Entscheidungsstichwort (Thema)
Beginn der Verzinsung bei Umdeutung eines Antrags auf Leistungen zur Rehabilitation in einen Rentenantrag. Vollständigkeit des Rentenantrags
Leitsatz (amtlich)
Die für den Zinsbeginn erhebliche Vollständigkeit des Rentenantrags ist unabhängig von der Rentenantragsfiktion bei Stellung eines Antrags auf Rehabilitation zu beurteilen.
Normenkette
SGB 1 § 44 Abs. 1, 2 Hs. 1; SGB 6 § 99; SGB 6 § 116 Abs. 2
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Klägerin begehrt, ihre Rentennachzahlung für einen längeren Zeitraum zu verzinsen.
Die im Jahr 1970 geborene Klägerin war zuletzt ab 22.9.1997 als Kassiererin berufstätig. Am 30.1.1998 beantragte sie berufsfördernde Leistungen in Form einer Umschulung sowie in Form eines Arthrodesenstuhls; Letzteren bewilligte die Beklagte mit Bescheid vom 21.8.1998, der Umschulungsantrag wurde nicht ausdrücklich beschieden. Ab dem 7.9.1998 war die Klägerin arbeitsunfähig krank. Ihren Antrag vom 12.2.1999 auf Gewährung medizinischer Leistungen zur Rehabilitation lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 10.3.1999 ab, weil seit der letzten medizinischen Rehabilitation noch keine vier Jahre vergangen waren, eine erneute Maßnahme sei nicht dringlich. Der Widerspruchsbescheid (ohne Datum, ergangen aufgrund der Sitzung des Widerspruchsausschusses am 15.2.2000) führte dagegen aus, es sei nicht zu erwarten, dass durch medizinische Leistungen zur Rehabilitation die Erwerbsfähigkeit der Klägerin wesentlich gebessert oder wiederhergestellt oder der Eintritt von Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit abgewendet werden könne. Bereits am 3.6.1999 hatte die Klägerin bei der Beklagten "vorsorglich" die Gewährung von Rente wegen Berufs- bzw Erwerbsunfähigkeit beantragt; der Formblattantrag ging am 9.6.1999 ein. Die Beklagte bewilligte mit Bescheid vom 31.3.2000 der Klägerin Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ab 1.4.1999 aufgrund der Erfüllung der Anspruchsvoraussetzungen ab dem 7.9.1998. Als Rentenantrag hatte die Beklagte nach § 116 Abs 2 des Sechsten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB VI) den am 30.1.1998 gestellten Antrag auf Leistungen zur Rehabilitation gewertet.
Den Antrag der Klägerin vom 13.9.2000 auf Verzinsung der Nachzahlung aus dem Bescheid vom 31.3.2000 lehnte die Beklagte mit Schreiben vom 11.10.2000 und Bescheid vom 14.11.2001 (in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.3.2002) ab, weil ein vollständiger Leistungsantrag erst am 11.2.2000 (Eingang der Geburtsurkunde) vorgelegen habe und die Klägerin am 28.6.2000 bereits über die Nachzahlung habe verfügen können. Im Klageverfahren erkannte die Beklagte den Zinsanspruch für die Zeit ab 1.1.2000 an. Das Sozialgericht hat die weitergehende Klage mit Urteil vom 15.4.2003 abgewiesen. Das Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) hat auf die Berufung der Klägerin die Beklagte mit Urteil vom 30.1.2007 verurteilt, die Rentennachzahlung aus dem Bescheid vom 31.3.2000 auch vom 1.11. bis 31.12.1999 zu verzinsen. Es hat zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, eine Verzinsung für die Zeit bereits ab 1.5.1999, wie beantragt, könnte der Klägerin nur dann zustehen, wenn ein vollständiger Antrag auf Leistungen zur Rehabilitation aufgrund der Umdeutung nach § 116 Abs 2 SGB VI grundsätzlich als vollständiger Leistungsantrag behandelt werden müsste. Dies sei jedoch nicht der Fall. Vielmehr sei Mindestvoraussetzung, dass bei pflichtgemäßem Geschäftsgang das Vorliegen der Voraussetzungen des § 116 Abs 2 SGB VI für die Beklagte feststellbar sei; die Vorlage vollständiger Rentenantragsformulare könne hingegen nicht verlangt werden. Nach diesem Maßstab seien die Rehabilitationsanträge der Klägerin bereits im April 1999 vollständige Rentenanträge gewesen, weil zu diesem Zeitpunkt bei pflichtgemäßem Geschäftsgang das Vorliegen der Umdeutungsvoraussetzungen für die Beklagte feststellbar gewesen sei; damit habe die Klägerin einen Anspruch auf Verzinsung ab November 1999. Mit dem Rehabilitationsantrag vom 12.2.1999 sei der Beklagten ein Gutachten für den Medizinischen Dienst der Krankenkassen vom 9.2.1999 vorgelegt worden, aufgrund dessen die Beklagte veranlasst gewesen sei, die Umdeutungsvoraussetzungen zu prüfen. Bei zügiger Bearbeitung hätte sie deren Vorliegen spätestens im Lauf des Monats April 1999 erkennen können, wenn sie - was möglich gewesen sei - im Februar 1999 einen Auftrag für ein bis Ende März zu erstellendes Gutachten erteilt hätte.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin inhaltlich eine Verletzung des § 44 Abs 1 und 2 des Ersten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB I). Sie trägt vor, dass nach dem Sinn und Zweck des § 44 Abs 2 SGB I die Voraussetzung der Vollständigkeit des Leistungsantrags nicht erst erfüllt sein solle, sobald die Behörde im Rahmen ihrer Verpflichtung zur Sachaufklärung letzte Zweifel an einer Leistungsberechtigung ausgeräumt habe, denn es komme nicht auf ein Verschulden der Beklagten an. Vielmehr müsse die Fiktion des § 116 Abs 2 SGB VI auch für den Zinsanspruch gelten. Denn diese Vorschrift sehe ausdrücklich vor, dass der Antrag auf Leistungen zur Rehabilitation hinsichtlich des Hauptanspruchs, also hinsichtlich des Anspruchs auf Rente, als (vollwertiger) Antrag anzusehen sei. Dann müsse das konsequenterweise ebenfalls für den Zinsanspruch als akzessorischen Nebenanspruch gelten.
|
|
Die Klägerin beantragt (nach dem Hinweis der Beklagten, dass die Rentennachzahlungsbeträge bis einschließlich 7.7.1999 in voller Höhe von der Allgemeinen Ortskrankenkasse beansprucht und dieser erstattet worden seien) inhaltlich, |
|
die Beklagte unter Abänderung der Urteile des Sozialgerichts Karlsruhe vom 15.4.2003 und des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 30.1.2007 sowie des Bescheides der Beklagten vom 14.11.2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.3.2002 zu verurteilen, die Rentennachzahlung aus dem Bescheid vom 31.3.2000 auch für die Zeit vom 1.8.1999 bis 31.10.1999 zu verzinsen. |
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie trägt vor, sie habe auch im Hinblick auf den geringen Streitwert davon abgesehen, ihrerseits gegen das Berufungsurteil Revision einzulegen. Sie vertrete jedoch die Auffassung, dass ein vollständiger Leistungsantrag iS des § 44 Abs 2 SGB I im vorliegenden Fall erst im Juni 1999 vorgelegen habe. Die Revision verkenne, dass es für die Antragsfiktion des § 116 Abs 2 SGB VI und den sich daraus jeweils ergebenden Beginn der Rente keine Rolle spiele, ob ein Leistungsantrag vollständig sei oder nicht. Für die Verzinsung sei dies jedoch nach § 44 SGB I von entscheidender Bedeutung. Soweit der Beginn einer Leistung auf den Antrag abstelle, sei nur die rechtswirksame Antragstellung - nicht aber die vollständige Antragstellung - gemeint.
Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫ ) einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision ist unbegründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf weitergehende Zinszahlungen der Beklagten als ihr durch das Berufungsurteil zugesprochen. Ein vollständiger Leistungsantrag iS des § 44 Abs 2 SGB I lag im vorliegenden Fall jedenfalls nicht vor dem vom LSG seiner Entscheidung zu Grunde gelegten Zeitpunkt (April 1999) vor. Entgegen der mit der Revision vertretenen Rechtsmeinung ergibt sich die von der Klägerin angestrebte Rechtsfolge nicht aus der Fiktion des § 116 Abs 2 SGB VI, wonach der Antrag auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben unter bestimmten Voraussetzungen als Antrag auf Rente gilt (1). Auch aus dem Gesichtspunkt des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs ergibt sich kein früherer Zinsbeginn (2).
1. Nach § 44 Abs 1 SGB I sind Ansprüche auf Geldleistungen nach Ablauf eines Kalendermonats nach dem Eintritt ihrer Fälligkeit bis zum Ablauf des Kalendermonats vor der Zahlung mit vier vom 100 zu verzinsen. Nach Abs 2 dieser Vorschrift beginnt die Verzinsung jedoch frühestens nach Ablauf von sechs Kalendermonaten nach Eingang des vollständigen Leistungsantrags beim zuständigen Leistungsträger (der 2. Halbsatz des Abs 2 ist hier nicht einschlägig) .
Im Sinne dieser Vorschrift lag ein vollständiger Leistungsantrag der Klägerin nicht vor dem Monat Juni 1999 vor. Der Senat folgt weder der Rechtsmeinung der Revision, dass insoweit wegen der Fiktion des § 116 Abs 2 SGB VI der Tag der Stellung des Antrags auf berufsfördernde Leistungen in Form einer Umschulung sowie eines Arthrodesenstuhls vom 30.1.1998 maßgebend sei, noch kann er sich der Meinung des LSG anschließen, es komme insoweit auf den Zeitpunkt an, zu dem die Beklagte als zuständiger Leistungsträger bei pflichtgemäßem Geschäftsgang die Umdeutungsvoraussetzungen des § 116 Abs 2 SGB VI (nach damaligem Recht: bei Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit des Versicherten oder seiner verminderten Berufsfähigkeit im Bergbau, ferner wurde vorausgesetzt, dass eine erfolgreiche Rehabilitation nicht zu erwarten ist oder entsprechende Leistungen nicht erfolgreich gewesen sind) hätte erkennen können.
Vielmehr geht der Senat davon aus, dass im vorliegenden Fall iS des § 44 Abs 2 SGB I der vollständige Leistungsantrag (Rentenantrag) beim zuständigen Leistungsträger (der Beklagten) erst im Juni 1999 eingegangen war. Die Klägerin hatte mit Schreiben vom 2.6.1999, bei der Beklagten eingegangen am 3.6.1999, einerseits auf § 116 Abs 2 SGB VI Bezug genommen, andererseits aber auch gleichzeitig vorsorglich Rentenantrag gestellt. Am 9.6.1999 ging sodann der Formblatt-Rentenantrag mit dem Zusatzformular 4.0111 (zur Feststellung von Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit) bei der Beklagten ein. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ist der Antrag spätestens dann vollständig gestellt, wenn der Leistungsberechtigte den vom Leistungsträger verwendeten Antragsvordruck vollständig ausgefüllt und die hierin aufgeführten beizubringenden Unterlagen eingereicht hat (BSG vom 22.6.1989, BSGE 65, 160, 161 ff = SozR 1200 § 44 Nr 24 S 61 ff) . Ein früherer Zeitpunkt kommt insoweit jedoch nicht in Betracht. Aus dem Vorliegen eines vollständigen Leistungsantrags im Juni 1999 folgt ein Zinsbeginn zum 1.1.2000 (§ 44 Abs 2 SGB I: nach Ablauf von sechs Kalendermonaten).
Entgegen der insoweit übereinstimmenden Rechtsmeinung des LSG und der Klägerin hat die Fiktion des § 116 Abs 2 SGB VI keinen Einfluss auf den Zeitpunkt der Vollständigkeit des Rentenantrags und damit auch nicht auf den Verzinsungsbeginn iS des § 44 Abs 2 SGB I. Die Rentenantragsfiktion (früher geregelt in § 1241b Abs 3 und 4 der Reichsversicherungsordnung bzw § 18d Abs 3 und 4 des Angestelltenversicherungsgesetzes) soll zwar vor allem Nachteile für den Versicherten ausschließen (Senatsurteil vom 1.9.1999, SozR 3-1300 § 86 Nr 3 S 7) und sicherstellen, dass sich die Rehabilitationsbereitschaft des Versicherten rentenrechtlich nicht nachteilig auswirken kann (Begründung des Rentenreformgesetzes 1992, BT-Drucks 11/4124 S 179 zu § 117 des Entwurfs) . Die Fiktion kann sich jedoch lediglich darauf beziehen, dass der Rentenantrag iS des § 99 SGB VI wirksam gestellt worden ist, nicht jedoch darauf, ob er auch iS des § 44 Abs 2 SGB I vollständig ist. Dies folgt bereits daraus, dass mit dem in § 116 Abs 2, § 115 Abs 1 Satz 1, Abs 4 SGB VI genannten Antrag auf Rehabilitation lediglich ein wirksamer, nicht jedoch ein vollständiger Antrag gemeint ist. Denn im Regelungszusammenhang der §§ 115, 116 SGB VI kommt es auf die Vollständigkeit des Antrags von vornherein nicht an.
Auch gebieten Sinn und Zweck weder der Antragsfiktion des § 116 Abs 2 SGB VI noch der Zinsbeginnregelung des § 44 Abs 2 SGB I die Fiktion des früheren Eingangs eines vollständigen Rentenantrags beim entsprechenden Leistungsträger.
Die Zinspflicht des § 44 SGB I soll die Nachteile ausgleichen, die die verspätete Zahlung von oftmals existenzsichernden Sozialleistungen mit sich bringen (BT-Drucks 7/868, S 30); die Fiktion des § 116 Abs 2 SGB VI soll sicherstellen, dass sich die Rehabilitationsbereitschaft des Versicherten rentenrechtlich nicht nachteilig auswirken kann (BT-Drucks 11/4124, S 179) . Hieraus kann aber weder - im Sinne der Revision - geschlossen werden, dass die Stellung eines formlosen Antrags auf Rehabilitation widersinnigerweise zugleich als Stellung eines vollständigen Rentenantrags gewertet werden müsste, noch - im Sinne des LSG -, dass im Rahmen des § 44 Abs 2 SGB I das Vorliegen eines vollständigen Rentenantrags, der bereits nach der Gesetzesbegründung (BT-Drucks 7/868, S 30) "alle Tatsachen (zu enthalten hat), die der Antragsteller zur Bearbeitung seines Antrags angeben muss", bereits zu einem solchen Zeitpunkt unterstellt wird, zu dem der Antragsteller entsprechende Angaben noch gar nicht gemacht hat.
2. Wenn das LSG im Ergebnis darauf abstellt, dass der Beklagten die Umdeutung in einen Rentenantrag im vorliegenden Fall bei zügiger Bearbeitung bereits im April 1999 möglich gewesen wäre, so vermengt es Gesichtspunkte, die im Rahmen eines Herstellungsanspruchs erheblich sein können, mit der Erfüllung der Tatbestandsvoraussetzungen des § 44 Abs 2 SGB I.
Der Herstellungsanspruch zielt darauf ab, einen Versicherten im Falle des rechtswidrigen Verhaltens eines Sozialleistungsträgers so zu stellen, als ob sich der Leistungsträger von Anfang an rechtmäßig verhalten hätte. Auch die Verzögerung eines Verwaltungsverfahrens kann einen Herstellungsanspruch begründen (vgl BSG vom 14.1.1986, SozR 2200 § 1241d Nr 9 S 29; BSG vom 30.10.1985, SozR 2200 § 1241a Nr 9 S 13) . Ob die Voraussetzungen eines Herstellungsanspruchs im Einzelnen im vorliegenden Fall erfüllt waren oder nicht, kann jedoch letztlich dahingestellt bleiben.
Denn die Zinsmonate November und Dezember 1999 stehen außer Streit: Die Beklagte hat gegen das Berufungsurteil keine Revision eingelegt. Damit ist der vom LSG angenommene Zinsbeginn zum 1.11.1999, ausgehend vom Beginn des Sechsmonatszeitraums nach § 44 Abs 2 SGB I im April 1999, gegenüber dem nach der Rechtsauffassung des Senats maßgebenden Zinsbeginn zum 1.1.2000 (Vorliegen des vollständigen Rentenantrags im Juni 1999), nicht streitig. Auf der Grundlage der tatsächlichen Feststellungen des LSG, die die Revision nicht mit Verfahrensrügen angreift und die deshalb den Senat binden (§ 163 SGG), lässt sich jedenfalls auch mit Hilfe des Herstellungsanspruchs kein früherer Zinsbeginn als November 1999 begründen.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen