Leitsatz (amtlich)
Ist das Verletztengeld für eine Zeit weggefallen, für die nachträglich die Verletztenrente gewährt worden ist (RVO § 562 Abs 1), so gilt die Leistung des Verletztengeldes in dieser Zeit als Auszahlung der Verletztenrente iS des RVO § 1278 Abs 4.
Normenkette
RVO § 562 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30, § 580 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30, § 1278 Abs. 4 Fassung: 1963-04-30
Tenor
Das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 18. Februar 1969 wird aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Der Kläger erlitt im Januar 1966 einen Arbeitsunfall. Zunächst erhielt er von der Binnenschiffahrts-Berufsgenossenschaft Verletztengeld. Von August 1967 an gewährte diese ihm Vorschüsse auf die Verletztenrente aus der Unfallversicherung. Am 27. Oktober desselben Jahres bewilligte sie die Verletztenrente endgültig, und zwar bis auf den Tag nach dem Unfall zurück. Die als Verletztengeld geleisteten Zahlungen verrechnete sie mit der Rente; diese war für die in Betracht kommenden Bezugszeiten dem Betrage nach höher.
Die beklagte Landesversicherungsanstalt (LVA) stellte mit Bescheid vom 3. April 1968 die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit - beginnend mit dem 1. Dezember 1966 - fest. Im Hinblick auf die für die gleiche Zeit bereits zuerkannte Rente aus der Unfallversicherung zahlte sie die Versichertenrente nur gekürzt aus (§ 1278 der Reichsversicherungsordnung - RVO -).
Dagegen wendet sich der Kläger. Er hält es für nicht gerechtfertigt, daß die Beklagte die als Verletztengeld gewährten Zahlungen nachträglich als Vorschüsse auf die Verletztenrente umgedeutet wissen will.
Das Sozialgericht (SG) hat der Klage stattgegeben. Es hält die Ansicht des Klägers wegen der Vorschrift in § 1278 Abs. 4 RVO für richtig. Es meint, nach dieser dürfe die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit erst nach dem Ende des Monats gekürzt werden, in dem die Verletztenrente zum ersten Mal ausgezahlt worden sei, also von September 1967 an.
Die Beklagte hat Sprungrevision eingelegt. Sie beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen. Ihres Erachtens wird die Entscheidung des SG den Regelungen über das Ineinandergreifen von Verletztengeld und Verletztenrente nicht gerecht.
Der Kläger ist im gegenwärtigen Rechtszuge nicht vertreten.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Die Revision ist begründet. Die zunächst als Verletztengeld gewährten Barleistungen sind für die Anwendung des § 1278 Abs. 1 RVO wie Vorauszahlungen auf die später festgestellte Verletztenrente anzusehen und lösen deshalb das Ruhen eines Teils der Versichertenrente aus.
Da der Beginn der Verletztenrente nachträglich auf den Tag nach dem Arbeitsunfall - im Januar 1966 - zurückverlegt wurde, entfiel im gleichen zeitlichen Ausmaß der Rechtsgrund für das Verletztengeld. Denn dieses endete gemäß § 562 Abs. 1 RVO mit dem Tage, für den erstmalig Verletztenrente gewährt wurde. Somit hatte bei Beginn der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit - 1. Dezember 1966 - der Träger der Unfallversicherung nur noch den Anspruch auf Verletztenrente, aber nicht den Anspruch auf Verletztengeld zu erfüllen. Diese Rechtslage wurde freilich erst durch den Bescheid des Unfallversicherungsträgers vom 27. Oktober 1967 klargestellt. Die Verzögerung in der endgültigen Bestimmung des zutreffenden Leistungsgrundes hinderte aber nicht den Eintritt des Ruhens in der Rentenversicherung. Zwar ist die Rente aus dieser Versicherung unverkürzt bis zum Ende des Monats zu gewähren, in dem die Verletztenrente aus der Unfallversicherung zum ersten Male "ausgezahlt" wird (§ 1278 Abs. 4 RVO). Doch sind die Erfordernisse dieser Vorschrift gegeben.
Dadurch, daß den Geldzuwendungen des Unfallversicherungsträgers die Rechtfertigung als Verletztengeld genommen wurde, war ihnen nicht schlechthin jeder rechtliche Boden entzogen. Eine solche Betrachtungsweise wäre angebracht, wenn die ursprüngliche rechtliche Qualifizierung der tatsächlichen Leistungen isoliert für sich zu sehen wäre. So ist es aber nicht. Die erste rechtliche Basis der Leistungen ist vielmehr mit der Rentenberechtigung ausgewechselt worden. Der Wegfall des einen Leistungsgrundes und die gleichzeitige Entstehung des anderen bedingen einander. Deshalb sind auch die Leistungen, soweit sich die Verletztengeldbeträge mit der Rentenhöhe decken oder hinter dieser zurückbleiben, nicht zu Unrecht gewährt worden. Von einer Rückforderung dieser Verletztengeldbeträge kann sonach keine Rede sein, abgesehen davon, daß die Voraussetzungen einer solchen Rückforderung (§ 628 RVO) nur selten verwirklicht und nachweisbar wären, vor allem, wenn man bedenkt, daß der Leistungsempfänger das Nichtbestehen seines Anspruchs hätte kennen müssen. Das Ergebnis, mit dem sonst zu rechnen wäre, nämlich daß der Empfänger das Erhaltene in der Regel nicht zurückzugeben brauchte und außerdem noch für eine vergangene Zeit eine Rentenforderung erworben hätte, wäre unvernünftig; eine solche Folge ist nicht zu unterstellen. Sie stünde der erklärten Absicht des Gesetzgebers entgegen. Dieser war bemüht, soweit dies die Sachlage gebot, eine ununterbrochene Aufeinanderfolge von Verletztengeld und Verletztenrente sicherzustellen, andererseits aber auch Doppelbezüge zum Ausgleich desselben Schadens und zu demselben Zweck zu vermeiden. Nach seiner Vorstellung dient das Verletztengeld zur Überbrückung kurzfristiger Lohn- und Gehaltsausfälle (§ 560 Abs. 1 Satz 1 RVO; Begründung zum Gesetzentwurf zu § 565 Bundestagsdrucksache IV/120 S. 56). Sofern aber der Lebensstandard infolge Minderung der Erwerbsfähigkeit für dauernd herabgesunken ist, soll der Ausgleich durch die Verletztenrente hergestellt werden. Dieser Zeitpunkt ist gekommen, wenn sich die gesundheitliche Verfassung des Verletzten in gewissem Grade konsolidiert hat. Indessen soll das Ende des akuten Geschehens, also des für die Gewährung des Verletztengeldes maßgebenden Umstands - d. i. die Arbeitsunfähigkeit - nicht abgewartet werden, wenn infolge des Arbeitsunfalls auch die Erwerbsunfähigkeit im Sinne der Rentenversicherung verursacht worden ist. Sobald dieser Zustand erreicht ist - und einige hier nicht interessierende weitere Erfordernisse erfüllt sind -, steht dem Verletzten die Rente aus der Unfallversicherung zu (§ 580 Abs. 1 RVO). Mit dieser Bestimmung hat das Gesetz das Nebeneinander von Verletztenrente und Verletztengeld ausschließen wollen (Bundestagsdrucksache IV/120 S. 58). Daß die Erwerbsunfähigkeit im Sinne des § 1247 Abs. 2 RVO häufig erst einige Zeit nach ihrem Eintritt festgestellt wird, ist zu selbstverständlich, als daß es dem Gesetzgeber nicht bekannt gewesen sein könnte. Daß er dieses Faktum berücksichtigt hat, läßt die Formulierung des § 562 Abs. 1 RVO erkennen. Dort heißt es, daß das Verletztengeld mit dem Tage wegfällt, "für" den "erstmalig" Verletztenrente gewährt wird. Verständigerweise kann aus dieser Fassung entnommen werden, daß an eine Rückwirkung der Gesetzesfolge gedacht ist; dies wiederum schließt den Gedanken an einen Austausch der Verpflichtungsgründe für die bis dahin bewirkten Leistungen mit ein. Das, was der einzelne zum Zwecke der Befriedigung einer rückwirkend weggefallenen Forderung erhalten hat, muß er sich, soweit es in der Höhe nicht darüber hinausreicht, als Erfüllung einer anderen auf dieselbe Zeit zurückgreifenden Berechtigung anrechnen lassen. Damit wird dem Gesetz im Wege der Auslegung die Anrechnungsbefugnis entnommen, die in § 557 a RVO in der bis zum Inkrafttreten des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes geltenden Fassung für das Verhältnis der Leistungen der Krankenversicherung zu denen der Unfallversicherung ausgesprochen war.
Ist hiernach davon auszugehen, daß die - anfänglich als Verletztengeld deklarierten - Zahlungen ohne weiteres kraft Gesetzes auf den Anspruch auf Verletztenrente anzurechnen sind, dann bestehen keine Bedenken, diejenigen Grundsätze anzuwenden, die in bezug auf das Ruhen der Rente aus der Rentenversicherung im Zusammenhang mit der Gewährung von Vorschüssen auf die Verletztenrente entwickelt worden sind (BSG 22, 233; SozR Nr. 3 zu RKG § 75; Nr. 13 zu RVO § 1278). Freilich bedeutet die Anrechenbarkeit der einen Leistung auf die andere nicht schon ohne weiteres, daß die Verletztenrente auch als zur vorangegangenen Zeit "ausgezahlt" zu behandeln ist. Dies ist aber bei einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise die vernünftige und sachgerechte Lösung. Der Tatbestand des § 1278 Abs. 4 RVO ist erfüllt, weil die Rente aus der Rentenversicherung nicht nur mit einem Anspruch gegen die Unfallversicherung, sondern mit einer effektiven Leistung aus dieser Versicherung zusammengetroffen ist und zwar einer Leistung, die im Hinblick auf die Verletztenrente bewirkt worden ist. Deshalb hat ein Teil der Versichertenrente vom Beginn dieser Leistung an zu ruhen.
Das mit dieser Auffassung nicht übereinstimmende Urteil des erstinstanzlichen Gerichts ist aufzuheben und der angefochtene Bescheid der Beklagten wiederherzustellen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen