Entscheidungsstichwort (Thema)
Versicherungsrechtliche Beurteilung von Praktikanten für den Beruf des Sozialarbeiters
Leitsatz (amtlich)
Ein Sozialarbeiter ist nach bestandener Abschlußprüfung während eines Berufspraktikums, das wesentliche Voraussetzung für die staatliche Anerkennung ist, in der Angestelltenversicherung versicherungspflichtig (AVG § 2 Abs 1 Nr 1 = RVO § 1227 Abs 1 S 1 Nr 1) und nicht nach AVG § 4 Abs 1 Nr 4 (= RVO § 1228 Abs 1 Nr 3) versicherungsfrei.
Leitsatz (redaktionell)
Das von Praktikanten für den Beruf des Sozialarbeiters nach dem Besuch der Fachhochschule und der sich daran anschließenden staatlichen Prüfung abzuleistende 1jährige Berufspraktikum kann nicht mehr als Teil der schulischen Ausbildung gewertet werden; die Praktikanten unterliegen deshalb während dieser Zeit der Rentenversicherungspflicht und vom 1.1.1975 an auch der Versicherungspflicht in der Kranken- und Arbeitslosenversicherung.
Normenkette
AVG § 2 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23, § 4 Abs. 1 Nr. 4 Fassung: 1957-02-23, § 121 Abs. 3 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1227 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23, § 1228 Abs. 1 Nr. 3 Fassung: 1957-02-23, § 1399 Abs. 3 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 6. Juni 1974 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger nach bestandener Abschlußprüfung für Sozialarbeiter während eines einjährigen Berufspraktikums vom 1. März 1971 bis 29. Februar 1972 in der Angestelltenversicherung versicherungsfrei nach § 4 Abs. 1 Nr. 4 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) war.
Der Kläger besuchte vom 23. April 1968 bis 18. Februar 1971 die Höhere Fachschule für Sozialarbeit der Stadt Nürnberg. Am 17./18. Februar 1971 bestand er die staatliche Abschlußprüfung für Sozialarbeiter. Danach leistete er aufgrund des Ausbildungsvertrags vom 9. Februar 1971 in der Zeit vom 1. März 1971 bis 29. Februar 1972 bei einem monatlichen Bruttoentgelt von 983,- DM das einjährige Berufspraktikum bei der Nordbayerischen Berufsschule für Gehörlose in N, deren Träger der Beigeladene zu 2) ist. Die Beklagte forderte den Beigeladenen zu 2), der den Kläger bei der Beklagten zum 1. März 1971 als Praktikant angemeldet hatte, mit Schreiben vom 9. Juni 1971 auf, für den nach ihrer Auffassung nach § 2 Nr. 1 AVG versicherungspflichtigen Kläger als Berufspraktikant Beiträge zur Rentenversicherung der Angestellten (Beitragsgruppe L) abzuführen; in der Kranken- und Arbeitslosenversicherung sei er während des Berufspraktikums aufgrund des Urteils des Bundessozialgerichts (BSG) vom 20. Januar 1970 - 3 RK 18/67 - (BSGE 30, 248 = SozR Nr. 12 zu § 172 RVO = BB 1970, 1179 mit Anm.) versicherungsfrei.
Gegen dieses Schreiben legte der Kläger mit Schreiben vom 13. August 1971, das bei der Beklagten am 16. August 1971 einging, Widerspruch ein. Er hielt sich für versicherungsfrei. Daraufhin erläuterte die Beklagte dem Kläger mit Schreiben vom 19. August 1971 ihre Rechtsauffassung zur Versicherungspflicht des Klägers in der Angestelltenversicherung. Am Schluß dieses Schreibens heißt es:
"Wir bitten, unsere Ausführungen zur Kenntnis zu nehmen und uns anschließend mitzuteilen, ob Sie bei der gegebenen eindeutigen Sach- und Rechtslage Ihren Widerspruch aufrechterhalten. Eine Durchschrift dieses Schreibens haben wir der Regierung von M als Ihren Arbeitgeber zur Kenntnisnahme überlassen."
Das Schreiben ist weder als Bescheid bezeichnet noch enthält es eine Rechtsmittelbelehrung.
Der Kläger teilte der Beklagten mit Schreiben vom 16. September 1971 (als Antwort auf deren Schreiben vom 19. August 1971) mit, er nehme seinen Widerspruch nicht zurück. Die Widerspruchsstelle der Beklagten wies den Widerspruch des Klägers zurück (Widerspruchsbescheid vom 19. November 1971).
Das Sozialgericht (SG) Nürnberg hob den Bescheid der Beklagten vom 9. Juni 1971 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19. November 1971 auf und stellte fest, daß das Praktikum des Klägers in der Zeit vom 1. März 1971 bis 29. Februar 1972 nicht der Angestelltenversicherungspflicht unterlag (Urteil vom 28. November 1972). Auf die Berufung der Beklagten und der Beigeladenen zu 1) hat das Bayerische Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Es hat die Revision zugelassen (Urteil vom 6. Juni 1974). Gegen dieses Urteil hat der Kläger Revision eingelegt. Er rügt eine Verletzung des § 4 Abs. 1 Nr. 4 AVG.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Bayerischen LSG vom 6. Juni 1974 aufzuheben und die Berufung der Beklagten und der Beigeladenen zu 1) gegen das Urteil des SG Nürnberg vom 28. November 1972 zurückzuweisen.
Die Beklagte und die Beigeladene zu 1) beantragen,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Der Beigeladene zu 2) stellt keinen Antrag.
Die Beteiligten sind damit einverstanden, daß der Senat durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist zurückzuweisen.
Die beiden Vorinstanzen haben - allerdings unzutreffend - als streitigen Bescheid das an die Nordbayerische Berufsschule für Gehörlose in N gerichtete Schreiben der Beklagten vom 9. Juni 1971 angesehen. Dieses Schreiben scheidet indes als Ausgang des Streits der Beteiligten aus. Es ist nämlich nicht an den Kläger gerichtet, mag er auch davon Kenntnis erhalten haben, wie aus dem dagegen von ihm eingelegten "Widerspruch" hervorgeht. Als streitiger Bescheid kann allein das erläuternde Schreiben der Beklagten an den Kläger vom 19. August 1971 in Betracht kommen. Unschädlich ist dabei, daß es nicht als Bescheid bezeichnet ist und keine Rechtsmittelbelehrung enthält. Sachlich ist in dem Schreiben der Beklagten vom 19. August 1971 über die Versicherungspflicht des Klägers in der Angestelltenversicherung entschieden worden (§ 121 Abs. 3 AVG). Da der Kläger in seinem Schreiben vom 16. September 1971 zum Ausdruck gebracht hat, daß er mit der Auffassung der Beklagten nicht einverstanden war ("Ich nehme meinen Widerspruch nicht zurück"), ist dieses Schreiben in einen - auch rechtzeitigen - Widerspruch gegen den Bescheid vom 19. August 1971 umzudeuten. Die Widerspruchsstelle hat zwar formell den Widerspruch vom 13. August 1971 zurückgewiesen, weil sie irrig davon ausgegangen ist, daß das Schreiben der Beklagten vom 9. Juni 1971 bereits der maßgebende an den Kläger gerichtete Bescheid war. Das ist indes unschädlich, weil jedenfalls im Widerspruchsbescheid vom 19. November 1971 das Begehren des Klägers abgelehnt worden ist. Im Ergebnis durften daher die Vordergerichte von diesem Widerspruchsbescheid ausgehen.
In der Sache hat das LSG mit Recht festgestellt (§ 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG), daß der Kläger während seines Praktikums vom 1. März 1971 bis 29. Februar 1972 in der Rentenversicherung der Angestellten nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 AVG versicherungspflichtig war und die Beklagte daher zutreffend über die Versicherungspflicht des Klägers in der Angestelltenversicherung entschieden hat (§ 121 Abs. 3 AVG). In der Rentenversicherung der Angestellten werden ua alle Personen versichert, "die als Angestellte (§ 3) gegen Entgelt (§ 160 der Reichsversicherungsordnung) oder die als Lehrlinge oder sonst zu ihrer Ausbildung für den Beruf eines Angestellten beschäftigt sind" (§ 2 Abs. 1 Nr. 1 AVG). Das Berufspraktikum des Klägers bei der Nordbayerischen Berufsschule für Gehörlose war Ausbildung für den Beruf eines Angestellten nach dieser Vorschrift. Nach §§ 2 und 25 der für den Fall des Klägers maßgeblichen Schul- und Prüfungsordnung für die öffentlichen und die staatlich anerkannten privaten Höheren Fachschulen für Sozialarbeit vom 1. Juni 1963 (Bayer. GVBl Nr. 11 - 1963, S. 126) i. d. F. der Verordnung zur Änderung der Schul- und Prüfungsordnung für die öffentlichen und die staatlich anerkannten privaten Höheren Fachschulen für Sozialarbeit vom 25. Juli 1968 (aaO, Nr. 16/1968, S. 300) - im folgenden: Schul- und Prüfungsordnung genannt - hatte der Kläger im Anschluß an die bestandene staatliche Prüfung für Sozialarbeiter ein einjähriges Berufspraktikum abzuleisten. Mit der staatlichen Prüfung war die dreijährige Schulausbildung an einer Höheren Fachschule für Sozialarbeit abgeschlossen (§ 2 Abs. 3 der Schul- und Prüfungsordnung). Diese Regelung hebt deutlich die Schulausbildung mit ihrer vorzugsweise theoretischen Ausbildung, "die auch pflegerische und sozialpädagogische Praktiken einschließt" (§ 2 Abs. 1 Buchst. a aaO), von der praktischen Ausbildung ab (vgl. BSGE 30, 248, 252). Dem entspricht auch, daß die praktische Ausbildung in der Schul- und Prüfungsordnung ausdrücklich als "Berufspraktikum" (§§ 2 Abs. 1 Buchst. b; 25, 26 und 27 aaO) und der Kläger selbst in dem "Ausbildungsvertrag" zwischen dem Beigeladenen zu 2) und ihm vom 9. Februar 1971 als "Praktikant" bezeichnet wird. Inhaltlich war das Berufspraktikum nach einem Plan durchzuführen (§ 26 Abs. 2 Sätze 1 und 2 aaO): Er mußte "eine gründliche praktische Ausbildung in der beruflichen Sozialarbeit sicherstellen und etwaige Lücken in der bisherigen praktischen Ausbildung berücksichtigen" (§ 26 Abs. 2 Satz 2 aaO). Insgesamt läßt die Regelung zum Inhalt der einjährigen Ausbildung in einem Berufspraktikum erkennen, daß sie zumindest überwiegend auf berufspraktische Erfordernisse abgestellt war und von dem Sozialarbeiter als wesentliche Voraussetzung seiner staatlichen Anerkennung erwartete, daß er sich im Berufspraktikum bewährt hatte (§ 27 aaO).
Gegenüber der Feststellung, daß der Kläger in der streitigen Zeit seines Berufspraktikums als Sozialarbeiter in der Rentenversicherung der Angestellten nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 AVG versicherungspflichtig war, kann sich der Kläger nicht mit Erfolg darauf berufen, nach § 4 Abs. 1 Nr. 4 AVG als "ordentlicher Studierender" versicherungsfrei gewesen zu sein. Nach dieser Vorschrift ist derjenige versicherungsfrei, der während der Dauer seines Studiums als ordentlicher Studierender einer Hochschule oder einer sonstigen der wissenschaftlichen Ausbildung dienenden Schule gegen Entgelt beschäftigt ist. "Ordentliche Studierende" sind, wie sich aus der Entstehungsgeschichte des § 4 Abs. 1 Nr. 4 AVG ergibt, regelmäßig die Werkstudenten, also Studenten, die neben ihrem Studium gegen Entgelt beschäftigt sind, um sich auf diese Weise die zur Durchführung des Studiums und zum Bestreiten ihres Lebensunterhalts erforderlichen Mittel zu verdienen (BSGE 18, 254, 255 f mit Nachweisen; 27, 192, 194 f = SozR Nr. 3 zu § 1228 RVO; SozR 2400 § 2 Nr. 3; Jantz/Zweng, Das neue Recht der Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten, 2. Aufl., 1. Lieferung, § 1228 C; Hanow/Lehmann/Bogs, RVO, 4. Buch, Rentenversicherung der Arbeiter, 1. Lieferung, § 1228, Anm. 13; Eicher/Haase/Rauschenbach/Nordhorn/Laufer, Die Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten, 5. Aufl. 1973, § 1228, Anm. 6). Dabei geht das Gesetz von der Vorstellung aus - wie dies durch die Worte "während der Dauer seines Studiums" deutlich zum Ausdruck kommt -, daß das Studium die wesentliche Tätigkeit überhaupt ausmacht. Die Rechtsprechung des BSG hat daher auch nur solche Studierende als versicherungsfrei behandelt, deren Zeit und Arbeitskraft ganz oder überwiegend durch ihr Studium in Anspruch genommen werden (BSG SozR Nr. 3 zu § 1228 RVO; Koch/Hartmann/von Altrock/Fürst, AVG, 25. Lieferung, Stand: Juni 1972, § 4 E 1, 2, 4; Verbandskomm., 4. Buch RVO, 14. Ergänzung, 1. Januar 1975, § 1228, Anm. 6, S. 7). Der Kläger war während seines nach der staatlichen Prüfung aufgenommenen Berufspraktikums kein ordentlicher Studierender mehr; die dreijährige Schulausbildung war mit der staatlichen Prüfung abgeschlossen (§ 2 Abs. 3 der Schul- und Prüfungsordnung). Da im Falle des Klägers während des Berufspraktikums die theoretische Ausbildung beendet war, kann auch keine Rede davon sein, daß er die entgeltliche Praktikantentätigkeit als Werkstudent verrichtet hat, setzt doch eine Tätigkeit als Werkstudent stets ein noch andauerndes Studium voraus. Nach einer Abschlußprüfung ist für eine Versicherungsfreiheit nach § 4 Abs. 1 Nr. 4 AVG kein Raum mehr (vgl. BSGE 20, 35 36).
Soweit der Kläger die Vorschrift des § 4 Abs. 1 Nr. 4 AVG erweiternd dahin ausgelegt wissen will, daß seine Berufspraktikantenzeit lediglich als Abschnitt seiner wissenschaftlichen Ausbildung angesehen werden soll, verkennt er nicht nur die Regelungen der Schul- und Prüfungsordnung, sondern vor allem, daß die mit der Rentenreform (1. Januar 1957) geschaffene Vorschrift des § 4 Abs. 1 Nr. 4 AVG enger als diejenige des bis zum 1. Oktober 1975 in Kraft gewesenen § 172 Abs. 1 Nr. 5 RVO über die Versicherungsfreiheit Studierender in der Krankenversicherung gefaßt worden ist. Bewußt wurde die Versicherungspflicht zu Lasten der Versicherungsfreiheit in der Rentenversicherung erweitert. Dem ist die Neufassung des § 172 Abs. 1 Nr. 5 RVO durch das Gesetz vom 24. Juni 1975 (BGBl I 1536) mit Wirkung vom 1. Oktober 1975 für die Krankenversicherung gefolgt. Für die vom Kläger erstrebte Auslegung ist daher kein Raum.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen