Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Urteil vom 13.01.1960) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 13. Januar 1960 mit den ihm zugrunde liegenden Fest Stellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der am 27. Januar 1902 geborene Kläger ist von Beruf Landarbeiter und Tiefbauarbeiter. Er wohnt in Wymeer, etwa 20 km von der Kreisstadt Leer/Ostfriesland und etwa 11 km von Weener, einer Gemeinde mit 5366 Einwohnern, entfernt, in einem eigenen Haus mit einem 17 a großen Garten. Seit 1952 bezog er mit mehrfachen Unterbrechungen durch vorübergehende Arbeitsverhältnisse Arbeitslosen- und Arbeitslosenfürsorgeunterstützung und Arbeitslosenhilfe. Das Arbeitsamt stellte mit Ablauf des 26. August 1957 die Zahlung der Arbeitslosenhilfe ein.
Im März 1957 beantragte der Kläger die Gewährung von Invalidenrente wegen Zuckerkrankheit sowie wegen fortgeschrittener Aortenverkalkung. Die Beklagte lehnte den Antrag wegen noch nicht bestehender Berufsunfähigkeit ab.
Das Sozialgericht (SG) hat die gegen den ablehnenden Bescheid der Beklagten erhobene Klage abgewiesen, das Landessozialgericht (LSG) die hiergegen vom Kläger eingelegte Berufung zurückgewiesen, nachdem es ein Gutachten des Facharztes für innere Krankheiten Dozent Dr. med. habil. S. von der Inneren Abteilung des Städt. Krankenhauses in Emden und ein Gutachten des Facharztes für Nervenkrankheiten Dr. T. eingeholt hatte. Das Berufungsgericht hat dazu ausgeführt: Die festgestellte Erkrankung der Lendenwirbelsäule und die festgestellte Herzschädigung ließen bei dem Kläger keine schweren Arbeiten in der Landwirtschaft und als Tiefbauarbeiter mehr zu, ferner seien ihm wegen der Osteochondrose und Spondylosis deformans Arbeiten in gebückter Haltung und das Heben und Tragen von Lasten nicht mehr zuzumuten. Stärker werde seine Erwerbsfähigkeit aber erst durch seine Zuckerkrankheit beeinträchtigt. Diese erfordere genaue Einhaltung einer Diät mit täglichen Injektionen von Insulin und regelmäßige Mahlzeiten. Wegen dieser Diät sei ihm Arbeit außerhalb seines Wohnortes einschließlich der näheren Umgebung nicht zuzumuten, wie Dr. S. zutreffend ausgeführt habe, da er nicht im Gasthaus oder in Kantinen essen und auch belegte Brote nicht in beliebiger Menge zu sich nehmen dürfe. Sonst aber könne er noch alle leichten bis mittelschweren Arbeiten in nicht gebückter Haltung und ohne Heben und Tragen von Lasten in seinem Wohnort oder in dessen unmittelbarer Nähe verrichten. Damit sei seine Erwerbsfähigkeit in seinem bisherigen Beruf als Land – und Tiefbauarbeiter allerdings auf weniger als die Hälfte derjenigen einer gesunden Vergleichsperson herabgesunken. Dagegen könne er an sich noch mancherlei andere Arbeiten, vor allem in gewerblichen und industriellen Betrieben jeder Art, verrichten. Solche seien indes in seinem Wohnort oder dessen näherer Umgebung nicht vorhanden, sondern nur in den nächstgelegenen – 11 bzw. 20 km entfernten – größeren Orten, zu denen eine Postomnibusverbindung bestehe, deren Fahrplan den Kläger nötige, wenn er dort arbeite, den ganzen Tag über abwesend zu sein, was von ihm aber wegen der Zuckerkrankheit nicht verlangt werden könne. Ihm sei aber auch nicht zuzumuten, in einen anderen Ort mit günstigeren Arbeitsmöglichkeiten umzuziehen, da er 57 Jahre alt sei, an einer ernsteren Krankheit leide, an seinem Wohnort ein eigenes Haus habe und zweifelhaft sei, ob er im Falle einer Umsiedlung in eine Stadt dort längere Zeit erwerbstätig sein könne, so daß es unbillig wäre, von ihm zu verlangen, sich von Heimat und Haus zu trennen. Wegen seines Alters und Gesundheitszustandes könne auch eine Wochenendpendelei nicht verlangt werde. Er sei auf eine Diät angewiesen, die er nur zu Hause erhalten könne. Wegen seiner Gesundheit, seines Alters und der Verhältnisse seiner Wohngegend hänge daher die Entscheidung davon ab, ob und inwieweit die Frage der Berusfunfähigkeit dadurch beeinflußt werde, daß der Versicherte in der für ihn erreichbaren Gegend Arbeitsplätze nicht finden könne. Hierzu habe § 1254 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF vorgeschrieben, daß das, was der Versicherte zu verdienen noch in der Lage war, mit dem zu vergleichen war, was körperlich gesunde Personen derselben Art. mit ähnlicher Ausbildung in derselben Gegend zu verdienen pflegen. Hieraus hätten Verwaltung und Rechtsprechung im Laufe der Zeit den Grundsatz entwickelt, daß jemand auf Arbeitsplätze, die er von seinem Wohnort aus im täglichen Verkehr nicht erreichen könne 9 im allgemeinen nicht verwiesen werden dürfe. Den Grund hierzu habe das Reichsversicherungsamt (RVA) in der Revisionsentscheidung 1108 (AN 1904, 353) gelegt. Demgegenüber enthalte § 1246 Abs. 2 RVO nichts mehr, was dahin gedeutet werden könnte, daß es auch jetzt noch darauf ankomme 9 daß Arbeitsplätze in der erreichbaren Umgebung vorhanden seien (Riechels in der Zeitschrift „Die Sozialgerichtsbarkeit” 1958, 339). Insoweit habe sich der Rechtszustand für den Versicherten verschlechtert. Hierfür spreche vor allem, daß in der jüngsten Entwicklung des Sozialversicherungsrechts die Tendenz erkennbar sei, die Aufgaben der einzelnen Zweige der Sozialversicherung wieder auf ihren ursprünglichen Bereich zurückzuführen. Hiermit würde es nicht in Einklang stehen, wenn die Rentenversicherung zugleich das Risiko der Arbeitslosigkeit decken müßte. Danach sei der Kläger noch nicht berufsunfähig, da er, falls er einen günstigeren Wohnsitz hätte, in gewerblichen und industriellen Betrieben aller Art. als Lagerarbeiter, Packer, Sortierer und dgl. durchaus noch erwerbstätig sein könne.
Das LSG hat die Revision zugelassen, „weil die behandelten Rechtsfragen grundsätzliche Bedeutung haben”
Mit der Revision beantragt der Kläger,
unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidung des Urteils des SG Aurich vom 20. Januar 1959 sowie des Bescheides der Beklagten vom 12. Februar 1958 die Beklagte zu verurteilen, ihm Rente wegen Berufsunfähigkeit ab 28. September 1957 zu gewähren.
Er rügt die Verletzung des § 1246 Abs. 2 RVO nF. Für die Frage, welche Tätigkeiten einem Versicherten zugemutet werden könnten (§ 1246 Abs. 2 Satz 2 RVO) müßten neben den in dieser Bestimmung vorgeschriebenen Merkmalen (Dauer und Umfang der Ausbildung bisheriger Beruf und besondere Anforderungen der bisherigen Berufstätigkeit) auch noch sonstige, im Einzelfalle für die Zumutbarkeit oder Unzumutbarkeit sprechende Gesichtspunkte berücksichtigt werden. Solche Gesichtspunkte seien bei ihm gegeben. Es sei ihm ein Pendelverkehr von seinem Wohnort zu den nächstgelegenen größeren Orten, wie das LSG zutreffend festgestellt habe, mit Rücksicht auf seine Krankheit nicht zuzumuten. Das angefochtene Urteil verstoße jedenfalls erheblich gegen das Rechtsempfinden. Wenn man etwa meine, die Zumutbarkeit beziehe sich allein auf den sozialen Abstieg, dann müsse das Korrektiv an anderer Stelle des Gesetzes gesucht werden. Nach § 1246 RVO müsse die Verweisungstätigkeit den Kräften des Versicherten entsprechen. Er könne aber wegen seiner Zuckerkrankheit Arbeit im Nachbarort nicht übernehmen. Damit scheide eine solche Tätigkeit als Verweisungstätigkeit aus.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie trägt vor, die Begriffsbestimmung der Berufsunfähigkeit in § 1246 Abs. 2 RVO unterscheide sich unter anderem von der der Invalidität in § 1254 RVO aF dadurch, daß der Gesetzgeber die einschränkende Bestimmung „in derselben Gegend” nicht übernommen habe. Wenn in der Rechtsprechung zu § 1254 RVO aF der Begriff derselben Gegend auch zu der Frage nach der Einsetzbarkeit des Versicherten herangezogen worden sei, so müsse darauf hingewiesen werden, daß der Gesetzgeber jenen Begriff nur als Merkmal für die Gewinnung zum Vergleich ausreichender Lohnverhältnisse habe aufgefaßt wissen wollen. Sie – die Beklagte – schließe aus dem Wegfall der Worte „in derselben Gegend”, daß jene Rechtsprechung nicht die Billigung des Gesetzgebers gefunden habe. Die Berufsunfähigkeit sei nicht vom Erwerb der gesetzlichen Lohnhälfte abhängig. Die gesetzliche Definition fordere nicht die Unmöglichkeit, einen bestimmten Bruchteil dessen zu erwerben, was Vergleichspersonen durch Arbeit zu verdienen pflegen. Die Bezugnahme auf dieselbe Gegend sei deshalb nicht mehr erforderlich gewesen, habe aber auch schon deswegen entfallen können, weil durch die Gegend bedingte wesentliche Lohnunterschiede kaum noch anzutreffen seien. Der Gesetzgeber des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) dürfte also die Auffassung vertreten haben, daß die Worte „in derselben Gegend” in § 1254 RVO aF sich allein auf die Feststellung der gesetzlichen Lohnhälfte bezogen hätten. Bereits hieraus könne man schließen, daß für den Begriff der Berufsunfähigkeit die Wohngegend des Versicherten keine erhebliche Rolle mehr spiele. Das Bundessozialgericht (BSG) habe in seinem Urteil vom 16. April 1959 (BSG 9, 254) die drei Begriffsmerkmale der Berufsunfähigkeit klargestellt. Zu diesen gehöre die Wohngegend des Versicherten eindeutig nicht. Nun habe das BSG in demselben Urteil ausgeführt, daß neben den in § 1246 Abs. 2 Satz 2 RVO zwingend vorgeschriebenen Merkmalen (Dauer und Umfang der Ausbildung usw.) im Einzelfall auch noch sonstige Gesichtspunkte berücksichtigt werden könnten. Das beziehe sich allein auf die Prüfung der Zumutbarkeit, die in erster Linie einen wesentlichen sozialen Abstieg verhindern solle. Die Tatsache, daß es Arbeiten einer bestimmten, vom Versicherten noch auszuführenden Art. in der für ihn erreichbaren Umgebung nicht gebe, müsse bei der Prüfung der Zumutbarkeit außer Betracht bleiben. Der Begriff der Berufsunfähigkeit stelle einen rein theoretischen Begriff dar. Das ergebe sich nicht zuletzt daraus, daß Schwankungen der wirtschaftlichen Situation mit den dadurch herbeigeführten leichteren oder schwereren Möglichkeiten der Arbeitsplatzvermittlung unberücksichtigt blieben. Für den theoretischen Begriff der Berufsunfähigkeit sei es unerheblich, ob der Versicherte eine ihm nach seinen körperlichen und geistigen Kräften angemessene und nach seinem bisherigen Berufsbild, zumutbare Arbeit am Wohnort finde oder ob er sie überhaupt zu erreichen vermöge. Ebenso wie bereits besetzte Stellen seine Arbeitsleistung ausschlössen, vermöge er die ihm verbliebene Erwerbsfähigkeit dann nicht einzusetzen, wenn es entsprechende Arbeitsmöglichkeiten in für ihn erreichbarer Umgebung nicht gebe. Sein Leistungsvermögen sei aber noch derartig, daß er, wenn derartige Arbeitsmöglichkeiten für ihn vorhanden wären, nicht berufsunfähig sein könne.
Die durch Zulassung gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthafte Revision ist auch form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 164, 166 Abs. 2 SGG) und damit zulässig. Sie ist auch begründet.
Nach § 1246 Abs. 1 RVO erhält Rente wegen Berufsunfähigkeit der Versicherte, der berufsunfähig ist und die Wartezeit erfüllt hat. Die Wartezeit hat der Kläger erfüllt. Der Streit der Parteien geht darum, ob der Kläger berufsunfähig ist. Nach § 1246 Abs. 2 RVO ist ein Versicherter berufsunfähig, dessen Erwerbsfähigkeit infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden, Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist; der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten zu beurteilen ist, umfaßt alle Tätigkeiten, die seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihm unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können.
Das LSG ist der Auffassung, die Entscheidung darüber, ob der Kläger berufsunfähig ist, hänge davon ab, ob und inwieweit die Frage der Berufsunfähigkeit dadurch beeinflußt werde, daß der Versicherte in der für ihn erreichbaren Gegend Arbeitsplätze nicht finden könne. Den in dem angefochtenen Urteil hierzu gemachten Ausführungen kann nicht beigetreten werden. Zunächst geht es nicht an, uneingeschränkt von einem Grundsatz zu sprechen, den Verwaltung und Rechtsprechung aus den in § 1254 RVO aF enthaltenen Worten „in derselben Gegend” und im Anschluß an die Revisionsentscheidung 1108 des RVA (AN 1904, 353) entwickelt hätten und der dahin gegangen sei, daß jemand auf Arbeitsplätze, die er von seinem Wohnort aus im täglichen Verkehr nicht erreichen konnte, im allgemeinen nicht verwiesen werden durfte. Wenn auch Entscheidungen in diesem Sinne, vornehmlich in Nachkriegszeiten mit ihren besonderen Verhältnissen, ergangen sind, so hat doch anderseits die Rechtsprechung, insbesondere die des RVA, von jeher den Grundsatz betont, daß der Arbeitseinsatz nicht auf den bisherigen Wohn- und Beschäftigungsort beschränkt sei, sondern daß der Versicherte auch auf Arbeitsplätze außerhalb seines Wohnortes verwiesen werden und auch eine Verlegung des Wohnorts zur Erlangung von Arbeitsmöglichkeiten von ihm verlangt werden könne, und zwar auch in Fällen, in denen er im eigenen Hause wohne (vgl. die Revisionsentscheidungen 1109, AN 1904, 353;1243, AN 1906, 277; 1421, AN 1909, 502; ferner Breith. 1946-49, S. 62 – Bayer. Landesversicherungsamt). In den Fällen, in denen die Rechtsprechung des früheren RVA (vgl. Komm. z. RVO, 4. u. 5. Buch, herausgegeben vom Verband Deutscher Rentenversicherungsträger – Verbkomm.–, 5. Aufl. § 1254 RVO aF Anm. 15) und auch die sich zeitlich anschließende (vgl. dazu Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 16. Nachtrag, S. 670 c, d), eine Verweisung des Versicherten auf auswärtige Arbeitsgelegenheiten als nicht zulässig angesehen hat, hat sie zur Begründung dieser Ansicht im allgemeinen nicht auf die Worte „in derselben Gegend” in § 1254 RVO aF zurückgegriffen, sondern Billigkeitserwägungen für entscheidend gehalten. In der vom LSG angeführten Revisionsentscheidung 1108 (AN. 1904, 353) hat das RVA allerdings für die Frage der Tätigkeiten, auf die der Versicherte verwiesen werden könne, an die Worte „in derselben Gegend” in § 1254 RVO aF angeknüpft. Dem kann jedoch nicht gefolgt werden, da diese Worte sich allein auf die bei der Ermittlung der gesetzlichen Lohnhälfte zum Vergleiche heranzuziehenden körperlich und geistig gesunden Personen derselben Art. (Vergleichspersonen) bezogen, nicht aber auf die Frage der Verweisungstätigkeit (so schon Kreilr, Die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit in der deutschen Sozialversicherung, S. 166; ferner Riecheis aaO, S. 339). Hierauf hat auch die Beklagte zutreffend hingewiesen. Die Frage, auf welche Weise die maßgebende Lohnhälfte zu ermitteln ist, mußte zur Zeit der Geltung des § 1254 RVO aF und muß unter der Herrschaft des § 1246 RVO von der Frage geschieden worden, auf welche Tätigkeiten der Versicherte verwiesen werden kann (vgl. RVO, Gesamtkomm., § 1246 Anm. 13; VerbKomm., 6. Aufl. § 1246 Anm. 12). Aus dem Umstand, daß in § 1246 Abs. 2 Satz 1 RVO die in § 1254 RVO aF gebrauchten Worte „in derselben Gegend” fehlen, kann deshalb nicht geschlossen werden, insoweit habe sich die Rechtslage für den Versicherten bei der – auch im vorliegenden Falle bedeutungsvollen – Frage geändert, ob der Versicherte auf auswärtige Arbeitsgelegenheiten verwiesen werden kann, sei es, indem er zu ihnen „pendelt”, sei es, daß er ihretwegen von seinem Wohnort an einen anderen Ort umzieht.
Konnte der Senat nach alledem die geschilderten rechtlichen Erwägungen des LSG nicht für zutreffend erachten, so blieb zu prüfen, welche anderen Erwägungen für eine zutreffende Entscheidung des vorliegenden Falles maßgebend sind, und ob die tatsächlichen Feststellungen des LSG eine abschließende Entscheidung durch das Revisionsgericht ermöglichen.
Die Entscheidung darüber, ob ein Versicherter berufsunfähig ist, hängt ebenso wie nach altem Recht die Entscheidung darüber, ob er invalide war, vor allem davon ab, ob er noch die erforderlichen Kräfte besitzt, um die gesetzliche Lohnhälfte zu erwerben. Insoweit hat sich die Rechtslage entgegen der Ansicht der Beklagten dadurch, daß § 1246 Abs. 2 Satz 1 RVO nicht mehr wie § 1254 RVO aF auf den Verdienst der Vergleichsperson abstellt, nicht geändert (zu vgl. Jantz/Zweng, Das neue Recht der Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten, § 1246 RVO Anm. II 2 a; VerbKomm., 6. Aufl. § 1246 Anm. 3). Wenn es am Wohnort des Klägers keine Tätigkeiten gibt, durch die er nach dem Stande der ihm noch verbliebenen – insbesondere durch den Befund an Herz und Wirbelsäule eingeschränkten – Kräfte und Fähigkeiten die gesetzliche Lohnhälfte erwerben kann, und wenn er infolge von Krankheit, nämlich seiner Zuckerkrankheit, nicht imstande ist, im Wege sogenannten Pendelns oder im Wege eines Umzugs an einen anderen Ort die sich ihm außerhalb seines Wohnorts bietenden Arbeitsgelegenheiten zu nutzen, deren Nutzung ihm zum Erwerb der gesetzlichen Lohnhälfte verhelfen würde, so ist er berufsunfähig. Insoweit würde es sich nicht um eine Frage der Gelegenheit zum Erwerb, sondern um die von dieser zu scheidende Frage der Fähigkeit zum Erwerb handeln, ebensowenig um eine Frage der Zumutbarkeit, sei es der Zumutbarkeit im Sinne des § 1246 Abs. 2 Satz 2 RVO, sei es der Zumutbarkeit aus allgemeinen rechtlichen Gesichtspunkten. Das würde auch gelten, wenn der Kläger infolge seiner Zuckerkrankheit an einem Umzug gehindert wäre, etwa deshalb, weil er an einem anderen Ort nicht sogleich eine Wohnung mit Kochgelegenheit finden würde und somit die für ihn unbedingt erforderliche und in Kantinen, Gaststätten oder dergleichen nicht erhältliche Diät nicht einhalten könnte. Auch in diesem Falle wäre die Unmöglichkeit für den Kläger, die sich ihm außerhalb seines Wohnortes bietenden Arbeitsgelegenheiten zu nutzen, wesentlich durch seinen Gesundheits- und Kräftezustand bedingt (zu vgl. VerbKomm. 60 Aufl. § 1246 Anm. 14; Riecheis aaO S. 340).
Die vom LSG getroffenen tatsächlichen Feststellungen reichen jedoch nicht aus, um unter diesen rechtlichen Gesichtspunkten eine Entscheidung treffen zu können. Das LSG hat nämlich nicht festgestellt, daß der Kläger die notwendige Diätkost nur zu Hause einnehmen und nicht zur Arbeitsstelle mitnehmen kann, um sie dort einzunehmen, wie dies erfahrungsgemäß sehr viele Zuckerkranke tun. Die tatsächlichen Feststellungen im Urteil des LSG gehen dahin, daß der Kläger Diätkost „nur zu Hause erhalten kann”. Der Ausdruck „erhalten” ist jedoch mehrdeutig; er kann besagen, daß die Diätkost dem Kläger nur zu Hause zubereitet werden kann; er kann darüber hinaus auch besagen, daß der Kläger diese Kost auch nur zu Hause einnehmen kann. Diese Doppeldeutigkeit des Begriffs „erhalten” zu klären, war auch nicht durch die in den angefochtenen Urteil enthaltene Bezugnahme auf das ärztliche Gutachten des Dozenten Dr. S. mit hinreichender Sicherheit möglich. Es fehlt daher an den erforderlichen tatsächlichen Feststellungen für eine abschließende Entscheidung dahin, daß die Kräfte des Klägers nicht ausreichen, durch einen Pendelverkehr für ihn erreichbare Arbeitsgelegenheiten zu nutzen. Erst wenn sich dies ergeben sollte, würde sich die Frage erheben, ob von dem Kläger ein Umzug in einen anderen Ort verlangt werden kann oder ob seine Krankheit einen Umzug hindert, weil in dem neuen Wohnort die Einhaltung der Diätkost nicht sichergestellt wäre. Auch in dieser Hinsicht fehlt es an tatsächlichen Feststellungen. Solche hat das LSG schon deshalb nicht getroffen, weil es davon ausgegangen ist, dem Kläger könne insbesondere wegen seines Alters und seines eigenen Hauses ein Umzug nicht zugemutet werden. Dem kann jedoch nicht ohne weiteres gefolgt werden, weil jedenfalls grundsätzlich ein Alter von 57 Jahren und der Besitz eines eigenen Haus- und Gartengrundstücks einen Umzug nicht zumutbar macht, dem Versicherten vielmehr grundsätzlich zuzumuten ist, sein Grundstück durch Vermietung oder Verpachtung zu nutzen. Daher war das angefochtene Urteil aufzuheben und die noch nicht entscheidungsreife Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens bleibt dem abschließenden Urteil des LSG vorbehalten.
Unterschriften
Raack, Dr. Ecker, Mellwitz
Fundstellen