Leitsatz (redaktionell)

Verfahrensmangel - fehlender Hinweis auf SGG § 110 S 2 in der Terminsmitteilung:

Die Verfahrensbeteiligten sind vor jedem neuen Termin, auch wenn dieser in Fortsetzung der früheren Sitzung lediglich einer Beweisaufnahme dienen soll, auf die durch SGG § 110 S 2 gegebene Möglichkeit einer Entscheidung nach Aktenlage für den Fall ihres Ausbleibens hinzuweisen; geschieht das nicht und wird gleichwohl bei Ausbleiben eines Beteiligten entschieden, so leidet das Verfahren an einem wesentlichen Mangel, der den nicht erschienenen Beteiligten zur Erhebung der Verfahrensrüge nach SGG § 162 Abs 1 Nr 2 berechtigt.

 

Normenkette

SGG § 110 S. 2 Fassung: 1958-06-25, § 162 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03, § 126 Fassung: 1958-06-25, § 127 Fassung: 1953-09-03, § 128 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 26. November 1971 wird aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Die Klägerin ist die Witwe des 1953 im Alter von 47 Jahren an einem Hirnschlag bei Hochdruck- und Herzleiden verstorbenen Franz R (R.). Sie beantragte im November 1965 Witwenversorgung nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) und gab an: Ihr Ehemann habe sich beim Arbeitseinsatz 1943/44 eine "schwere giftige Mandelentzündung" zugezogen und sei nach kurzem Krankenhausaufenthalt erneut zum Arbeitsdienst gezwungen worden. Die Krankheit habe sich durch die schwere Arbeit erheblich verschlechtert und schließlich nach mehrfachen späteren Krankenhausaufenthalten zum Tode geführt. Das Versorgungsamt lehnte den Antrag der Klägerin mit Bescheid vom 26. Oktober 1967 ab. Der Widerspruch blieb ohne Erfolg. Die Klage wies das Sozialgericht (SG) Trier ab (Urteil vom 22. April 1969).

Die Klägerin legte Berufung ein. Das Landessozialgericht (LSG) ließ durch den ärztlichen Sachverständigen Dr. K ein Gutachten nach Aktenlage zu der Frage erstatten, ob es wahrscheinlich sei, daß R. an Schädigungsfolgen verstorben sei; das Gutachten wurde am 23. August 1971 erstattet und den Beteiligten bekanntgegeben. Sodann teilte das LSG unter Hinweis auf § 126 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) den Beteiligten den auf 12. November 1971 anberaumten Termin zur mündlichen Verhandlung mit. Im Verhandlungstermin waren die Beteiligten anwesend. Nach Anhörung der Klägerin und Vernehmung zweier Zeugen verkündete der Vorsitzende folgenden in geheimer Beratung gefaßten Beschluß:

I.

Der Sachverständige Dr. Dieter K ... soll zur Ergänzung seines Gutachtens vom 23. August 1971 unter Berücksichtigung der heutigen Beweisaufnahme vernommen werden.

II.

Termin zur mündlichen Verhandlung und Fortsetzung der Beweisaufnahme:

26. November 1971, 11 30 Uhr.

Am 19. November 1971 teilte das LSG den Beteiligten mit, eine weitere Zeugin sei zum Verhandlungstermin geladen worden. Sie erhielten außerdem je eine Ausfertigung der Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 12. November 1971. Zum Verhandlungstermin am 26. November 1971 erschien die Klägerin nicht, sie war auch nicht vertreten. Nach Vernehmung der Zeugin hörte das LSG den Sachverständigen Dr. K und hielt in der Niederschrift fest, die Klägerin habe "nach dem Inhalt der Akten" ihren Antrag aus dem Termin vom 12. November 1971 wiederholt. Sodann wurde das Urteil verkündet, durch das die Berufung der Klägerin zurückgewiesen wurde. Das LSG hat die Revision nicht zugelassen.

Gegen dieses Urteil hat sich die Klägerin mit Schreiben vom 26. Januar 1972 gewandt und unter Vorlage eines Zeugnisses über ihre Vermögensverhältnisse die Bewilligung des Armenrechts beantragt. Der Senat hat der Klägerin das Armenrecht bewilligt. Die Klägerin hat durch den ihr beigeordneten Rechtsanwalt innerhalb eines Monats nach Zustellung des Armenrechtsbeschlusses Revision eingelegt, die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt und die Revision innerhalb eines weiteren Monats begründet.

Die Klägerin rügt die Verletzung der §§ 110 Satz 2, 126, 128 Abs. 2 SGG: Das LSG hätte sie darauf hinweisen müssen, daß auch im Falle ihres Ausbleibens im Termin vom 26. November 1971 nach Aktenlage entschieden werden könne. Der Umstand, daß dieser Termin im Termin vom 12. November 1971 verkündet worden sei, ändere hieran nichts. Auch der Hinweis in der Ladung vom 12. November 1971 reiche nicht aus. § 110 Satz 2 SGG schreibe für jeden Fall der Mitteilung von Ort und Zeit der mündlichen Verhandlung den Hinweis vor, daß auch im Falle der Abwesenheit entschieden werden könne. Das Urteil des LSG stütze sich auf zwei erst in der letzten mündlichen Verhandlung durch Dr. K erörterte Gesichtspunkte, zu denen sich die Klägerin nicht habe äußern können. Selbst wenn die Klägerin mit dem Hinweis in § 110 Satz 2 SGG geladen worden wäre, hätte das LSG nach § 128 Abs. 2 SGG die Aussage des Sachverständigen Dr. K nicht verwerten dürfen. Es sei auch nicht auszuschließen, daß das LSG anders entschieden hätte, wenn es die Verfahrensmängel vermieden hätte. Insbesondere hätte die Klägerin bei Anwesenheit im Termin darauf hinweisen können, daß die mündliche Aussage des Dr. K von seinem schriftlichen Gutachten in wesentlichen Punkten abweiche, sie hätte deshalb auch einen Antrag nach § 109 SGG stellen können.

Die Klägerin beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

Der Beklagte stellt keinen Antrag. Er trägt vor, das Fehlen des Hinweises nach § 110 Satz 2 SGG sei jedenfalls kein "wesentlicher" Verfahrensmangel, weil das LSG am 26. November 1971 nicht nach Lage der Akten (§ 126 SGG), sondern aufgrund mündlicher Verhandlung entschieden habe; dagegen sei die Rüge begründet, daß der Klägerin das Ergebnis der Beweisaufnahme vom 26. November 1971 nicht zur Kenntnis gebracht und ihr damit das rechtliche Gehör versagt worden sei.

Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einem Urteil ohne mündliche Verhandlung erklärt.

II

Die Revision der Klägerin ist statthaft, weil jedenfalls eine der geltend gemachten Verfahrensrügen durchgreift (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG; BSG 1, 150). Sie ist auch insoweit begründet, als der Rechtsstreit unter Aufhebung des angefochtenen Urteils an das LSG zurückzuverweisen ist.

Zutreffend rügt die Klägerin, das LSG habe deshalb gegen § 110 Satz 2 SGG verstoßen, weil es sie nicht darauf hingewiesen habe, daß im Falle ihres Ausbleibens in dem auf 26. November 1971 anberaumten Termin nach Lage der Akten entschieden werden könne. Es trifft zwar zu, daß das LSG am 26. November 1971 nicht "nach Lage der Akten" (§ 126 SGG) entschieden hat; es hat vielmehr - wenn auch "einseitig" - mündlich verhandelt und sein Urteil auf Grund dieser Verhandlung verkündet. Hieran hat sich nichts dadurch geändert, daß es den Antrag der im Termin nicht erschienenen und nicht vertretenen Klägerin dem "Inhalt der Akten" entnommen hat; es hätte ohnehin in diesem Termin nur dann "nach Lage der Akten" entscheiden dürfen, wenn der im Termin vertretene Beklagte dies beantragt hätte, was nach der Niederschrift nicht geschehen ist. Ein Verstoß gegen § 110 Satz 2 SGG liegt aber auch dann vor und ist auch dann ein "wesentlicher" Verfahrensmangel, wenn das LSG nicht nach Lage der Akten entscheidet. Der Hinweis ist gerade deshalb in § 110 Satz 2 SGG zwingend vorgeschrieben, weil vor der Entscheidung des Gerichts nicht auszuschließen ist, daß das Gericht bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 126 SGG von der Möglichkeit der Entscheidung nach Lage der Akten Gebrauch machen werde und der nicht erschienene Beteiligte dadurch möglicherweise Nachteile erleidet.

Im vorliegenden Fall hat das LSG unstreitig die Klägerin vor dem Termin am 26. November 1971 nicht schriftlich darauf hingewiesen, daß im Falle ihres Ausbleibens in diesem Termin nach Lage der Akten entschieden werden könne; der Hinweis ist auch nicht in dem am 12. November 1971 in der damaligen mündlichen Verhandlung verkündeten Beschluß über die Anberaumung eines neuen Termins auf den 26. November 1971 enthalten. Der Hinweis auf § 110 Satz 2 SGG vor dem Termin vom 12. November 1971 hat nicht etwa deshalb auch für den Termin vom 26. November 1971 gegenüber der Klägerin gewirkt, weil es sich bei dem zweiten Termin um eine Fortsetzung der mündlichen Verhandlung und eine weitere Beweisaufnahme gehandelt hat. Ebenso wie die Beteiligten von jeder Terminbestimmung zu benachrichtigen sind - in der Regel durch Zustellung (§ 63 Abs. 1 SGG), im Falle der Verkündung des neuen Termins in Anwesenheit der Beteiligten möglicherweise auch nur durch Übersendung einer Abschrift der Sitzungsniederschrift -, müssen sie auch vor jedem Termin auf die Möglichkeit einer Entscheidung nach Lage der Akten im Falle ihres Ausbleibens hingewiesen werden. Die Notwendigkeit dieses jeweiligen Hinweises wird durch die §§ 127, 128 Abs. 2 SGG bestätigt; ist nämlich - wie hier - der in einem früheren Termin anwesende Beteiligte durch Verkündung eines Beweisbeschlusses und Mitteilung der Niederschrift über die mündliche Verhandlung davon benachrichtigt worden, daß in der nächsten Verhandlung eine Beweisaufnahme stattfinde, so könnte in diesem Termin nach § 127 SGG ein ihm ungünstiges Urteil auch dann erlassen werden, wenn er in der nächsten Verhandlung nicht erschienen oder nicht vertreten ist. Auch § 128 Abs. 2 SGG wäre nicht schon deshalb verletzt, weil bei ordnungsgemäßer Benachrichtigung vom Termin und der in diesem Termin stattfindenden Beweisaufnahme ein Beteiligter nicht zugegen und nicht vertreten gewesen ist, trotzdem aber eine Beweisaufnahme stattgefunden hat; dies würde nicht ausschließen, daß er sich auf Grund der ordnungsgemäßen Benachrichtigung von der Beweisaufnahme zu dem Beweisergebnis hätte äußern "können"; ob nicht trotzdem in einem derartigen Fall die Beachtung des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG) vorrangig wäre (vgl. Urteil des BSG vom 13. Januar 1966, SozR Nr. 6 zu § 124 SGG), kann hier für die Frage der Statthaftigkeit der Revision dahingestellt bleiben. Die Folgen der Nichtanwesenheit oder der fehlenden Vertretung für einen Beteiligten können jedenfalls gerade bei rechtsunkundigen Beteiligten so weittragend sein, daß es vor jedem Termin des Hinweises nach § 110 Satz 2 SGG bedarf.

Die sonach statthafte Revision ist auch begründet. Es ist nicht auszuschließen, daß die Klägerin, falls das LSG den Hinweis nach § 110 Satz 2 SGG erteilt hätte, in dem Termin am 26. November 1971 erschienen wäre oder sich hätte vertreten lassen, daß sie sich zu dem Ergebnis der Beweisaufnahme geäußert hätte und das LSG nicht zu einer Zurückweisung der Berufung gekommen wäre. Das Urteil des LSG ist daher aufzuheben, die Sache ist zu neuer Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Die Entscheidung über die Kosten, auch des Revisionsverfahrens, bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1658881

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