Leitsatz (amtlich)
Die Unterhaltsfähigkeit des geschiedenen Ehemannes - als Voraussetzung für den Unterhaltsanspruch der früheren Ehefrau - entfällt nicht, wenn er es unterläßt, einer ihm zuzumutenden und sich ihm bietenden Erwerbstätigkeit nachzugehen, und wenn er allein aus diesem Grunde kein Einkommen hat, von dem er seiner früheren Ehefrau Unterhalt leisten könnte.
Der selbständig berufstätige geschiedene Ehemann muß unter Umständen in eine abhängige Beschäftigung zurückkehren, um die für den Unterhalt an die frühere Ehefrau notwendigen Mittel zu erwerben.
Normenkette
RVO § 1265 Fassung: 1957-02-23; EheG § 61 Abs. 2 Fassung: 1946-02-20
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 15. Juli 1965 wird zurückgewiesen, soweit über die Rente der Klägerin vom 1. Juli 1965 an entschieden ist.
Im übrigen wird auf die Revision der Beklagten das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 15. Juli 1965 aufgehoben. Die Sache wird insoweit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
Der Rechtsstreit wird im wesentlichen um die Frage geführt, inwieweit ein früherer Ehemann der geschiedenen Frau gegenüber als zur Unterhaltsleistung fähig anzusehen ist, wenn er zwar kein zur Unterhaltsleistung ausreichendes Vermögen und Erwerbseinkommen hat, es aber unterläßt, eine sich ihm bietende und zumutbare Arbeitsgelegenheit zu nutzen.
I.
Die im Jahre 1905 geborene Klägerin begehrt Hinterbliebenenrente gemäß § 1265 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aus der Arbeiterrentenversicherung ihres früheren, am 16. September 1961 gestorbenen Ehemannes. Auf Antrag des Mannes wurde die im Jahre 1935 geschlossene Ehe wegen geistiger Krankheit der Klägerin gemäß § 45 des Ehegesetzes (EheG) durch Urteil vom 9. Januar 1956 ohne Schuldausspruch geschieden. Die Klägerin befand sich von 1955 an - seit 1956 auf Kosten des Sozialamtes - bis November 1961 in einer Heilanstalt. Ihren im Oktober 1961 gestellten Antrag auf Hinterbliebenenrente lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 21. Juni 1962 ab. Das Sozialgericht (SG) hat die gegen den Bescheid erhobene Klage abgewiesen (Urteil vom 10. Juli 1963). Das Landessozialgericht (LSG) hat das Urteil des SG und den Bescheid der Beklagten aufgehoben und diese verurteilt, der Klägerin vom Oktober 1961 an Rente aus der Versicherung ihres früheren Ehemannes zu gewähren (Urteil vom 15. Juli 1965). Es hat die Revision nicht zugelassen. Die Beklagte hat gleichwohl dieses Rechtsmittel eingelegt und rügt als wesentliche Mängel im Verfahren des Berufungsgerichts, die die Statthaftigkeit der Revision begründen sollen, unzureichende Sachaufklärung, Überschreitung der Grenzen des Rechts der richterlichen Beweiswürdigung und Verstoß gegen Denkgesetze.
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Hildesheim vom 10. Juli 1963 zurückzuweisen,
hilfsweise,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG Niedersachsen zurückzuverweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision als unzulässig zu verwerfen,
hilfsweise,
sie als unbegründet zurückzuweisen.
Sie hält die gerügten Verfahrensmängel nicht für gegeben und die Revision aus den Gründen des angefochtenen Urteils für unbegründet.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
II.
Die Revision ist zulässig und zum Teil begründet.
Die vom LSG nicht zugelassene Revision ist gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthaft, weil die Beklagte einen wesentlichen Mangel im Verfahren des LSG rügt, der auch vorliegt (BSG 1, 150). Das Berufungsgericht hat bei seinem Verfahren § 103 SGG nicht hinreichend beachtet.
Nach § 103 SGG hat das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen, ohne an das Vorbringen und die Beweisanträge der Beteiligten gebunden zu sein. Soweit die Revision eine Verletzung dieses Verfahrensgrundsatzes darin erblickt, daß das LSG es unterlassen habe, festzustellen, ob es sich bei der von ihm zitierten Rechtsprechung der Zivilgerichte zu der Unterhaltspflicht des geschiedenen Ehemannes um eine gesicherte Rechtsprechung handle, kann ihr nicht gefolgt werden. Ihre Auffassung, nach dem "Offizialprinzip des § 103 SGG" sei das LSG verpflichtet gewesen, nicht nur den Sachverhalt als solchen festzustellen, sondern auch zu prüfen, ob die von ihm zur Unterstützung seiner Entscheidung herangezogene Rechtsprechung auf den zur Entscheidung gestellten Fall überhaupt anwendbar gewesen sei, ist rechtsirrig. Die Vorschrift des § 103 SGG bezieht sich ausschließlich auf die Erforschung des Sachverhalts, d. h. auf die Feststellung des tatsächlichen äußeren Geschehensablaufs, der bei der Entscheidung der rechtlichen Beurteilung zugrunde zu legen ist, also nur auf die Feststellung von Tatsachen (vgl. BSG in SozR SGG § 162 Nr. 119), nicht aber auf die rechtliche Beurteilung des tatsächlichen Geschehens unter Berücksichtigung und Anwendung von Rechtsauffassungen, die sich aus anderen Gerichtsentscheidungen und aus dem Schrifttum ergeben. Diese Rüge der Beklagten kann also nicht zur Statthaftigkeit der nicht zugelassenen Revision führen.
Auch die Rüge der Revision, das LSG habe § 103 SGG dadurch verletzt, daß es unterlassen habe, die Absicht des früheren Ehemannes der Klägerin festzustellen, sich mit der Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit der Unterhaltspflicht zu entziehen, greift nicht durch. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) verletzt das Tatsachengericht die Vorschrift des § 103 SGG nur dann, wenn der z. Zt. der Urteilsfällung bekannte und festgestellte Sachverhalt nach der vom LSG vertretenen sachlich-rechtlichen Auffassung zur Entscheidung nicht ausreicht, sondern zu einer weiteren Sachaufklärung Anlaß gibt (BSG in SozR SGG § 103 Nr. 7). Nach der sachlich-rechtlichen Auffassung des LSG kam es aber nicht darauf an, ob der geschiedene Ehemann die Absicht hatte, sich der Unterhaltspflicht zu entziehen. Das LSG ist vielmehr bei seiner Entscheidung davon ausgegangen, ebenso wie ein Unterhaltsberechtigter es sich zu seinen Ungunsten anrechnen lassen müsse, wenn er es unterläßt, eine sich ihm bietende Arbeitsmöglichkeit auszunutzen, sei auch ein Unterhaltspflichtiger nach herrschender Meinung unter den gleichen Voraussetzungen als leistungsfähig anzusehen. Das LSG brauchte sich deshalb nicht gedrängt zu fühlen, Ermittlungen darüber anzustellen, ob der frühere Ehemann der Klägerin auch die Absicht gehabt hat, sich der Unterhaltspflicht zu entziehen.
Im Hinblick auf die vom LSG vertretene sachlich-rechtliche Auffassung greift indessen die weitere Rüge der Revision durch, das LSG habe es unter Verletzung des § 103 SGG unterlassen, darüber ausreichende Feststellungen zu treffen, ob der frühere Ehemann der Klägerin es unterlassen hat, eine sich ihm bietende Arbeitsmöglichkeit als angestellter Fahrlehrer zu nutzen. Mit Recht weist die Revision darauf hin, daß das angefochtene Urteil keine Feststellungen darüber enthält, daß sich dem früheren Ehemann der Klägerin in der letzten Zeit vor seinem Tode wirklich die Gelegenheit geboten hat, als angestellter Fahrlehrer eine Beschäftigung auszuüben, und daß er diese Gelegenheit ungenutzt gelassen hat.
Von dem Inhaber der Fahrschule B, C, hat das LSG eine Auskunft nur über das Einkommen eines angestellten Fahrlehrers im Jahre 1961 eingeholt. Diese Auskunft diente also nur der Feststellung, was ein angestellter Fahrlehrer im Jahre 1961 im Durchschnitt hätte verdienen können. Sie läßt keine Rückschlüsse darauf zu, daß der Versicherte bei dieser Fahrschule oder bei einer anderen Fahrschule als angestellter Fahrlehrer beschäftigt worden wäre.
Es kann sein, daß das LSG die ausdrückliche Feststellung, der frühere Ehemann der Klägerin habe die Gelegenheit, als angestellter Fahrlehrer zu arbeiten, ungenutzt gelassen, deshalb für entbehrlich gehalten hat, weil bei der im Jahre 1961 gegebenen allgemeinen Vollbeschäftigung mit dem damit verbundenen Mangel an Arbeitskräften ohne weiteres davon ausgegangen werden könne, daß auch der frühere Ehemann der Klägerin als angestellter Fahrlehrer tatsächlich hätte arbeiten können, und daß er diese Gelegenheit ungenutzt gelassen habe. Diese Tatsachen hätte das LSG jedoch ohne weitere Sachaufklärung weder auf Grund ihm bekannter Tatsachen aus anderen Verfahren als gerichtskundig noch auf Grund eines allgemeinen Erfahrungssatzes als bewiesen ansehen dürfen; denn ob der frühere Ehemann der Klägerin als angestellter Fahrlehrer bei einer Fahrschule beschäftigt worden wäre, hängt nicht nur von den jeweiligen Verhältnissen am Arbeitsmarkt ab, sondern, worauf die Revision mit Recht hinweist, wesentlich auch davon, ob er die persönlichen Voraussetzungen für eine solche Beschäftigung in abhängiger Stellung erfüllte, nämlich ob er nach seinen körperlichen und geistigen Kräften und Fähigkeiten im Angestelltenverhältnis hätte tätig sein können, und ob sein Alter, seine persönlichen Eigenschaften (z. B. Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit, Arbeitswilligkeit, Unterordnungsfähigkeit) und seine Beurteilungen aus früheren abhängigen Arbeitsverhältnissen keine Hinderungsgründe für eine derartige abhängige Beschäftigung darstellten.
Die Tatsache, daß der geschiedene Ehemann seit Anfang 1959 selbständig eine Fahrschule betrieben hat und nach seinem körperlichen und geistigen Leistungsvermögen imstande war, eine qualifizierte Erwerbstätigkeit auszuüben, beweist noch nicht, daß er fähig gewesen ist, regelmäßig in einem abhängigen Angestelltenverhältnis einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Vor allem kann daraus allein nicht geschlossen werden, daß eine Fahrschule ihn als Fahrlehrer beschäftigt hätte. Ob eine solche Gelegenheit für ihn wirklich gegeben gewesen ist, wird nicht zuletzt auch davon abhängen, aus welchen Gründen er aus seiner Beschäftigung als Ingenieur und Fahrlehrer bei einer Fahrschule ausgeschieden ist, der er nach den Angaben der Klägerin in den Jahren 1957 und 1958 vor Eröffnung seiner selbständigen Fahrschule nachgegangen ist.
Mit Recht rügt die Revision, daß das LSG sich hätte gedrängt fühlen müssen, in dieser Richtung den Sachverhalt weiter aufzuklären. Da es dies nicht getan hat, leidet sein Verfahren an einem wesentlichen Mangel, so daß die Revision der Beklagten gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft ist.
Die hiernach zulässige Revision der Beklagten ist nur zum Teil begründet; sie ist unbegründet und zurückzuweisen, soweit das LSG die Beklagte verurteilt hat, der Klägerin Rente für die Zeit vom 1. Juli 1965 an zu gewähren. Soweit in dem angefochtenen Urteil über den Rentenanspruch der Klägerin für die Zeit bis zum 30. Juni 1965 entschieden ist, führt die Revision zur Aufhebung des Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das LSG.
Nach der Vorschrift des § 1265 RVO idF des Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes (RVÄndG) vom 9. Juni 1965 (BGBl I 476), die mit Wirkung vom 1. Juli 1965 in Kraft getreten ist (Art. 5 § 10 Abs. 1 Buchst. e RVÄndG), wird einer früheren Ehefrau des Versicherten, deren Ehe mit ihm geschieden, für nichtig erklärt oder aufgehoben ist, nach dem Tode des Versicherten Rente gewährt, wenn ihr der Versicherte zur Zeit seines Todes Unterhalt nach den Vorschriften des EheG oder aus sonstigen Gründen zu leisten hatte oder wenn er im letzten Jahr vor seinem Tode Unterhalt geleistet hat. Ist eine Witwenrente nicht zu gewähren, findet Satz 1 auch dann Anwendung, wenn eine Unterhaltsverpflichtung wegen der Vermögens- und Erwerbsverhältnisse des Versicherten nicht bestanden hat (§ 1265 Satz 2 RVO). Der frühere Ehemann hat der Klägerin im letzten Jahr vor seinem Tode keinen regelmäßigen Unterhalt geleistet. Er hatte ihr auch aus "sonstigen Gründen" keinen Unterhalt zu leisten. Die Bestimmung des § 1265 Satz 1 RVO kommt daher - wie unter den Beteiligten auch unstreitig ist - nur insoweit in Betracht, als sie besagt, daß einer früheren Ehefrau des Versicherten, deren Ehe mit dem Versicherten geschieden ist, nach dessen Tode Rente gewährt wird, wenn ihr der Versicherte zur Zeit seines Todes Unterhalt nach den Vorschriften des EheG zu leisten hatte. Da die Ehe der Klägerin gemäß § 45 EheG geschieden ist und das Urteil keinen Schuldausspruch enthält, richtet sich die Beurteilung, ob der frühere Ehemann zur Zeit seines Todes der Klägerin Unterhalt nach den Vorschriften des EheG zu leisten hatte, wie das LSG zutreffend ausgeführt hat, nach § 61 Abs. 2 EheG. Hiernach hat der Ehegatte, der die Scheidung verlangt hat, dem anderen Unterhalt zu gewähren, wenn und soweit dies mit Rücksicht auf die Bedürfnisse und die Vermögens- und Einkommensverhältnisse der geschiedenen Ehegatten und der nach § 63 EheG unterhaltspflichtigen Verwandten des Berechtigten der Billigkeit entspricht. Dem LSG ist weiterhin darin beizupflichten, daß der aus § 61 Abs. 2 EheG hergeleitete Unterhaltsanspruch der Klägerin, weil es sich bei ihm um einen echten Unterhaltsanspruch nach dem EheG handelt (Palandt, BGB, 25. Aufl., EheG § 61 Anm. 3; Hoffmann/Stephan, EheG, Komm., § 61 Anm. 4 B b), ihre Unterhaltsbedürftigkeit einerseits und die Unterhaltsfähigkeit ihres früheren Ehemannes andererseits voraussetzt (vgl. hierzu BSG 3, 197 ff).
Für die Zeit vom 1. Juli 1965 an kommt es allerdings für den Anspruch der geschiedenen Frau auf Hinterbliebenenrente nach der Vorschrift des § 1265 Satz 2 RVO auf die Unterhaltsfähigkeit des Versicherten zur Zeit seines Todes nicht mehr an, wenn die geschiedene Frau bedürftig war und der Mann keine Witwe hinterlassen hat; denn § 1265 Satz 2 RVO schreibt ausdrücklich vor, daß Satz 1 auch dann anzuwenden ist, wenn einer Witwe Rente nicht zu gewähren ist und eine Unterhaltsverpflichtung wegen der Vermögens- oder Erwerbsverhältnisse des Versicherten nicht bestanden hat. Die Vorschrift des § 1265 Satz 2 RVO gilt gemäß Art. 5 § 4 Abs. 2 Buchst. a RVÄndG auch für Versicherungsfälle, die vor dem 1. Juli 1965, aber nach dem 31. Dezember 1956 eingetreten sind. Sie ist also auf den im September 1961 eingetretenen Versicherungsfall anzuwenden. Nach den Feststellungen des LSG hat sich die Klägerin seit 1956 bis November 1961 auf Kosten des Sozialamtes in einer Heilanstalt befunden, so daß sie zur Zeit des Todes ihres früheren Ehemannes im September 1961 mangels eigenen Vermögens oder Einkommens unterhaltsbedürftig gewesen ist. Dafür, daß der frühere Ehemann eine Witwe hinterlassen hat, besteht nach den Feststellungen des LSG und dem eigenen Vorbringen der Beteiligten kein Anhalt. Demnach sind die Voraussetzungen des § 1265 Satz 2 RVO erfüllt, so daß der Anspruch der Klägerin auf Hinterbliebenenrente für die Zeit vom 1. Juli 1965 an begründet ist. Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des LSG ist daher in diesem Umfang als unbegründet zurückzuweisen.
Der Rentenanspruch der Klägerin für die Zeit bis zum 30. Juni 1965 hängt auf Grund der bis dahin geltenden Vorschrift des § 1265 RVO idF des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes, die mit § 1265 Satz 1 RVO idF des RVÄndG übereinstimmt, davon ab, ob der frühere Ehemann ihr zur Zeit seines Todes Unterhalt nach den Vorschriften des EheG zu leisten hatte und, da die Klägerin unterhaltsbedürftig war, ob der frühere Ehemann zur Zeit seines Todes nach seinen Vermögens- und Einkommensverhältnissen zur Leistung von Unterhalt an die Klägerin fähig war.
Das LSG hat festgestellt, daß der frühere Ehemann keine anderweitigen Unterhaltsverpflichtungen gehabt hat. Nach seinen eigenen früheren Angaben im Unterhaltsprozeß hat er aus seinem seit Anfang 1959 unterhaltenen selbständigen Fahrschulbetrieb im dritten Betriebsjahr ein monatliches Einkommen von etwa 270 DM gehabt. Ob er der Klägerin aus den Einnahmen seines selbständigen Fahrschulbetriebes wegen der hohen Betriebskosten und insbesondere wegen der mit der Gründung des Betriebes verbundenen Verbindlichkeiten keinen Unterhalt hat leisten können, hat das LSG nicht als erheblich angesehen; denn es hat die Rechtsauffassung vertreten, daß, ebenso wie ein Unterhaltsberechtigter es sich zu seinen Ungunsten anrechnen lassen müsse, wenn er es unterläßt, eine sich ihm bietende Arbeitsmöglichkeit auszunutzen, auch ein Unterhaltspflichtiger nach herrschender Meinung unter den gleichen Voraussetzungen als leistungsfähig anzusehen sei. Er müsse erforderlichenfalls sogar einen Berufswechsel vornehmen und auch sein Bestreben nach einer gehobenen Lebensstellung zurückstellen gegenüber seinen familienrechtlichen Unterhaltsverpflichtungen. Dem früheren Ehemann der Klägerin hätte zugemutet werden müssen, eine angemessene Tätigkeit in abhängiger Stellung zu verrichten, weil ihm eine entsprechende Tätigkeit etwa als angestellter Fahrlehrer ein weit höheres Einkommen als monatlich 270 DM eingebracht und damit auch die Leistung eines wirtschaftlich bedeutsamen Betrages zum Unterhalt der Klägerin ermöglicht hätte. Dieser vom LSG vertretenen Rechtsauffassung ist beizutreten.
Die für die Leistungsfähigkeit des geschiedenen Ehemannes gegenüber der früheren Ehefrau zum EheG entwickelten Rechtsgrundsätze haben grundsätzlich auch im Sozialversicherungsrecht zu gelten, soweit dessen Besonderheiten keine Abweichung gebieten. Nach diesen Grundsätzen wird die Leistungsfähigkeit des geschiedenen Ehemannes nicht ohne weiteres dadurch ausgeschlossen, daß er kein zur Unterhaltsleistung ausreichendes Vermögen und Erwerbseinkommen hat. Seine Unterhaltsfähigkeit entfällt grundsätzlich nicht, wenn er es unterläßt, einer nach den Verhältnissen des Einzelfalles ihm zuzumutenden und sich ihm bietenden Erwerbstätigkeit nachzugehen, und wenn er allein aus diesem Grunde über kein Einkommen verfügt, von dem er Unterhaltsbeiträge an die geschiedene frühere Ehefrau leisten könnte. Er muß seine Arbeitsfähigkeit so gut wie möglich einsetzen. Wenn er nicht genügend verdient, muß er eine sich ihm bietende Arbeitsmöglichkeit mit besserem Verdienst und gleichwertigen Sicherheiten nutzen; unterläßt er dies, so ist er als leistungsfähig anzusehen. Bei entsprechender Arbeitsfähigkeit muß er sich also Einkünfte anrechnen lassen, die er bei gutem Willen durch gehörige Verwendung seiner Fähigkeiten und Kräfte erlangen kann (vgl. hierzu schon RG in Recht 1907, 1538, Nr. 3823; Palandt, BGB, 25. Aufl. EheG, § 59 Anm. 4; Soergel/Siebert, BGB, 9. Aufl. EheG, § 58 Anm. 7; Brühl, Unterhaltsrecht, 2. Aufl., 173 ff; Köhler, Handbuch des Unterhaltsrechts, § 9 S. 24; Hoffmann/Stephan, EheG Komm. § 58 Anm. 3 B; BGB-RGRK 10./11. Aufl. § 1603 BGB Anm. 2). Wie ein abhängig Beschäftigter u. U. einen Arbeitsplatzwechsel vornehmen muß, so muß auch ein Selbständiger u. U. in das Angestelltenverhältnis zurückkehren (vgl. hierzu OLG Bremen in NJW 1955, 1606; OLG Celle in Niedersächsischer Rechtspfleger 1957, 136; OLG Stuttgart in NJW 1962, 1631; OLG Hamm in FamRZ 1967, 175 = ZfF 1967, 138; Brühl aaO, 174; BGB-RGRK 10./11. Aufl., § 1602 BGB Anm. 3; Soergel/Siebert aaO § 1603 BGB Rd. Nr. 8). Daß der Pflicht zum Arbeitsplatz- und Berufswechsel, um höhere Einkünfte zu erzielen und dadurch der Unterhaltspflicht genügen zu können, die Art. 2 und 12 des Grundgesetzes nicht entgegenstehen, ist in der Rechtsprechung ebenfalls anerkannt (OLG Bremen in NJW 1955, 1606; OLG Stuttgart NJW 1962, 1631; BGB-RGRK 10./11. Aufl., § 1602 BGB Anm. 5; vgl. hierzu auch die Stellungnahme des BVerfG in FamRZ 1966, 196 zur Zumutbarkeit einer Erwerbstätigkeit für die geschiedene Frau). Der Unterhaltspflichtige muß aber nach Lage des Arbeitsmarktes eine geeignete Stelle finden können, ihm muß sich Gelegenheit zu einer Stelle mit besseren Einnahmen geboten und er muß sie ungenutzt gelassen haben, ohne daß besondere Gründe dies rechtfertigen.
Auch bleibt er unter bestimmten Voraussetzungen trotz Aufgabe seiner Stellung unterhaltsfähig. Gibt er ohne gerechtfertigten Grund seinen Arbeitsplatz auf, und findet er keine neue Stelle mit ausreichenden Einkünften, so ist er weiterhin als leistungsfähig zu behandeln (Brühl aaO, 174). Auch als Arbeitsloser und Selbständiger bleibt er sonach unterhaltsfähig, wenn er seine frühere abhängige Arbeitsstelle mit ausreichenden Einkünften ohne berechtigten Grund aufgegeben hat (a. A. BGB-RGRK § 1603 BGB Anm. 4).
Diese für den Unterhaltsanspruch des geschiedenen Ehegatten nach dem EheG geltenden Rechtsgrundsätze sind auch im Rahmen des § 1265 RVO anzuwenden, weil die Besonderheiten des Sozialversicherungsrechts hier keine Abweichung rechtfertigen. In § 1265 Abs. 1 RVO ist der Anspruch der geschiedenen Frau u. a. davon abhängig gemacht, daß ihr der Versicherte zur Zeit seines Todes Unterhalt nach den Vorschriften des EheG zu leisten hatte. Die Rente für die frühere Ehefrau des Versicherten soll nicht nur den durch den Tod des Versicherten bewirkten Wegfall von tatsächlichen Unterhaltsleistungen ersetzen, sondern auch den Wegfall von Unterhaltspflichten (BSG, Urteil vom 16. April 1964 in SozR RVO § 1265 Nr. 21). Hierzu hat auch der Große Senat in seinem Beschluß vom 27. Juni 1963 (BSG 20, 1 = SozR RVO § 1265 Nr. 17) ausgeführt, daß die Hinterbliebenenrenten zwar Unterhaltsersatzfunktion haben, daß mit ihnen jedoch nicht nur realisierte oder mindestens realisierbare Unterhaltsleistungen zu ersetzen sind, sondern durch die Rente die Ansprüche auf Grund der Vorschriften des EheG auch schon dann ersetzt werden, wenn sie bestehen und ihre Durchsetzung z. B. am Pfändungsschutz hätte scheitern müssen; neben den tatsächlichen Leistungen und den auf den EheG beruhenden Verpflichtungen habe der Gesetzgeber auch andere Rechtspositionen - sonstige Gründe - als ausreichende Voraussetzung für den Anspruch auf Hinterbliebenenrente gelten lassen wollen. Weiterhin ist dargelegt, daß die Realisierbarkeit weder bei den Ansprüchen auf Grund des EheG noch bei anderen Ansprüchen des materiellen Rechts für die Bewilligung der Hinterbliebenenrente vorausgesetzt wird. Hieraus ergibt sich, daß der bloße Anspruch auf Unterhalt nach den Vorschriften des EheG für die Gewährung der Hinterbliebenenrente ausreicht, und daß das Gesetz für das Bestehen eines derartigen Anspruchs die Vorschriften des EheG grundsätzlich für entscheidend hält. Deshalb bestehen auch keine Bedenken, die Unterhaltsfähigkeit des geschiedenen Ehemannes nach den für das EheG geltenden Grundsätzen zu beurteilen.
Nach den Feststellungen des LSG war der geschiedene Ehemann der Klägerin von 1948 bis 1957 mit nur kurzer Unterbrechung arbeitslos. Anschließend hat er - nach Angaben der Klägerin - bei einer Fahrschule als Ingenieur und Fahrlehrer gearbeitet. Am 1. Januar 1959 hat er eine eigene Fahrschule eröffnet, die er bis zu seinem Tode betrieben und die ihm selbst im dritten Betriebsjahr nur ein Einkommen von etwa 270 DM monatlich eingebracht hat. Für die Beurteilung, ob der frühere Ehemann der Klägerin als unterhaltsfähig zu behandeln ist, ist zunächst entscheidend, ob er in seiner früheren Beschäftigung als Ingenieur und Fahrlehrer ein für die Unterhaltsleistung an die Klägerin ausreichendes Einkommen gehabt hat, und ob er diese Stelle ohne berechtigten Grund aufgegeben hat. Hierüber sind vom LSG keine Feststellungen getroffen worden. Der in dem angefochtenen Urteil festgestellte Sachverhalt reicht sonach zur Entscheidung nicht aus.
Hat der frühere Ehemann der Klägerin diese Stelle aus triftigen Gründen verloren, so kommt es darauf an, ob er gesundheitlich auch als angestellter Fahrlehrer oder in anderer Stellung als abhängiger Angestellter hätte arbeiten und mehr verdienen können, ob er tatsächlich eine Gelegenheit zu einer solchen Beschäftigung hatte, und ob er sie ungenutzt gelassen hat. Das LSG ist zutreffend davon ausgegangen, daß der frühere Ehemann als Angestellter hätte arbeiten müssen, weil er in seinem Fahrschulbetrieb als Selbständiger selbst im dritten Betriebsjahr nicht genügend verdiente. Er hätte also den Beruf wechseln müssen. Zuzumuten wäre ihm aber nicht nur die Tätigkeit als angestellter Fahrlehrer gewesen, sondern auch die als Angestellter in einer anderen Beschäftigung in einer seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechenden und zumutbaren Stellung; denn wenn er als angestellter Fahrlehrer tätig gewesen ist, so hätte es für ihn keine unzumutbare Tätigkeit bedeutet, wenn er zu einer solchen abhängigen Beschäftigung als Angestellter zurückgekehrt wäre, um für die Unterhaltsleistungen ausreichende Mittel zu erwerben. Zur Beurteilung dieser Umstände reichen die Feststellungen in dem angefochtenen Urteil ebenfalls nicht aus.
Aus diesen Gründen muß das angefochtene Urteil, soweit der Anspruch der Klägerin auf Hinterbliebenenrente bis zum 30. Juni 1965 in Frage steht, aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 SGG).
Die Entscheidung über die Erstattung der außergerichtlichen Kosten im Revisionsverfahren bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen
BSGE, 1 |
NJW 1967, 2281 |
MDR 1967, 870 |