rücksicht auf den organisatorischen Verantwortungsbereich der jeweiligen Einrichtung ausgegangen werden kann (BSGE 35, 207, 211; 41, 149, 151; 44, 94, 97 und 100, 102; 51, 257, 259; BSG SozR 2200 § 539 Nr 53 und 54; USK 79208; BSG Urteil vom 19. Mai 1983 - 2 RU 79/80 - zur Veröffentlichung vorgesehen; BSG Urteile vom 29. April 1982 - 2 RU 49/80 - und vom 19. Mai 1983 - 2 RU 44/82 - unveröffentlicht). Was den Versicherungsschutz bei der Erledigung von Hausaufgaben anbetrifft hat das BSG die Auffassung vertreten, daß diese Tätigkeit zwar mit dem Besuch einer allgemeinbildenden Schule in einem wesentlichen inneren Zusammenhang steht (BSGE 41, 149, 151; BSG SozR 2200 § 539 Nr 54 und § 549 Nr 2; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 9. Aufl. S 483nI), jedoch Schüler bei dieser Tätigkeit nicht gegen Arbeitsunfall versichert sind, sofern sie im privaten (häuslichen) Bereich, also außerhalb des organischen Verantwortungsbereichs der von ihnen besuchten Schule, verrichtet wird (vgl BSG Urteil vom 19. Mai 1983 aaO). Daran hält der Senat fest.
Der vorliegende Fall ist dadurch gekennzeichnet, daß der Kläger die Oberstufe (Sekundarstufe II) eines Gymnasiums besuchte, in der die Schüler entsprechend den von ihnen zusammengestellten Pflicht- und freiwilligen Unterrichtsstunden in einem Kurssystem in Lerngruppen mit unterschiedlicher Zusammensetzung unterrichtet wurden. Sachliche Voraussetzung für die Einführung der neugestalteten gymnasialen Oberstufe war die Bereitstellung von Arbeitsräumen mit entsprechend eingerichteter Bibliothek, in denen die Schüler nicht nur ihre Hausaufgaben erledigen, sondern auch sonst eigenverantwortlich arbeiten können. Bei diesem vom LSG festgestellten Sachverhalt gehören die neben den Unterrichtsräumen für die Schüler der Sekundarstufe II bereitgestellten sonstigen Räumlichkeiten und Einrichtungen (Arbeitsraum, Bibliothek) zum organisatorischen Bereich der Schule. Die Schule hat in diesem Bereich - was selbstverständlich ist - die Pflicht und das Recht zur Aufsicht. Daß die Schüler der Sekundarstufe II in den von der Schule für sie bereitgestellten Räumen eigenverantwortlich arbeiten können und sollen, bedeutet nicht, daß sie, jedenfalls solange die Schule diese Räume im Tagesablauf für sie offenhält, ohne Aufsicht sind, wenngleich die Aufsicht äußerlich gar nicht oder nur abgeschwächt in Erscheinung tritt. Allerdings bewirkt nicht schon der bloße Aufenthalt in diesen Räumen Versicherungsschutz (vgl BSG SozR 2200 § 548 Nr 53). Erforderlich ist vielmehr, daß eine mit dem Besuch der allgemeinbildenden Schule zusammenhängende - versicherte - Tätigkeit verrichtet wird. Für die Erledigung von Hausaufgaben in diesen Räumen trifft das jedenfalls zu, da die Hausaufgaben, wie bereits ausgeführt wurde, mit dem Besuch einer allgemeinbildenden Schule in einem wesentlichen inneren Zusammenhang stehen. Ohne daß die Auffassung des LSG insoweit geteilt wird, daß die Tätigkeit der Schüler der Sekundarstufe II der von Studierenden an Hochschulen ähnelt, ist der Versicherungsschutz des Klägers für die Zeit der Erledigung von Hausaufgaben in der Schule schon nach den für Schüler allgemeinbildender Schulen geltenden Grundsätzen zu bejahen. Dieser Versicherungsschutz bestand auf dem unmittelbar nach Beendigung der Arbeit um 12.35 Uhr angetretenen Weg nach Hause fort. Der Kläger hat somit am 31. Januar 1980 einen Arbeitsunfall iS des § 550 Abs 1 RVO erlitten. Dessen Folgen sind von dem Beklagten zu entschädigen (§ 657 Abs 1 Nr 5 RVO).
Das LSG hat den Beklagten daher zutreffend dem Grunde nach zur Leistung verurteilt. Die Revision des Beklagten mußte zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen