Orientierungssatz
Geschiedenenwitwenrente, Unterhaltsbedürftigkeit und sozialhilferechtlicher Mindestbedarf.
Normenkette
RVO § 1265 S. 1 Alt. 1 Fassung: 1957-02-23; EheG § 58 Fassung: 1946-02-20
Verfahrensgang
Hessisches LSG (Entscheidung vom 11.12.1973; Aktenzeichen L - 2/J - 1010/72) |
SG Frankfurt am Main (Entscheidung vom 25.09.1972; Aktenzeichen S - 15/J - 150/71) |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin werden die Urteile des Hessischen Landessozialgerichts vom 11. Dezember 1973 und des Sozialgerichts Frankfurt (Main) vom 25. September 1972 sowie der Bescheid der Beklagten vom 12. Oktober 1970 aufgehoben.
Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin einen Bescheid über die Gewährung von Hinterbliebenenrente aus der Versicherung ihres geschiedenen früheren Ehemannes Ernst W unter Berücksichtigung des Anspruchs der Beigeladenen auf Witwenrente zu erteilen.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten der drei Rechtszüge zu erstatten.
Im übrigen haben die Beteiligten keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Tatbestand
Es ist umstritten, ob die Klägerin einen Anspruch auf Hinterbliebenenrente aus der Versicherung ihres geschiedenen Ehemannes W. hat (§ 1265 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung - RVO -).
Der Versicherte ist im Mai 1970 gestorben. Die Ehe mit der Klägerin wurde im Juli 1950 aus Verschulden des Versicherten geschieden. Zu der Zeit waren zwei Söhne, geboren 1934 und 1940, vorhanden. Der Versicherte schloß im Dezember 1950 die Ehe mit der Beigeladenen.
Zur Zeit der Scheidung hatte der Versicherte ein monatliches Arbeitseinkommen von ca. 350 DM; die Klägerin erhielt Fürsorgeunterstützung. Der Versicherte bezog im letzten Jahr vor seinem Tod ein Altersruhegeld und Zusatzrenten des Baugewerbes, die 1969 585 DM und 55 DM, 1970 635 DM und 95 DM betrugen; außerdem war die Miete des Versicherten wegen seiner Hilfeleistungen für seine Vermieterin um 50 DM monatlich ermäßigt.
Die Klägerin bezog ein Altersruhegeld von monatlich 150 DM im Jahre 1969; es betrug 1970 monatlich 153 DM.
Die zweite Ehefrau des Versicherten, die Beigeladene, hatte kein Einkommen. Sie erhält jetzt Witwenrente von der Beklagten.
Der Versicherte zahlte der Klägerin aufgrund eines 1956 in einem Unterhaltsprozeß geschlossenen Vergleichs im letzten Jahr vor seinem Tod monatlich 45 DM.
Die Beklagte lehnte die Gewährung von Hinterbliebenenrente ab (Bescheid vom 12. 10. 1970). Klage und Berufung der Klägerin blieben ohne Erfolg (Urteil des Sozialgerichts - SG - Frankfurt/Main vom 25. 9. 1972, Urteil des Hessischen Landessozialgerichts - LSG - vom 11. 12. 1973); die Revision wurde zugelassen.
Das LSG hat die drei Alternativen des § 1265 Satz 1 RVO, ob der Versicherte der Klägerin zur Zeit seines Todes Unterhalt nach den Vorschriften des Ehegesetzes (EheG) zu gewähren hatte, ob er Unterhalt aus sonstigen Gründen zu leisten hatte und ob er im letzten Jahr vor seinem Tod tatsächlich Unterhalt geleistet hat, geprüft.
Das LSG hat das Vorliegen der dritten Alternative verneint: Die Zahlung von 45 DM monatlich stelle nicht die Gewährung von Unterhalt dar, weil sie nicht wenigstens ein Viertel des notwendigen Mindestbedarfs der Klägerin erreiche; dieser errechne sich nach dem bis Juni 1970 geltenden Sozialhilferichtsatz einschließlich Alterszuschlag, Beihilfe für Hausbrand und Kleidung sowie Mietkosten auf 253,80 DM.
Bei der Prüfung der ersten Alternative hat das LSG zwar die Unterhaltsfähigkeit des Versicherten zur Zeit seines Todes aufgrund seiner Einkünfte bejaht. Es hat aber die Unterhaltsbedürftigkeit der Klägerin verneint, weil diese zur Zeit des Todes des Versicherten ihren angemessenen Unterhalt aus dem eigenen Altersruhegeld habe bestreiten können. Es hat als angemessenen Unterhalt der Klägerin, ausgehend vom Nettoeinkommen des Versicherten zur Zeit der Scheidung von 350 DM, einen Anteil von 87,50 DM errechnet. Diesen "angemessenen Unterhalt" hat es auf die Lebenshaltungskosten zur Zeit des Todes des Versicherten projiziert und als angemessenen Unterhalt der Klägerin im Jahre 1970 einen Betrag von 133 DM angenommen: Die Klägerin habe diesen, ihren angemessenen Unterhalt, zur Zeit des Todes des Versicherten mit ihrem Altersruhegeld selbst bestreiten können. Daß der "angemessene Unterhalt" niedriger als der notwendige, das heißt als der sozialhilferechtliche Mindestbedarf sei, ergebe sich aus § 58 EheG, wonach die Lebensverhältnisse der Ehegatten zur Zeit der Scheidung maßgebend seien. Der so zu bemessene angemessene Unterhalt liege häufig unter den sozialhilferechtlichen Mindestsätzen. Den Entscheidungen des Bundessozialgerichts (BSG) in SozR Nrn. 64 und 66 zu § 1265 RVO und vom 26. September 1972 - 11 RA 164/71 - könne nicht entnommen werden, daß der auf den Zeitpunkt des Todes des Versicherten bezogene "angemessene" Unterhalt den Mindestbedarf des Unterhaltsberechtigten im Sinne des Sozialhilferechts nicht unterschreiten dürfe; §§ 58, 59 EheG ließen eine derartige Begrenzung der Höhe des angemessenen Unterhalts nach unten nicht erkennen.
Zur zweiten Alternative hat das LSG im Hinblick auf den Prozeßvergleich ausgeführt, eine Abänderungsklage nach § 323 Abs. 4 Zivilprozeßordnung (ZPO) hätte trotz der gebesserten Einkommenslage des Versicherten keinen Erfolg gehabt, weil auch im Rahmen des § 323 ZPO hätte berücksichtigt werden müssen, daß die Klägerin ihren angemessenen Unterhalt aus der eigenen Rente habe bestreiten können.
Die Klägerin hat Revision eingelegt und beantragt (sinngemäß), die Urteile des LSG und des SG sowie den Bescheid der Beklagten aufzuheben und diese zur Gewährung von Hinterbliebenenrente gemäß §§ 1265, 1268 RVO zu verurteilen.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Die Revision ist u.a. der Auffassung, das LSG habe zu Unrecht den angemessenen Unterhalt der Klägerin mit nur 133 DM angesetzt und angenommen, er sei durch ihre eigene Rente gedeckt. Der Unterhaltsanspruch der Klägerin und der des Versicherten seien gleich hoch gewesen, vorausgesetzt, daß dem Versicherten der notwendige Mindestbedarf verbleibe. Selbst wenn der Klägerin ein etwas geringerer Betrag zugestanden habe als dem Versicherten, sei ihr nach Abzug ihrer eigenen Rente von 153 DM noch ein restlicher Unterhaltsanspruch verblieben.
Die Beklagte meint zur Revision im wesentlichen, bei der ersten Alternative gehe die Revision bei der Errechnung des angemessenen Unterhalts der Klägerin zu Unrecht von den Einkommensverhältnissen des Versicherten zur Zeit seines Todes aus statt von denen zur Zeit der Scheidung. Danach könne mit Rücksicht auf die zu dieser Zeit noch unterhaltsberechtigten zwei Kinder der Klägerin nur ein Unterhaltsanteil von einem Viertel des damaligen Einkommens des Versicherten, d.i. 87,50 DM zugebilligt werden. Dieser Betrag sei für die Zeit des Todes des Versicherten auf 133 DM anzuheben. Diesen angemessenen Unterhalt habe die Klägerin aus ihrer Rente bestreiten können.
Die beigeladene Witwe des Versicherten ist nicht vertreten.
Alle Beteiligten sind mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).
Entscheidungsgründe
Die Revision ist zulässig und begründet.
Nach der 1. Alternative des § 1265 Satz 1 RVO kann die frühere Ehefrau Hinterbliebenenrente beanspruchen, wenn der Versicherte ihr zur Zeit seines Todes Unterhalt nach den Vorschriften des EheG zu leisten hatte; nach § 58 Abs. 1 EheG hat der für schuldig erklärte Ehegatte dem anderen Ehegatten den nach den Lebensverhältnissen der Ehegatten angemessenen Unterhalt zu gewähren, soweit die Einkünfte aus dem Vermögen des anderen Ehegatten und die Erträgnisse einer Erwerbstätigkeit nicht ausreichen.
Der 4. und der 11. Senat des BSG haben bei der Anwendung der 1. Alternative des § 1265 Satz 1 RVO ausgeführt, daß der angemessene Unterhalt, den der für schuldig erklärte Mann der geschiedenen Frau zu gewähren hat, den lebensnotwendigen Mindestbedarf der Frau umfasse (Urteil vom 10. 8. 1972 - 4 RJ 439/71; SozR Nr. 64 zu § 1265 RVO; Urteil vom 26. 9. 1972 - 11 RA 164/71). Gegen diese Auffassung bestehen unter Berücksichtigung der Auslegung des Begriffs "Unterhalt" bei Anwendung des § 1265 Satz 1 RVO, wonach Zahlungen des Versicherten nur dann als geleisteter "Unterhalt" anzusehen sind, wenn sie ein Viertel des notwendigen Mindestbedarfs des geschiedenen Ehegatten erreichen, im vorliegenden Fall keine Bedenken. Das LSG hat diese Entscheidungen des 4. und 11. Senats zwar zitiert. Sie führen aber nicht zu dem von ihm gewonnenen Ergebnis.
Zu Unrecht hat das LSG die Klägerin für nicht unterhaltsbedürftig erachtet, weil es als Unterhaltsbedarf nur den Betrag des von ihm auf die Zeit des Todes des Versicherten projizierten Unterhaltsanspruchs der Klägerin von 133 DM und nicht deren zu dieser Zeit bestehenden sozialhilferechtlichen lebensnotwendigen Mindestbedarf von 253,80 DM angesetzt hat. Die Klägerin war unterhaltsbedürftig, weil ihre Rente von 153 DM diesen Sozialhilfesatz nicht erreichte. Es fehlten ihr rd. 100 DM zur Deckung ihres Mindestbedarfs. Dieser Betrag wird von dem vom LSG auf die Zeit des Todes des Versicherten projizierten Unterhaltsanspruch der Klägerin gegen den Versicherten von 133 DM umfaßt. Trotz ihrer eigenen Rente hatte die Klägerin somit einen Unterhaltsanspruch gegen den Versicherten zur Zeit seines Todes in Höhe von rd. 100 DM. Dieser Betrag ist nicht geringfügig, denn er überschreitet ein Viertel des notwendigen Mindestbedarfs der Klägerin.
Der Versicherte war nach den nicht angefochtenen Feststellungen des LSG fähig, Unterhalt in Höhe von 100 DM monatlich zu leisten. Er hätte bei seinem Einkommen von insgesamt 780 DM zur Zeit seines Todes der Klägerin den Unterschiedsbetrag zwischen ihrem Mindestbedarf von 253,80 DM und ihrer Rente von 153 DM - rund 100 DM monatlich - gewähren können, ohne seinen und seiner Ehefrau Unterhalt zu gefährden (§ 59 EheG). Bei der Prüfung der Unterhaltsfähigkeit muß dem geschiedenen Ehemann das für seinen notwendigen Lebensunterhalt Erforderliche verbleiben (SozR Nr. 15 zu § 1265 RVO). Dabei ist auch seine Unterhaltspflicht gegenüber seiner zweiten Ehefrau zu berücksichtigen (§ 59 FheG). Diese lebensnotwendigen Bedürfnisse des Versicherten zur Zeit seines Todes wurden durch eine Unterhaltsverpflichtung gegenüber der Klägerin von monatlich 100 DM nach den Feststellungen des LSG über die sozialhilferechtlichen Unterhaltsbedarfssätze im Jahre 1970 nicht beeinträchtigt.
Bei dieser Rechtslage kommt es auf die zweite und dritte Alternative des § 1265 Satz 1 RVO nicht mehr an.
Die Entscheidungen der Vorinstanzen und der angefochtene Bescheid sind daher aufzuheben. Die Beklagte hat der Klägerin einen neuen Bescheid über die Gewährung von Hinterbliebenenrente gemäß § 1265 Satz 1 RVO unter Berücksichtigung des Anspruchs der beigeladenen Witwe gemäß § 1268 Abs. 4 RVO zu erteilen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen