Leitsatz (amtlich)

Ist ein die Rente (ganz oder teilweise ) ablehnender Bescheid bindend geworden, so ist die Überzeugung des Versicherungsträgers von der Rechtmäßigkeit des früheren Bescheids in der Regel dann nicht offensichtlich fehlerhaft, wenn das Begehren auf "erneute Prüfung" auf keine wesentlich anderen Tatsachen gestützt wird als auf die bereits bei Erlaß des früheren Bescheids gewürdigten Tatsachen.

 

Leitsatz (redaktionell)

Entscheidend für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit eines die Neufeststellung ablehnenden Bescheids ist nicht, ob das Gericht von der Rechtswidrigkeit des ersten Bescheids überzeugt ist, sondern ob die gegenteilige Überzeugung des Versicherungsträgers unter keinem tatsächlichen oder rechtlichen Gesichtspunkt "zu halten ist".

Der Versicherungsträger ist im Verfahren nach AVG § 79 (= RVO § 1300) nicht verpflichtet, in gleichem Umfange Ermittlungen anzustellen wie bei der erstmaligen Entscheidung; er ist hier freier gestellt.

 

Normenkette

RVO § 1300 Fassung: 1957-02-23; AVG § 79 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten werden das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 20. Juni 1967 und das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 25. Juli 1966 aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Der Kläger (geboren am 12. Januar 1899) erhält von der Beklagten seit dem 1. Januar 1964 Altersruhegeld (Bescheid vom 30. Juni 1964). In einem früheren Streitverfahren, in dem der Kläger die Anrechnung weiterer Versicherungszeiten, insbesondere einer von ihm behaupteten versicherungspflichtigen Beschäftigung in der Gastwirtschaft seines Vaters von 1925 bis 1937, begehrt hatte, hatte sich die Beklagte durch einen Vergleich zur Erteilung eines neuen Rentenbescheids verpflichtet; der Kläger nahm darauf diese (erste) Klage zurück. Er übersandte sodann der Beklagten im April 1965 eine Erklärung seines Bruders ... eines früheren Angestellten beim Arbeitsamt, der im wesentlichen das Vorbringen des Klägers über eine versicherungspflichtige Beschäftigung des Klägers in der väterlichen Gastwirtschaft in den Jahren 1925 bis 1937 und die Entrichtung von Beiträgen zur Invalidenversicherung in dieser Zeit bestätigte. Ein bindend gewordener Bescheid der Landesversicherungsanstalt (LVA) Westfalen vom 17. April 1957 über die Erneuerung der Beitragsunterlagen des Klägers besagt dagegen über Beiträge des Klägers zur Invalidenversicherung in den Jahren 1925 bis 1937 nichts.

Am 15. September 1965 erteilte die Beklagte dem Kläger aufgrund des Vergleichs einen neuen Bescheid. Die Zeit von 1925 bis 1937 rechnete sie auch in diesem Bescheid nicht als Beitragszeit an, da die Entrichtung von Beiträgen weder nachgewiesen noch glaubhaft gemacht sei; der Kläger habe gegenüber der LVA Westfalen (in dem Verfahren über die Erneuerung der Beitragsunterlagen) selbst angegeben, daß in dieser Zeit keine Beiträge zur Rentenversicherung entrichtet worden seien; er sei in dieser Zeit auch nicht gegen Krankheit bei einer gesetzlichen Krankenkasse versichert gewesen. Auf die Klage hob das Sozialgericht (SG) Dortmund den Bescheid vom 15. September 1965 idF des während des Streitverfahrens nachgeholten (ablehnenden) Widerspruchsbescheids vom 8. März 1966 hinsichtlich der Nichtanrechnung der in der Zeit von 1925 bis 1937 behaupteten Arbeiterrenten-Versicherungszeiten auf und verurteilte die Beklagte, "den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden"; das SG war der Meinung, die Beklagte habe sich vor der Entscheidung über die vom Kläger begehrte Neufeststellung der Rente gedrängt fühlen müssen, zur weiteren Klärung des Sachverhalts den Bruder des Klägers, ... noch als Zeugen gerichtlich vernehmen zu lassen; dies müsse die Beklagte nachholen (Urteil vom 25. Juli 1966). Die Berufung der Beklagten wies das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen zurück (Urteil vom 20. Juni 1967). Es führte aus: Das SG habe die Beklagte zu Recht verpflichtet, den Kläger unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu bescheiden. Zwar habe sich erst während des Berufungsverfahrens herausgestellt, daß ... bereits im Oktober 1965 gestorben sei. Dies führe jedoch nicht zu einem für die Beklagte günstigeren Ergebnis. Sie müsse es jetzt vielmehr hinnehmen, daß sie auch ohne Vernehmung dieses Zeugen von der Entrichtung von Invalidenversicherungsbeiträgen für den Kläger als überzeugt zu gelten habe. Dies folge aus der Würdigung der vom Kläger vorgelegten "wahrheitsgemäßen Erklärung" des ... in Verbindung mit der Tatsache, daß die Beklagte es schuldhaft versäumt habe, im Rahmen ihrer Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts diesen Zeugen noch zu seinen Lebzeiten vernehmen zu lassen. Der Kläger sei - wie das LSG näher darlegte - in der streitigen Zeit bei seinem Vater versicherungspflichtig (mit einem Entgelt von "anfangs 30 RM und später 40 - 50 RM neben freier Station") beschäftigt gewesen. Für die Entrichtung von Beiträgen zur Rentenversicherung spreche die von ... besonders hervorgehobene Tatsache, daß der Vater den Kläger mit Rücksicht auf die anderen Söhne nicht als Teilhaber in den Betrieb aufgenommen, sondern als Arbeitnehmer beschäftigt habe; diese "korrekte Einstellung" des Vaters weise darauf hin, daß der Vater den - bereits früher versicherungspflichtig Beschäftigten - Kläger auch in der Rentenversicherung "weiter versichert" habe. Zwar wäre im Hinblick auf noch bestehende Zweifel eine weitere Aufklärung des Sachverhalts durch Vernehmung des ... als Zeugen notwendig gewesen, auf diese Bedenken könne sich die Beklagte jedoch nicht berufen, weil sie ihrer Pflicht, weitere Ermittlungen anzustellen, nicht nachgekommen sei, obwohl deren Notwendigkeit für die Beklagte leicht erkennbar und die Vernehmung in der Zeit zwischen der Vorlage der schriftlichen Erklärung des ... (im April 1965) und seinem Tode (im Oktober 1965) möglich gewesen wäre. Eine "Beweisvereitelung" durch den Versicherungsträger führe zwar nicht zu einer Umkehrung der objektiven Beweislast, sie sei aber im Rahmen der Beweiswürdigung gebührend zu berücksichtigen. Insbesondere nach der Erklärung des ... aber auch nach den glaubhaften Angaben des Klägers sprächen hier sehr erhebliche Umstände für eine versicherungspflichtige Beschäftigung des Klägers und für die Entrichtung von Pflichtbeiträgen. Die Nachteile, die sich daraus ergäben, daß eine weitere Sachaufklärung aufgrund des schuldhaften Verhaltens der Beklagten nicht mehr möglich sei, müsse die Beklagte schon dann tragen, wenn eine weitere Erhärtung des Vorbringens des Klägers auch nur vermutlich erfolgt wäre. Die Beklagte müsse daher von einer versicherungspflichtigen Beschäftigung des Klägers und von der Entrichtung von Pflichtbeiträgen in der streitigen Zeit als überzeugt angesehen werden; sie werde den Kläger unter Berücksichtigung dieser Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu bescheiden haben.

Mit der zugelassenen Revision beantragte die Beklagte,

die Urteile des LSG und des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Sie rügte eine Verletzung der §§ 79, 204 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) iVm § 1613 Abs. 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) und § 103 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Sie habe von der Entrichtung von Beiträgen in der streitigen Zeit nicht überzeugt sein müssen, weil der Kläger unstreitig damals keine Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung entrichtet habe, weil er selbst (im Verfahren über die Erneuerung der Beitragsunterlagen) die Entrichtung von Beiträgen zur Rentenversicherung zunächst verneint habe und weil er den Bescheid der LVA Westfalen über die Erneuerung der Beitragsunterlagen, in dem diese Zeiten nicht anerkannt seien, habe bindend werden lassen. Auch die schriftliche Erklärung des ... sei angesichts dieser Umstände nicht geeignet, die Beitragsentrichtung als überwiegend wahrscheinlich und damit glaubhaft erscheinen zu lassen; hiervon sei auch das LSG ausgegangen. Die Beklagte sei nicht verpflichtet gewesen, ... noch zur Frage der Beitragsentrichtung vernehmen zu lassen, sie habe davon ausgehen dürfen, daß ... in der schriftlichen Erklärung alle ihm bekannten Tatsachen, wie sie sich nach seiner Erinnerung darstellten, angegeben habe. Aber selbst wenn sie zu einer Vernehmung verpflichtet gewesen wäre, so sei der Bescheid vom 15. September 1965 idF des Widerspruchsbescheids vom 8. März 1966 jedenfalls vertretbar gewesen, sie habe sich ihre Überzeugung davon, daß mit dem ersten Bescheid die Rente nicht zu niedrig festgestellt worden sei, nicht offensichtlich fehlerhaft gebildet. Es treffe schließlich auch nicht zu, daß sie im Hinblick auf eine "schuldhafte Beweisvereitelung" als überzeugt gelten müsse. Aus den Rentenakten ergebe sich, daß sie - wie sie anhand dieser Akten näher darlegte - alsbald bei der LVA Westfalen wegen der Anrechnung der streitigen Zeit angefragt und kurze Zeit nach Eingang der Antwort entschieden habe. Im übrigen sei auch nicht auszuschließen, daß eine Vernehmung des ... wegen seines Gesundheitszustandes schon zu einem vor seinem Tode liegenden Zeitpunkt unmöglich gewesen wäre; insoweit hätte das LSG noch Ermittlungen anstellen müssen.

Der Kläger ist im Revisionsverfahren nicht vertreten. Er hat sich, ebenso wie die Beklagte, mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§§ 165, 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG).

II

Die Revision der Beklagten ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164 SGG). Sie ist auch begründet. Das LSG hat zu Unrecht den Bescheid der Beklagten vom 15. September 1965 idF des Widerspruchsbescheids vom 8. März 1966 als rechtswidrig angesehen.

Mit dem angefochtenen Bescheid hat die Beklagte es abgelehnt, bei der Neufeststellung der Rente des Klägers, zu der sie sich aufgrund des Vorbringens des Klägers in dem früheren Verfahren durch Vergleich verpflichtet hat, auch eine von dem Kläger behauptete Zeit der versicherungspflichtigen Beschäftigung von 1925 bis 1937 als Beitragszeit anzurechnen; sie hat es abgelehnt, auch insoweit nach § 79 AVG die Rente des Klägers günstiger als in dem Rentenbescheid vom 30. Juni 1964, in dem diese Zeit nicht angerechnet worden ist, festzustellen. Die gegen den angefochtenen Bescheid erhobene Klage ist eine zusammengefaßte Aufhebungs- und Verpflichtungsklage im Sinne von § 54 Abs. 1 Satz 1 SGG (Urteil des Bundessozialgerichts - BSG - vom 18. Februar 1964, BSG 20, 199). Hiervon sind auch die Vorinstanzen ausgegangen. Das LSG hat jedoch zu Unrecht die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückgewiesen. Es ist schon zweifelhaft, ob das LSG nicht von seinem sachlich-rechtlichen Standpunkt aus das Urteil des SG deshalb hätte aufheben müssen, weil es - wie die Gründe seines Urteils ergeben - in Wirklichkeit nicht das Urteil des SG bestätigt, sondern eine andere Entscheidung getroffen hat als das SG. Das SG hat den angefochtenen Bescheid nicht deshalb aufgehoben, weil es ihn für rechtswidrig gehalten hat, sondern nur deshalb, weil nach seiner Meinung die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Bescheids noch weitere Ermittlungen der Beklagten gefordert hat. Es hat auch nicht die "Rechtsauffassung" dargelegt, die die Beklagte bei Erlaß des neuen Bescheids zu beachten habe; es hat den Streitstoff nicht erschöpft, sondern in Wirklichkeit die Sache an die Verwaltung zurückverwiesen. Das LSG dagegen hat die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids selbst geprüft, es hat dargelegt, daß und aus welchen Gründen nach seiner Meinung der angefochtene Bescheid rechtswidrig sei und es hat - anders als das SG - die Beklagte zum Erlaß des nach seiner - des LSG - Meinung rechtmäßigen Bescheids ("unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Gerichts") verurteilt.

Das Urteil des LSG kann jedoch in jedem Fall deshalb nicht aufrechterhalten werden, weil der angefochtene Bescheid (idF des Widerspruchsbescheids) nicht rechtswidrig ist.

Nach § 79 AVG hat die Beklagte - ebenso wie nach § 1300 RVO der Träger der Arbeiterrentenversicherung, nach § 93 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) der Träger der knappschaftlichen Rentenversicherung; nach § 627 RVO der Träger der Unfallversicherung- eine Leistung neu festzustellen, wenn sie sich bei erneuter Prüfung überzeugt, daß die Leistung (zu Unrecht abgelehnt, entzogen, eingestellt oder) zu niedrig festgestellt worden ist. Überzeugt sich der Versicherungsträger hiervon nicht oder gibt er - wie im vorliegenden Fall - dem Begehren auf Neufeststellung nur teilweise statt, weil er nicht von der Unrichtigkeit bzw. von einer weitergehenden Unrichtigkeit überzeugt ist, lehnt er also die Neufeststellung deshalb ganz oder teilweise ab, so ist auf die Klage hin vom Gericht zu prüfen, ob der Versicherungsträger bei der Bildung seiner - negativen - Überzeugung offensichtlich fehlerhaft gehandelt hat (Urteil des BSG vom 23. April 1963, BSG 19, 93, 95). Die Gerichte dürfen nicht ihre eigene - positive - Überzeugung an die Stelle der Überzeugung des Versicherungsträgers setzen; sie dürfen den Versicherungsträger nur dann als von der Rechtswidrigkeit des früheren Bescheids überzeugt ansehen und ihn zum Erlaß des vom Versicherten begehrten günstigeren Neufeststellungsbescheides verurteilen, wenn die Rechtswidrigkeit des früheren Bescheids so offensichtlich ist, daß der Versicherungsträger bei der "erneuten Prüfung" zu der Überzeugung von der Rechtswidrigkeit hätte gelangen müssen (Urteil des BSG vom 10. Dezember 1964, SozR Nr. 1 zu § 95 RKG; vgl. auch Urteil des BSG vom 29. März 1964, BSG 19, 38, 43/44). Entscheidend für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des die Neufeststellung ablehnenden Bescheides ist also nicht, ob das Gericht von der Rechtswidrigkeit des ersten Bescheides überzeugt ist, sondern ob die gegenteilige Überzeugung des Versicherungsträgers unter keinem tatsächlichen oder rechtlichen Gesichtspunkt "zu halten ist". Der Versicherungsträger hat sich aber bei Erlaß des ersten Bescheids bereits seine Auffassung über die Begründetheit des Anspruchs gebildet. Ist dieser erste Bescheid bindend geworden, so ist die Überzeugung des Versicherungsträgers von der Rechtmäßigkeit des früheren Bescheids in der Regel dann nicht offensichtlich fehlerhaft, wenn das Begehren auf "erneute Prüfung" auf keine wesentlich anderen Tatsachen gestützt wird als auf die bereits bei Erlaß des früheren Bescheids gewürdigten Tatsachen (und wenn die Anwendung des materiellen Rechts in dem früheren Bescheid sich nicht - etwa aufgrund späterer Rechtsprechung - als unrichtig erweist). Hieraus ergeben sich aber in derartigen Fällen auch die Anforderungen, die an den Versicherungsträger hinsichtlich der ihm gebotenen "Klarstellung des Sachverhalts" nach § 1613 Abs. 3 (und Abs. 4) RVO iVm § 204 AVG zu stellen sind, und ebenso die Anforderungen für die dem Gericht gebotene Erforschung des Sachverhalts (§ 103 SGG). Der Versicherungsträger darf, wenn von ihm trotz eines bindend gewordenen (ganz oder teilweise) ablehnenden Bescheids eine Neufeststellung begehrt wird, die "Beweiskraft" des für eine Klarstellung in Betracht kommenden Beweismittels würdigen (vgl. hierzu auch Urteil des Bayer. Verwaltungsgerichtshofes vom 17. Dezember 1967, Verw. Rechtsprechung Band 19, 377). Er ist im Verfahren nach § 79 AVG - und nach den entsprechenden Vorschriften der RVO und des RKG - nicht verpflichtet, in gleichem Umfange Ermittlungen anzustellen wie bei der erstmaligen Entscheidung; er ist hier freier gestellt. Dies gilt besonders dann, wenn - wie im vorliegenden Falle - schon schriftliche Erklärungen von Personen vorliegen, die als Zeugen in Betracht kommen. Der Versicherungsträger kann sich jedenfalls dann auf die Würdigung dieser Erklärungen beschränken, wenn von einer Zeugenvernehmung weder eine wesentliche Ergänzung des Inhalts der schriftlichen Erklärungen noch eine wesentliche Verstärkung ihrer Beweiskraft zu erwarten ist. Ob der Versicherungsträger dies zu Unrecht angenommen hat, ist im Zweifelsfall vom Gericht zu prüfen. Ebenso wie der Versicherungsträger hat sich aber auch das Gericht in derartigen Fällen auf die Prüfung zu beschränken, ob einer Zeugenvernehmung - über den Inhalt einer bereits vorliegenden schriftlichen Erklärung hinaus - Bedeutung für die Bildung einer von dem ersten Bescheid abweichenden Auffassung (Überzeugung) des Versicherungsträgers zukommen kann. Wenn es dies - anders als der Versicherungsträgerbejaht, hat es den Zeugen zu vernehmen. Wenn es dies verneint, so verneint es damit, daß der Versicherungsträger sich seine Überzeugung von der Rechtswidrigkeit des ersten Bescheids offensichtlich fehlerhaft gebildet habe; dies reicht für die Rechtmäßigkeit des die Neufeststellung ablehnenden Bescheides des Versicherungsträgers aus. Das Gericht muß in derartigen Fällen das subjektive Element, das in jeder "Überzeugung" enthalten ist, "respektieren", es darf in die Überzeugungsbildung des Versicherungsträgers nicht eingreifen, wenn der vom Versicherungsträger gewürdigte Sachverhalt bzw. die von ihm vertretene Rechtsauffassung seine Überzeugung vertretbar erscheinen lassen.

Im vorliegenden Fall hat die Beklagte den Sachverhalt, auf den es für die Bildung ihrer Überzeugung angekommen ist, auch ohne Vernehmung des ... als Zeugen als ausreichend "klargestellt" ansehen dürfen. Für die Anrechnung der streitigen Zeit als Beitragszeit ist es, da nach den vom LSG beigezogenen Akten der LVA Westfalen die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 Satz 1 der Versicherungsunterlagen-Verordnung vom 3. März 1960 (BGBl I 137) bei dem Kläger vorliegen, darauf angekommen, ob die rechtserheblichen Tatsachen, zu deren Nachweis die Versicherungsunterlagen dienen, glaubhaft gemacht sind. Zu den rechtserheblichen Tatsachen gehören im vorliegenden Falle nicht nur die Tatsachen, die auf ein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis schließen lassen, sondern auch die Tatsachen, die eine Beitragsentrichtung glaubhaft machen. Da in der streitigen Zeit das Markenverfahren gegolten hat (§§ 1428, 1445 RVO aF), sind Pflichtbeiträge nur dann rechtswirksam entrichtet gewesen, wenn die entsprechenden Beitragsmarken ordnungsgemäß in der Quittungskarte (bzw. in den Quittungskarten) verwendet gewesen sind. Die Glaubhaftmachung der Beitragsentrichtung hat daher dann, wenn schon - wie hier - Zweifel an dem Bestehen eines versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses haben bestehen können, auch die Glaubhaftmachung der Zahl der (verlorenen) Quittungskarten und die Zahl und Art der darin verwendeten Beitragsmarken gefordert (Urteil des BSG vom 28. November 1963, SozR Nr. 1 zu § 1 der Versicherungsunterlagen-Verordnung; vgl. auch Urteil des BSG vom 24. November 1965, SozR Nr. 3 aaO). Die Beklagte hat, wie die beigezogenen Rentenakten und die Gerichtsakten erkennen lassen, die Beitragsentrichtung nicht als glaubhaft gemacht angesehen, weil der Kläger im Verfahren über die Erneuerung der Beitragsunterlagen gegenüber der LVA Westfalen erklärt hat, in der streitigen Zeit seien keine Beiträge zur Rentenversicherung entrichtet worden und weil er in dieser Zeit unstreitig auch nicht bei einer gesetzlichen Krankenkasse gegen Krankheit versichert gewesen ist. Der Kläger hat bereits mit der gegen den früheren Bescheid (vom 30. Juni 1964) erhobenen Klage Tatsachen behauptet, die nach seiner Meinung die Beitragsentrichtung glaubhaft machen. Zur Begründung seines Antrags auf Neufeststellung der Rente hat der Kläger sein Vorbringen in dem ersten Streitverfahren wiederholt, er hat sich außerdem auf die "wahrheitsgemäße Erklärung" seines Bruders ... vom 12. April 1965 gestützt. In dieser Erklärung ist - neben den Angaben, die für ein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis sprechen können - zu der Frage der Beitragsentrichtung nur gesagt, daß der Vater des Klägers regelmäßig für sich (Weiterversicherung), für den Kläger und für eine Hausreinigungsfrau Invalidenmarken geklebt habe und daß ... sich an die von ihm dargelegten Verhältnisse noch gut erinnern könne, da er als älterer Sohn und damaliger Arbeitsamtsangestellter seinen Vater oft habe beraten können. Aufgrund ... dieser Erklärung hat die Beklagte eine Vernehmung des ... nicht für erforderlich halten müssen, sie hat auch ohne diese Vernehmung an der ihrem ersten Bescheid und dem Widerspruchsbescheid zugrunde liegenden Auffassung - für die die gleichen Umstände erheblich gewesen sind wie bei der erneuten Prüfung - festhalten dürfen, daß der Erwerb, die ordnungsgemäße Verwendung und die Zahl und Art der entrichteten Beiträge nicht glaubhaft gemacht seien. Die Beklagte hat auch die Gründe dargelegt, warum sie sich von der Unrichtigkeit des ersten Bescheids nicht habe überzeugen können, sie hat die vom Gericht nachprüfbaren objektiven Merkmale, die für ihre - negative - Überzeugung erheblich gewesen sind, in dem angefochtenen Bescheid und dem Widerspruchsbescheid angegeben, es besteht kein Inhalt dafür, daß sie sich - pflichtwidrig - nicht habe überzeugen "wollen".

Diese - negative - Überzeugung der Beklagten hat das LSG nicht als offensichtlich fehlerhaft ansehen dürfen. Es ist nach den Urteilsgründen selbst der Auffassung gewesen, daß sowohl wegen der früheren Angaben des Klägers in dem Verfahren über die Erneuerung der Beitragsunterlagen als auch wegen der Nichtentrichtung von Pflichtbeiträgen zur Krankenversicherung Zweifel an der Entrichtung von Pflichtbeiträgen zur Rentenversicherung offengeblieben seien. Entscheidend dafür, daß die Überzeugungsbildung der Beklagten bei Erlaß des Bescheides vom 14. September 1965 und des Widerspruchsbescheids vom 8. März 1966 trotzdem als offensichtlich fehlerhaft anzusehen sei, ist nach der Auffassung des LSG die "schuldhafte Beweisvereitelung" durch die Beklagte gewesen. Auf diesen Gesichtspunkt kommt es jedoch deshalb nicht an, weil die Auffassung des LSG, daß für die Überzeugungsbildung des Beklagten nach § 79 AVG die Vernehmung des ... unerläßlich gewesen sei, nicht zutrifft.

Aber selbst wenn für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids, wie das LSG meint, die Vernehmung des ... als Zeuge unerläßlich gewesen wäre, aber infolge des Todes des ... im Oktober 1965 undurchführbar geworden ist, so hätte das LSG dies bei der Beurteilung der Frage, ob die Beklagte sich ihre Überzeugung offensichtlich fehlerhaft gebildet habe, nicht zum Nachteil der Beklagten berücksichtigen dürfen. Soweit infolge des Todes des ... ein "Beweisnotstand" für den Kläger eingetreten wäre, wäre jedenfalls nicht das Verhalten der Beklagten für diesen Beweisnotstand ursächlich gewesen. Daß die Beklagte an dem Tod des ... kein Verschulden trifft, bedarf keiner Darlegung. Das Urteil des LSG enthält auch keine Feststellung von Tatsachen, die den Schluß zuließen, daß die Beklagte während der Zeit zwischen dem Antrag des Klägers auf Neufeststellung der Rente und dem Erlaß des angefochtenen Bescheids (also zwischen April und September 1965) mit dem Verlust dieses Beweismittels - d. h. hier mit dem Tode oder auch nur mit der Vernehmungsunfähigkeit des ... hätte rechnen müssen. Die Urteile des BSG vom 28. Juli 1962 - SozR Nr. 60 zu § 128 - und vom 29. September 1965 - BSG 24, 25 (vgl. auch Urteil des BVerwG vom 26. April 1960, BVerwGE 10, 270) betreffen in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht völlig anders gelagerte Sachverhalte. Der Kläger hätte vielmehr in diesem Fall die Folgen der objektiven Unmöglichkeit der Glaubhaftmachung von Tatsachen, die eine von der in dem ersten Bescheid vertretenen Rechtsauffassung abweichende, dem Kläger günstigere Überzeugung der Beklagten rechtfertigen könnten, ebenso zu tragen, wie dies dann der Fall ist, wenn die für die erste Rentenfeststellung erheblichen Tatsachen nicht bewiesen bzw. glaubhaft gemacht werden können.

Das LSG hat sonach in dem angefochtenen Urteil die §§ 79 AVG, 1613 Abs. 3 RVO (iVm § 204 AVG) unrichtig angewandt. Auf die Revision der Beklagten sind die Urteile des LSG und des SG aufzuheben. Der Senat kann in der Sache selbst entscheiden (§ 170 Abs. 2 Satz 1 SGG). Die vom LSG festgestellten Tatsachen lassen nicht den Schluß zu, daß die Überzeugungsbildung der Beklagten, die dem angefochtenen Bescheid vom 14. September 1965 (idF des Widerspruchsbescheids vom 8. März 1966) zugrunde liegt, offensichtlich fehlerhaft gewesen ist. Damit ist dieser Bescheid nicht rechtswidrig. Die Klage ist deshalb abzuweisen.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 707664

BSGE, 173

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