Leitsatz (redaktionell)
Neufeststellung bei wesentlicher Änderung der Verhältnisse (RVO § 622):
Die Neufeststellung wegen Verschlimmerung darf nicht deshalb unterbleiben, weil der Versicherungsträger nachträglich zu der Ansicht gelangt ist, daß die Dauerrente zu Unrecht gewährt wird.
Normenkette
RVO § 622 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30; SGG § 77 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 23. Juli 1974 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
Die Klägerin ist die Witwe des im Jahre 1929 geborenen früheren Schmiedegesellen H. W. (W.), der gegen die Beklagte Anspruch auf Gewährung der Vollrente erhoben hat und während des anhängigen Revisionsverfahrens am 3. Mai 1975 gestorben ist. Die Klägerin setzt das Verfahren fort.
Die Beklagte hatte W. durch Bescheid vom 27. April 1956 eine Dauerrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 40 v. H. wegen der Folgen eines Arbeitsunfalles vom 21. März 1950 gewährt. Im Bescheid ist ausgeführt, es handele sich um einen jugendlichen Diabetes als Folge einer durch Hufschlag verursachten Verletzung der Bauchspeicheldrüse. Den im März 1972 gestellten Antrag auf Erhöhung der Rente wegen wesentlicher Verschlimmerung der Unfallfolgen lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 27. Juli 1973 mit der Begründung ab, der Diabetes mellitus sei nach den derzeitigen Erfahrungen der ärztlichen Wissenschaft zu Unrecht als Unfallfolge anerkannt worden. Zur Zahlung der Rente nach einer MdE um 40 v. H. sei sie zwar weiterhin verpflichtet, nicht jedoch zur Erhöhung der Unfallrente wegen Verschlimmerung des irrtümlich anerkannten Leidens; künftig könnten auch keine Behandlungskosten mehr übernommen werden. W. hat Klage erhoben.
Das Sozialgericht (SG) hat durch Urteil vom 8. November 1973 antragsgemäß den Bescheid vom 27. Juli 1973 aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, weiterhin Heilbehandlung sowie vom 26. Oktober 1971 an die Vollrente zu gewähren: Die Beklagte sei an das Anerkenntnis, daß der Diabetes Unfallfolge sei, gebunden und müsse daher wegen der Verschlimmerung dieses Zustandes die Vollrente zahlen sowie die weiteren Behandlungskosten übernehmen.
Die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 23. Juli 1974 zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Es bestünden zwar Zweifel daran, ob es bei W. zu einer Verletzung der Bauchspeicheldrüse gekommen sei; andererseits sei es nicht hinreichend sicher, daß die Beklagte, der die uneinheitlichen Ansichten in der ärztlichen Wissenschaft über den Zusammenhang zwischen Unfall und Diabetes bekannt gewesen seien, überhaupt irrtümlich oder zu Unrecht Unfallfolgen anerkannt habe. Jedenfalls sei die Beklagte gemäß § 77 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) an ihre Feststellung im Bescheid vom 27. April 1956 gebunden, daß bei W. in ursächlichem Zusammenhang mit einer durch Hufschlag herbeigeführten Verletzung der Bauspeicheldrüse ein jugendlicher Diabetes mellitus bestanden habe. Durch Weiterentwicklung und Verschlimmerung des als Unfallfolge anerkannten Diabetes sei W. im Oktober 1971 völlig erwerbsunfähig geworden. Da sich die Beklagte nach dem vorrangigen Grundsatz der Rechtssicherheit ohne das Vorliegen der Voraussetzungen einer Ausnahmevorschrift für die Zurücknahme eines Verwaltungsaktes (z. B. § 1744 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) von der Bindungswirkung des ersten Bescheides bei unverändertem Sachverhalt nicht lediglich aufgrund nachträglich anderer ärztlicher Beurteilung lösen könne, müsse sie auch für die weitere Entwicklung der - möglicherweise zu Unrecht anerkannten - Unfallfolgen Entschädigung leisten.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Beklagte macht mit der Revision geltend, materielles Unrecht dürfe durch formale Vorschriften nicht verewigt werden. Der Bescheid vom 27. April 1956 ersetze nur den hier nicht gegebenen Kausalzusammenhang zwischen dem Arbeitsunfall und dem Diabetes nach einer MdE um 40 v. H.; der darüber hinaus behauptete Kausalzusammenhang zwischen dem Unfall und der Erwerbsunfähigkeit hätte dagegen tatsächlich vorliegen müssen, um den Anspruch auf die Vollrente zu begründen. Das LSG habe verkannt, daß rechtlich zu unterscheiden sei zwischen der Zubilligung einer Rente nach einem bestimmten Prozentsatz der MdE wegen einer Unfallfolge - wie hier - einerseits und der von einer Rentengewährung unabhängigen Feststellung nach § 55 Abs. 1 Nr. 3 SGG andererseits, daß ein bestimmtes Leiden Unfallfolge sei. Nur im letzteren Fall sei die betreffende Gesundheitsstörung für den Versicherungsträger bindend festgestellt mit der Folge, daß auch ihre spätere Verschlimmerung entschädigt werden müsse.
Die Beklagte beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils und des Urteils des SG die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
die Sache an das LSG zurückzuverweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und trägt ergänzend vor, die Beklagte wäre selbst dann zur Gewährung der Vollrente verpflichtet, wenn es eine den Grundsätzen des § 41 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VerwVG) entsprechende Vorschrift in der RVO gäbe. Denn der Bescheid vom 27. April 1956 sei im Zeitpunkt seines Erlasses nicht tatsächlich und rechtlich ohne Zweifel unrichtig gewesen.
Entscheidungsgründe
Der Senat hat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Die Revision der Beklagten ist nicht begründet.
Der erhobene Anspruch auf Gewährung der Vollrente von Oktober 1971 an hängt hier allein davon ab, ob W. seit diesem Zeitpunkt durch eine wesentliche Änderung der Verhältnisse, die für die Feststellung der Dauerrente nach einer MdE um 40 v. H. durch Bescheid vom 27. April 1956 maßgebend waren, seine Erwerbsfähigkeit verloren hatte (§§ 622 Abs. 1, 623 Abs. 1, 581 Abs. 1 Nr. 1 RVO). Maßgebende Vergleichsgrundlage für die Beurteilung, ob sich die Verhältnisse wesentlich geändert haben, ist der Zustand des Verletzten, der in Wirklichkeit - objektiv - im Zeitpunkt der letzten bindend gewordenen Feststellung der Rente vorgelegen hat (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 8. Aufl., S. 582 f; zum Versorgungsrecht: BSG 7, 8, 12; 10, 72, 75; 13, 89, 90; 17, 63, 64). Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG war W., wie auch unter den Beteiligten nicht streitig ist, zum damaligen Zeitpunkt an einem Diabetes mellitus erkrankt. Im Oktober 1971 bestand ebenfalls noch eine diabetische Erkrankung, jedoch nunmehr in einem erheblich stärkeren Ausmaß, das den völligen Verlust der Erwerbsfähigkeit bewirkte. Bei dieser Gesundheitsstörung handelte es sich um eine diabetische Spätkomplikation, die sich ursächlich aus dem Diabetes mellitus, der schon 1956 bestand, ohne das Hinzutreten eines anderen Leidens aus sich heraus weiterentwickelt hatte, mithin um eine wesentliche Änderung (Verschlimmerung) der für die letzte Feststellung der Rente maßgebend gewesenen Verhältnisse (§ 622 Abs. 1 RVO). In bezug auf die tatsächlichen Feststellungen des LSG hat die Beklagte keine Revisionsgründe vorgebracht (§ 163 SGG).
Zutreffend hat das LSG angenommen, daß die Beklagte die Neufeststellung und damit nach der Lage des Falles die Gewährung der Vollrente nicht deshalb versagen durfte, weil sie nachträglich zu der Ansicht gelangt ist, die Dauerrente irrtümlich oder zu Unrecht gewährt zu haben, weil das Leiden, das sich wesentlich verschlimmert hat, nicht ursächlich auf den Arbeitsunfall zurückzuführen sei.
Die Beklagte ist an den in einem förmlichen Feststellungsverfahren ergangenen Bescheid vom 27. April 1956 über die Gewährung einer Dauerrente grundsätzlich gebunden, und zwar selbst dann wenn er schon bei seinem Erlaß fehlerhaft gewesen sein sollte. Der Bescheid ist nach § 77 SGG für die Beteiligten in der Sache bindend geworden. Den Leistungsbescheiden kommt, wie der erkennende Senat in seinem Urteil vom 30. Oktober 1962 (BSG 18, 84, 89) näher dargelegt hat, auch nach dem Inkrafttreten des SGG eine der materiellen Rechtskraft gerichtlicher Entscheidungen wesensverwandte Bestandskraft - eine "endgültige Wirkung" - zu (vgl. auch BSG 20, 223, 224). Inhaltlich erstreckt sich die materielle Bindungswirkung entsprechend den für die materielle Rechtskraft von gerichtlichen Entscheidungen entwickelten Grundsätzen auf den entscheidenden Teil des Verwaltungsakts. Der Bescheid über die Gewährung der Dauerrente enthält aber eine Entscheidung sowohl über die Höhe als auch über die Grundlagen der Leistung, und zwar nicht nur für die Vergangenheit, sondern auch für die Zukunft (vgl. Brackmann, aaO, S. 582 b). Im Bescheid der Beklagten vom 27. April 1956 ist ein jugendlicher Diabetes als Folge einer durch Hufschlag verursachten Verletzung der Bauchspeicheldrüse bezeichnet und hierfür eine Dauerrente nach einer MdE um 40 v. H. gewährt worden. Darin liegt das Anerkenntnis, daß der Diabetes durch den Unfall vom 21. März 1950 entstanden ist und W. durch diese Unfallfolge zur Zeit der Bescheiderteilung um 40 v. H. in seiner Erwerbsfähigkeit gemindert war. Eine vom Versicherungsträger als Unfallfolge anerkannte Gesundheitsstörung stellt zugleich eine anspruchsbegründende Tatsache dar, da der Rentenanspruch selbst von der Anerkennung einer oder auch mehrerer Gesundheitsstörungen abhängig ist. Der ursächliche Zusammenhang zwischen dem Unfall und der Gesundheitsstörung, durch welche die Erwerbsfähigkeit als gemindert angesehen wird, gehört folglich zum Grunde des Rentenanspruchs, da ein Versicherungsträger eine Rente nicht bewilligen kann, ohne diese Frage zu bejahen (vgl. BSG 5, 96, 101; 18, 84, 87).
Infolge der Bindungswirkung des Bescheides vom 27. April 1956 durfte die Beklagte deshalb bei der Neufeststellung der Rente gemäß § 622 Abs. 1 RVO nicht mehr in Zweifel ziehen, daß das vorhandene und zur Grundlage der Entscheidung gemachte Leiden - der Diabetes mellitus - durch den Arbeitsunfall hervorgerufen ist. Sie mußte bei der hier eingetretenen Verschlimmerung vielmehr die bisherige Feststellung auch dann zugrundelegen, wenn der Diabetes infolge einer Fehlbeurteilung zu Unrecht als durch den Unfall entstanden anerkannt worden ist (vgl. Brackmann, aaO, S. 488 n und 584 a mit Nachweisen; Krasney, Der Medizinische Sachverständige 1975, S. 31, 32; LSG Niedersachsen, Breithaupt 1958, 1171; anderer Ansicht: Podzun, Der Unfallsachbearbeiter, 3. Aufl., Kennzahl 800 S. 8). Eine Berechtigung der Beklagten, die Neufeststellung gemäß § 622 RVO und die Gewährung der Vollrente abzulehnen, läßt sich nicht aus einer, wie die Revision meint, nur beschränkten Bindungswirkung des Bescheides über die Dauerrente herleiten. Unzutreffend ist die Ansicht der Beklagten, das Anerkenntnis im Bescheid vom 27. April 1956 binde sie nur hinsichtlich des nach ihrer Meinung zu Unrecht anerkannten Kausalzusammenhangs zwischen dem Arbeitsunfall und dem Diabetes nach einer MdE um 40 v. H., allein bei einer Feststellung gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 3 SGG, daß eine bestimmte Gesundheitsstörung Unfallfolge sei, bestünde eine Bindung mit der Folge, daß auch eine Verschlimmerung entschädigt werden müsse. Hinsichtlich der Bindung an Unfallfolgen besteht zwischen einer Feststellung gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 3 SGG und einem Anerkenntnis durch Bescheid nicht der von der Beklagten angenommene grundsätzliche Unterschied. Wie der erkennende Senat vielmehr bereits in seinem Urteil vom 29. März 1957 (BSG 5, 96, 102) zum Ausdruck gebracht hat, bewirkt die Bindung des Versicherungsträgers bei der Feststellung der Dauerrente an das Anerkenntnis einzelner Unfallfolgen im Bescheid über die vorläufige Rente, daß der Verletzte nicht genötigt ist, gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 3 SGG auf Feststellung zu klagen, daß die im Bescheid über die vorläufige Rente angeführten Gesundheitsstörungen Unfallfolgen sind. Auch der Einwand der Beklagten, materielles Unrecht dürfe durch formale Vorschriften nicht verewigt werden (vgl. auch Podzun aaO), rechtfertigt es nicht, eine Neufeststellung der Rente zu unterlassen. Die bindende Wirkung des Anerkenntnisses könnte nur beseitigt werden, wenn eine gesetzliche Vorschrift dies zuließe (§ 77 SGG: "soweit durch Gesetz nichts anderes bestimmt ist"). Für die Anwendung ungeschriebenen Rechts, insbesondere der sogenannten Grundsätze des allgemeinen Verwaltungsrechts über die Rücknahme fehlerhafter Verwaltungsakte, ist hier kein Raum, weil für das Gebiet der gesetzlichen Unfallversicherung wie auch der Rentenversicherung die Rücknahme fehlerhafter Bescheide erschöpfend und abschließend durch besondere gesetzliche Vorschriften geregelt ist (vgl. BSG 18, 84, 90 mit weiteren Nachweisen). Daß aber die Voraussetzungen einer der gesetzlichen Vorschriften (insbesondere des § 1744 RVO), welche die Rücknahme förmlich erlassener Bescheide der Unfallversicherung abschließend regeln, hier gegeben seien, macht zutreffend auch die Beklagte nicht geltend. Das Vertrauen des Verletzten auf die bindende Feststellung ist nach dem Willen des Gesetzgebers grundsätzlich schutzwürdig. Dem entspricht es auch, daß der Verletzte aus Anlaß einer wesentlichen Änderung nicht befürchten muß, für die Verschlimmerung einer anerkannten Gesundheitsstörung keine Entschädigung zu erhalten.
Es kann hiernach dahinstehen, ob die Beklagte überhaupt, was das LSG offengelassen hat, den Kausalzusammenhang zwischen dem Arbeitsunfall und dem Diabetes mellitus zu Unrecht anerkannt hat. Es bedarf aus Anlaß dieses Falles auch keiner Entscheidung, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen eine Neufeststellung wegen wesentlicher Verschlimmerung anerkannter Gesundheitsstörungen versagt werden darf, wenn das Anerkenntnis auf unrichtigen Angaben des Verletzten beruht, der sich auf diese Weise eine Entschädigung erschlichen hat. Dieser Fall liegt hier nicht vor.
Die Revision der Beklagten ist als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen