Entscheidungsstichwort (Thema)
Rentenbeginn bei befristeten Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit - Stammrecht - Einzelanspruch - Anspruchskonkurrenz
Leitsatz (redaktionell)
1. Wird während einer Rente wegen Berufsunfähigkeit auf Zeit eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auf Zeit bewilligt, entsteht der erste Einzelanspruch hieraus nicht vor Beginn des siebten Kalendermonats.
2. Die Stammrechte auf Rente wegen Berufsunfähigkeit und auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit entstehen auf Grund unterschiedlicher Versicherungsfälle und haben verschiedene Sicherungsziele. Sie bestehen selbständig nebeneinander.
Normenkette
SGB VI § 44 Abs. 2 S. 2, § 89 Abs. 1, § 101 Abs. 1, § 102 Abs. 2; SGB I §§ 40-41
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 14. Dezember 2000 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten auch des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Streitig ist der Beginn einer Erwerbsunfähigkeitsrente (EU-Rente) auf Zeit.
Die Beklagte gewährte der im Jahre 1955 geborenen Klägerin auf ihren Antrag eine Rente wegen Berufsunfähigkeit (BU) für die Zeit vom 1. September 1997 bis 31. Dezember 1999 ausgehend von einer Arbeitsunfähigkeit (AU) ab 31. Januar 1997; einen Anspruch auf EU-Rente lehnte die Beklagte ab, weil die Klägerin noch erwerbstätig sei (Bescheid vom 23. April 1998). Nachdem die Klägerin mit ihrem Widerspruch geltend gemacht hatte, sie gebe ihre selbständige Tätigkeit zum 31. Mai 1998 auf, bewilligte ihr die Beklagte unter Hinweis auf § 89 SGB VI “anstelle” ihrer bisherigen Rente eine Rente wegen EU für die Zeit vom 1. Dezember 1998 bis 31. Dezember 1999 (Bescheid vom 21. Oktober 1998). Mit dem Widerspruch begehrte die Klägerin Leistungen ab einem früheren Zeitpunkt. Dieses Begehren lehnte die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 26. April 1999 ab. Sie vertrat die Auffassung, befristete Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit seien nach § 101 Abs 1 SGB VI nicht vor Beginn des siebten Kalendermonats nach Eintritt der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) zu zahlen; der Rentenbeginn der befristeten Rente sei für jeden Rentenanspruch gesondert nach § 101 Abs 1 SGB VI festzustellen.
Das SG Stade hat durch Gerichtsbescheid vom 26. November 1999 die Klage abgewiesen. Das LSG hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen (Urteil vom 14. Dezember 2000). Es hat im Wesentlichen ausgeführt: Nach § 101 Abs 1 SGB VI würden befristete Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit nicht vor Beginn des siebten Kalendermonats nach Eintritt der MdE geleistet. Die Frist von sechs Kalendermonaten sei auch dann zu beachten, wenn an Stelle einer bisher geleisteten Rente wegen BU auf Zeit (oder Dauer) eine Rente wegen EU auf Zeit geleistet werde. Die Vorschrift enthalte einen Leistungsausschluss für die ersten sechs Kalendermonate nach Eintritt der Erwerbsunfähigkeit. Ob die Rente auf Zeit erst ab dem siebten Kalendermonat beginne, sei für jede der in § 33 Abs 3 SGB VI genannten Rentenarten gesondert zu prüfen, also gesondert für die Rente wegen BU und für die Rente wegen EU. Nachdem die Klägerin am 31. Mai 1998 ihre Erwerbstätigkeit aufgegeben habe, sei ihr demnach Rente wegen EU auf Zeit erst ab 1. Dezember 1998 zu gewähren.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine fehlerhafte Auslegung von § 101 Abs 1 SGB VI. Sie ist der Ansicht: § 101 Abs 1 SGB VI bezwecke eine Risikoverteilung zwischen Kranken- und Rentenversicherung. Gerade weil nicht voraussehbar sei, ob es sich bei den festgestellten Leiden um eine nur vorübergehende oder dauerhafte Erkrankung handele, sollten entstehende Kosten gerecht zwischen den Sozialversicherungsträgern verteilt werden. Da der Versicherte in den ersten sechs Monaten nach Eintritt der AU grundsätzlich einen Anspruch auf Krankengeld (Krg) habe, entstehe ihm hierdurch auch kein finanzieller Nachteil. Daher könne in Fällen, in denen der Versicherte ununterbrochen krank und nicht zwischenzeitlich gesund gewesen sei, § 101 Abs 1 SGB VI keine Leistungseinschränkung bewirken. Die Rente wegen BU gehe dann in eine Rente wegen EU über. Beide Tatbestände von Renten seien Untergliederungen derselben Rente wegen geminderter Erwerbsfähigkeit und daher als einheitliche Rente zu behandeln.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 14. Dezember 2000 und den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stade vom 26. November 1999 aufzuheben, den Bescheid der Beklagten vom 21. Oktober 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. April 1999 zu ändern und die Beklagte zu verurteilen, ihr Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ab 1. Juni 1998 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie trägt vor: Die Auffassung des LSG sei zutreffend. § 101 Abs 1 SGB VI bestimme, dass befristete Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit nicht vor Beginn des siebten Kalendermonats nach Eintritt der MdE zu leisten seien. Die Regelung ergänze § 99 Abs 1 SGB VI. Abweichend von der Grundregel, dass Rentenbeginn der Folgemonat nach Eintritt der Anspruchsvoraussetzungen sei, solle bei Zeitrenten ein um sechs Kalendermonate hinausgeschobener Rentenbeginn gelten. Rente wegen BU und Rente wegen EU seien unterschiedliche, selbständige Rentenarten, für die die jeweiligen Anspruchsvoraussetzungen getrennt zu prüfen seien. Daher seien sämtliche Voraussetzungen für den Beginn der Rente wegen EU zu prüfen gewesen, auch wenn sich die EU-Rente auf Zeit unmittelbar an eine BU-Rente auf Zeit angeschlossen habe.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Klägerin ist unbegründet.
Gegenstand des Revisionsverfahrens ist das Urteil des LSG, in dem ein Anspruch der Klägerin auf Festsetzung eines früheren Rentenbeginns aus dem Recht auf EU-Rente (auf Zeit) verneint worden war. Mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 und 4 SGG) begehrt die Klägerin die Zahlung der EU-Rente bereits ab 1. Juni 1998; damit wendet sie sich gegen den in dem Bescheid vom 21. Oktober 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides festgelegten “Beginn” der zeitlich befristeten Rente wegen EU. Nicht Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid vom 30. Dezember 1998. Dieser hat – wovon das SG zutreffend ausgegangen ist – den angefochtenen Verwaltungsakt hinsichtlich der Dauer und damit auch des Beginns der laufenden Rente im Bescheid vom 21. Oktober 1998 weder abgeändert noch ersetzt; denn er betraf allein die Neufestsetzung des Beitragszuschusses zur Kranken- und Pflegeversicherung.
Mit ihrer Klage wendet sich die Klägerin auch nicht gegen die Befristung des Rechts auf EU-Rente als solche. Mit der zeitlichen Begrenzung (§ 102 Abs 1 und 2 SGB VI idF bis zum 31. Dezember 2000) wird festgelegt, dass der begünstigende Verwaltungsakt der Bewilligung der EU-Rente zu einem bestimmten Zeitpunkt endet und dass Einzelansprüche nur in dem durch die Frist festgelegten Zeitraum entstehen und geltend gemacht werden können. Dies beanstandet die Klägerin nicht. Die Beteiligten gehen vielmehr übereinstimmend davon aus, dass die Voraussetzungen für eine zeitliche Begrenzung nach § 102 Abs 2 SGB VI vorgelegen haben, wonach Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit auf Zeit geleistet werden, wenn begründete Aussicht besteht, dass die MdE in absehbarer Zeit behoben sein kann oder wenn der Anspruch auch von der jeweiligen Arbeitsmarktlage abhängig ist. Anhaltspunkte dafür, dass die ausgesprochene Befristung etwa zu Unrecht erfolgt ist, sind nicht ersichtlich.
In der Sache begehrt die Klägerin mithin allein die Zahlung der befristeten EU-Rente ab einem früheren als dem in § 101 Abs 1 SGB VI genannten Zeitpunkt, nämlich bereits ab 1. Juni 1998. Die Ablehnung der EU-Rente für die Zeit vor dem 1. Dezember 1998 ist jedoch rechtmäßig. Der Verfügungssatz 2 des og Bescheides, in dem die Dauer der Rente wegen EU und somit auch ihr “Beginn” festgesetzt worden ist (der Verfügungssatz 1 betrifft die Art der Rente und der Verfügungssatz 3 deren Höhe, vgl hierzu BSGE 53, 100, 101 = SozR 2200 § 1276 Nr 6; BSG SozR 2200 § 1276 Nr 11 S 29), entspricht der im Bezugszeitraum geltenden Rechtslage (vgl hierzu BSGE 70, 31, 34 = SozR 3-2500 § 48 Nr 1; SozR 3-2500 § 48 Nr 2 S 9).
Nach § 101 Abs 1 SGB VI sind befristete Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit nicht vor Beginn des siebten Kalendermonats nach Eintritt der MdE zu leisten. Diese Voraussetzungen lagen erst am 1. Dezember 1998 vor. Die Beteiligten gehen übereinstimmend davon aus, dass die EU der Klägerin am 31. Mai 1998, also zu dem Zeitpunkt eingetreten ist, als sie ihre Erwerbstätigkeit aufgegeben hat (vgl hierzu § 44 Abs 2 SGB VI). Zu diesem Zeitpunkt entstand das Stammrecht auf eine Rente wegen EU, ein besonderes Stammrecht auf eine befristete Rente wegen EU gibt es nicht (vgl hierzu BSGE 22, 278, 280 = SozR Nr 2 zu § 1276 RVO; SozR 2200 § 1276 Nr 7 S 18 f). Der sich aus dem Stammrecht ergebende erste monatliche Einzelanspruch entstand jedoch erst sieben Monate danach und ist auch erst zu diesem Zeitpunkt fällig geworden (§§ 40, 41 SGB I; §§ 163, 194 BGB). Entstehung des Stammrechts auf die Rente wegen EU einerseits und Entstehung und Fälligkeit des ersten Einzelanspruchs auf die EU-Rente andererseits fallen auseinander (vgl hierzu BSG SozR 3-2600 § 300 Nr 3 S 5). Im Gegensatz zur Entstehung und Fälligkeit des ersten Einzelanspruchs einer nicht befristeten EU-Rente wird die Entstehung und die Fälligkeit des ersten Einzelanspruchs einer befristeten EU Rente über den in §§ 40, 41 SGB I bestimmten Zeitpunkt hinausgeschoben (vgl hierzu BSGE 82, 226, 229 f = SozR 3-2600 § 99 Nr 2). Er wird verlegt auf den Beginn des siebten Kalendermonats “nach dem Eintritt der Minderung der Erwerbsfähigkeit” (§ 101 Abs 1 SGB VI) bzw (hier) nach Aufgabe der Erwerbstätigkeit und damit einhergehendem Eintritt des Versicherungsfalles der EU (§ 101 Abs 1 iVm § 44 Abs 2 Satz 2 Nr 1 SGB VI; vgl hierzu BSG SozR 3-2600 § 300 Nr 8 S 31 f). Die in § 101 Abs 1 SGB VI normierte Entstehens- und Fälligkeitsvoraussetzung für befristete Renten ist eine zwingende gesetzliche Folge der zeitlichen Begrenzung. Für die von der Klägerin begehrten Leistungen zu einem früheren Zeitpunkt fehlt es an einer Rechtsgrundlage. Ohne Bedeutung ist, dass nach den Materialien § 101 Abs 1 SGB VI eine Risikoverteilung zwischen der gesetzlichen Krankenversicherung und der gesetzlichen Rentenversicherung bezwecken soll (vgl BT-Drucks 11/4124 S 176; vgl hierzu auch BSGE 82, 226, 229 f = SozR 3-2600 § 99 Nr 2). Denn typisierend ist insoweit eine Systemabgrenzung zwischen der gesetzlichen Krankenversicherung und der gesetzlichen Rentenversicherung vorgenommen worden. Dabei wird davon ausgegangen, dass ein in der gesetzlichen Krankenversicherung Versicherter im Allgemeinen für die Dauer seiner AU in den ersten sechs Monaten Krg erhält (vgl §§ 44 ff SGB V) und erst für die sich anschließende Zeit den Schutz der gesetzlichen Rentenversicherung genießt, dann nämlich, wenn davon ausgegangen werden kann, dass seine Leistungsfähigkeit nicht nur vorübergehend beeinträchtigt ist (vgl hierzu BSGE 22, 278, 282 f = SozR Nr 2 zu § 1276 RVO).
Entgegen der Auffassung der Klägerin ist es unerheblich, dass ihr bereits zu einem früheren Zeitpunkt wegen derselben Erkrankung eine Rente auf Zeit wegen BU – zum Teil für denselben Bezugszeitraum – zuerkannt und bei Beginn dieser Rente bereits eine “Zahlungssperre” (Leistung nicht vor Beginn des siebten Kalendermonats nach Eintritt der BU) berücksichtigt worden ist. Denn es handelt sich bei den Rechten auf BU- und auf EU-Rente um zwei verschiedene Rechte (ua mit unterschiedlichen Versicherungsfällen und Versicherungszielen) und nicht etwa um ein einziges Recht auf eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit; ein solches gibt es nicht. Die Beklagte hat daher entsprechend der materiellen Rechtslage zutreffend den Bescheid vom 23. April 1998 gemäß § 48 SGB X aufgehoben und der Klägerin “anstelle” des ihr in diesem Bescheid zuerkannten Rechts auf Rente wegen BU nach Entstehung des Stammrechts auf Rente wegen EU und Entstehung und Fälligkeit des ersten Einzelanspruchs hieraus die EU-Rente bewilligt (Bescheid vom 21. Oktober 1998). Beide Rechte dienen vor allem der Sicherung von verschiedenen Schutzgütern gegen das Risiko gesundheitsbedingter Einschränkungen der Leistungsfähigkeit. Während Schutzgut der BU-Rente das individuelle berufliche Leistungsvermögen des Versicherten ist (vgl hierzu BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr 34 S 126; Urteil des 13. Senats vom 9. September 1998 – B 13 RJ 35/97 R), ist Schutzgut der Rente wegen EU gerade das allgemeine Leistungsvermögen, also die Fähigkeit des Versicherten, sich durch Erwerbstätigkeit überhaupt unterhalten zu können. EU-Rente ist somit zu gewähren, wenn das Leistungsvermögen derart unterschritten ist, dass es nur noch eine geringfügige Erwerbstätigkeit erlaubt, die zur Sicherung des Lebensunterhalts nicht ausreicht (vgl hierzu BSGE 78, 207, 208 f = SozR 3-2600 § 43 Nr 13; BSG SozR 3-2600 § 43 Nr 14 S 39, 41). Im Hinblick auf ihre unterschiedliche Schutz- und Sicherungsfunktion entstehen die beiden Stammrechte jeweils unabhängig voneinander bei Eintritt des jeweiligen Versicherungsfalls (und Vorliegen der weiteren gesetzlichen Voraussetzungen). Es gibt mithin nicht nur ein Recht auf eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit.
Die zwischen beiden Renten bestehende (echte) Anspruchs-(Gesetzes-)konkurrenz (vgl Urteil des erkennenden Senats vom 9. April 2002 – B 4 RA 58/01 R – zur Veröffentlichung vorgesehen) ist in § 89 Abs 1 SGB VI geregelt. Die Vorschrift löst die Anspruchskonkurrenz auf, indem sie anordnet, dass “nur” die “höchste Rente” zu zahlen ist. Tatsächlich “ruht” also das Recht auf die BU-Rente iS der Rechtsfolgenkonsumtion, solange ein Anspruch auf die in der Regel höhere EU-Rente besteht (vgl hierzu BSG SozR 3-2600 § 307a Nr 8 S 36; Niesel, Kasseler Komm, § 89 RdNr 4; vgl zum “Ruhen”: BSG SozR 3-4100 § 105a Nr 2 S 9). Das hat zur Folge, dass die aus dem Stammrecht auf BU-Rente resultierenden Einzelansprüche während der Dauer des Bezugs der EU-Rente nicht zur Entstehung gelangen.
Die Klägerin hat nach alledem keinen Anspruch auf eine Rente wegen EU bereits ab 1. Juni 1998. Die Revision ist mithin zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen