Entscheidungsstichwort (Thema)
Berufsunfähigkeit eines selbständigen Handwerksmeisters (Friseurmeister)
Orientierungssatz
1. Zur Frage der Berufsunfähigkeit von Handwerkern unterscheidet die Rechtsprechung des BSG zwischen dem Inhaber des "Einmannbetriebes" den des mittelgroßen (mittleren) Betriebes und des Großbetriebes (vgl BSG 1979-12-12 1 RJ 104/78 = SozR 2200 § 1246 Nr 54). Auch im mittleren Handwerksbetrieb arbeitet bei dieser Einteilung der Inhaber und Meister noch körperlich mit.
2. Bei einem Betrieb bis zur mittleren Größe kann ein selbständiger Handwerksmeister, der die wesentlichen körperlichen Tätigkeiten seines Handwerks nicht mehr verrichten kann, bei der Prüfung der Berufsunfähigkeit nicht auf die ihm verbliebenen übrigen Tätigkeiten in seinem Handwerksbetrieb verwiesen werden (vgl BSG 1978-03-29 5 RJ 8/77).
3. Bei der Verweisung auf andere Tätigkeiten können derartige Handwerker derjenigen Gruppe gleichgestellt werden, die durch den Leitberuf des Meisters oder Hilfsmeisters im Arbeitsverhältnis bzw durch den Vorarbeiter mit Vorgesetztenfunktion gekennzeichnet ist. Infolgedessen können derartige Handwerker nur auf andere Facharbeitertätigkeiten oder auf Tätigkeiten zumutbar iS des § 1246 Abs 2 RVO verwiesen werden, die wegen ihrer Qualitätsmerkmale Facharbeitertätigkeiten gleichstehen, was in der Regel in der tariflichen Einstufung zum Ausdruck kommt (vgl BSG 1979-09-11 5 RJ 136/78 = SozR 2200 § 1246 Nr 49).
Normenkette
RVO § 1246 Abs 2 S 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
LSG für das Saarland (Entscheidung vom 29.03.1979; Aktenzeichen L 1 J 42/78) |
SG für das Saarland (Entscheidung vom 12.05.1978; Aktenzeichen S 14 J 77/75) |
Tatbestand
Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob der Klägerin, die als selbständige Friseurmeisterin Inhaberin eines eigenen Betriebes mit einer angestellten Friseuse war, Rente wegen Berufsunfähigkeit zusteht (§ 1246 Reichsversicherungsordnung -RVO-).
Den Rentenantrag vom 5. August 1974 lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 24. April 1975 ab. Während des erstinstanzlichen Verfahrens gab die Klägerin zum 30. Juni 1975 den Friseurbetrieb auf und ließ ihn in der Handwerksrolle löschen. Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 12. Mai 1978). Das Landessozialgericht (LSG) hat in seiner Entscheidung vom 29. März 1979 die Beklagte verurteilt, der Klägerin Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit ab 1. Juli 1975 zu gewähren. Als selbständige Friseurmeisterin könne die Klägerin nicht mehr tätig sein, denn sie sei nicht in der Lage, die manuellen Tätigkeiten ihres Berufs auszuführen. Selbst wenn man davon ausgehe, daß sie nicht leichte Arbeiten in vollen Schichten verrichten könne und wenn man sie bei der Verweisung auf andere Tätigkeiten nur als Facharbeiterin ansehe, sei keine Verweisungsmöglichkeit ersichtlich.
Die Beklagte hat dieses Urteil mit der vom LSG zugelassenen Revision angefochten. Ihrer Ansicht nach kann die Klägerin auf aufsichtsführende sowie leitende kaufmännische und buchhalterische Arbeiten in größeren Friseur-, Fußpflege- und Kosmetikgeschäften verwiesen werden. Außerdem komme eine Tätigkeit als Verkäuferin im entsprechenden Bereich in Betracht.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das
Urteil des SG zurückzuweisen.
Die Klägerin ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.
Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung des Rechtsstreits ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision der Beklagten ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit an das Berufungsgericht zurückverwiesen wird.
Ausgangspunkt für die Beurteilung der Berufsunfähigkeit ist die "bisherige Berufstätigkeit", denn von deren qualitativen Wert hängt es ab, auf welche anderen Tätigkeiten die Klägerin zumutbar iS des § 1246 Abs 2 RVO verwiesen werden kann. Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zur Frage der Berufsunfähigkeit von Handwerkern unterscheidet zwischen dem Inhaber des "Einmannbetriebes" den des mittelgroßen (mittleren) Betriebes und des Großbetriebes (vgl SozR 2200 § 1246 Nrn 39 und 54 msN). Auch im mittleren Handwerksbetrieb arbeitet bei dieser Einteilung der Inhaber und Meister noch körperlich mit. Dazu zählt der Betrieb, den die Klägerin bis 1975 als selbständige Friseurmeisterin geführt hat, denn sie hatte nur eine Friseuse beschäftigt.
Aufbauend auf der vorangegangenen Rechtsprechung des BSG (vgl BSGE 2, 91, 93; SozR Nr 3 zu § 27 AVG aF) hat der Senat entschieden (vgl SozR 2200 § 1246 Nr 14; Urteil vom 29. März 1978 - 5 RJ 8/77 -), daß mit einem Betrieb bis zur mittleren Größe ein selbständiger Handwerksmeister, der die wesentlichen körperlichen Tätigkeiten seines Handwerks nicht mehr verrichten kann, bei der Prüfung der Berufsunfähigkeit nicht auf die ihm verbliebenen übrigen Tätigkeiten in seinem Handwerksbetrieb verwiesen werden kann. Davon ist auch das LSG zutreffend ausgegangen.
Bei der Verweisung auf andere Tätigkeiten hat der Senat derartige Handwerker wie selbständige Friseurmeister mit einem Betrieb bis zur mittleren Größe derjenigen Gruppe gleichgestellt, die durch den Leitberuf des Meisters oder Hilfsmeisters im Arbeitsverhältnis bzw durch den Vorarbeiter mit Vorgesetztenfunktion gekennzeichnet ist (so Urteil vom 29. März 1978 aaO). Die Klägerin kann infolgedessen nur auf andere Facharbeitertätigkeiten oder auf Tätigkeiten zumutbar im Sinne des § 1246 Abs 2 RVO verwiesen werden, die wegen ihrer Qualitätsmerkmale Facharbeitertätigkeiten gleichstehen, was in der Regel in der tariflichen Einstufung zum Ausdruck kommt (so das BSG in ständiger Rechtspr, vgl Urteil des Senats in SozR 2200 § 1246 Nr 49 mwN).
Nach den Feststellungen des LSG kann die Klägerin die Tätigkeit einer mitarbeitenden Friseurmeisterin nicht mehr verrichten, sondern nur noch leichte Arbeiten in geschlossenen Räumen in sehr beschränktem Umfang. Schweres Heben und Tragen sowie häufiges Bücken müsse vermieden werden. Auch könnten keine motorischen Arbeiten mehr mit der linken Hand oder Arbeiten in Schulterhöhe und darüber gefordert werden. Ob der Klägerin noch in vollen Schichten oder nur noch mit geringerer Arbeitszeit eingesetzt werden kann, hat das LSG offen gelassen. Nach den mit zulässigen und begründeten Revisionsrügen nicht angegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts ist die Klägerin aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage, "gewisse gehobene Tätigkeiten wie Aufsichtstätigkeiten bei Haararbeiten in Fabriken, Instandsetzen von Haarteilen usw" zu verrichten. Die ebenfalls in Erwägung gezogene Tätigkeit einer Verkäuferin hat das LSG dagegen nicht wegen krankheitsbedingter Einschränkung der Erwerbsfähigkeit sondern deshalb ausgeschlossen, weil diese Tätigkeit nicht zu den "gehobenen ungelernten Tätigkeiten" gehöre. Ist die Klägerin aber gesundheitlich noch fähig, als ungelernte Verkäuferin zu arbeiten, dann kann das auch für die Fachverkäuferin gelten, die zu den anerkannten Ausbildungsberufen gehören kann (vgl Verzeichnis der anerkannten Ausbildungsberufe, herausgegeben vom Bundesinstitut für Berufsbildung, Stand 1. Juli 1980, Seiten 37, 69).
Das LSG wird die demnach noch notwendigen Tatsachenfeststellungen nachzuholen haben. Es wird prüfen müssen, ob die Klägerin in einem anerkannten Ausbildungsberuf wie der Fachverkäuferin oder in einer tariflich gleichgestellten Tätigkeit tätig sein kann und ob sie als Friseurmeisterin über die dazu notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten verfügt oder nur noch einer längstens drei Monate andauernden Einarbeitungszeit bedarf. In einem derartigen Fall wäre die Berufsunfähigkeit zu verneinen.
Das angefochtene Urteil mußte deshalb aufgehoben und der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen werden (§ 170 Abs 2 SGG).
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen