Orientierungssatz
Verfassungsmäßigkeit von AFG § 34 Abs 2 idF vom 1975-12-18:
Zur Frage, ob AFG § 34 Abs 2 idF von AFGHStruktG Art 1 § 1 insoweit mit dem Grundgesetz vereinbar ist, als hiernach die nach MBKG § 2 Abs 2 iVm § 11 vorgeschriebene praktische Tätigkeit von 1 1/2 Jahren nicht Bestandteil der beruflichen Bildungsmaßnahme ist und deshalb die Teilnahme hieran nach den Vorschriften des AFG nicht gefördert werden kann.
Normenkette
AFG § 34 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1975-12-18; GG Art. 3 Abs. 1 Fassung: 1949-05-23; MBKG § 2 Abs. 2 Fassung: 1958-12-21, § 11 Fassung: 1958-12-21
Tatbestand
Streitig ist, ob der Kläger einen Anspruch auf Unterhaltsgeld (Uhg) für die Zeit vom 1. Oktober 1977 bis 31. März 1979 hat, in der er ein Nachpraktikum ableistete, um Masseur und medizinischer Bademeister zu werden.
Der Kläger, der Einschaler war, begann im Oktober 1976 eine von der Beklagten geförderte Umschulung zum Masseur und medizinischen Bademeister. Zunächst besuchte er bis zum März 1977 einen Lehrgang für Kneipp-Bademeister und legte am 18. März 1977 die Eignungsprüfung ab. Danach besuchte er eine Lehranstalt für Masseure. Im September 1977 bestand er die Prüfung als Masseur. Am 1. Oktober 1977 begann er die nach § 2 Abs 2 iVm § 11 des Gesetzes über die Ausübung der Berufe des Masseurs, des Masseurs und medizinischen Bademeisters und des Krankengymnasten (MassG) vom 21. Dezember 1958 (BGBl I 985) vorgeschriebene praktische Tätigkeit von 1 1/2 Jahren an einem Krankenhaus. Er erhielt dort ein monatliches Bruttoentgelt, dessen Anrechnung die Gewährung von Uhg nicht ausschließt.
Den Antrag des Klägers, ihm für die Dauer des Nachpraktikums Uhg zu gewähren, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 13. Oktober 1977 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. November 1977 ab. Das Sozialgericht (SG) hat mit Urteil vom 4. Oktober 1978 die angefochtenen Bescheide aufgehoben und die Beklagte antragsgemäß verurteilt, dem Kläger für die Zeit ab 1. Oktober 1977 Uhg zu gewähren. Die Berufung der Beklagten hatte keinen Erfolg. Zur Begründung seines Urteils vom 11. Juli 1979 hat das Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (LSG) ausgeführt, nach § 34 Abs 2 Satz 2 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) idF des Haushaltsstrukturgesetzes-AFG vom 18. Dezember 1975 (BGBl I 3113 - HStruktG-AFG) seien zwar Zeiten einer der beruflichen Bildungsmaßnahme folgenden Beschäftigung, die der Erlangung der staatlichen Anerkennung oder der staatlichen Erlaubnis zur Ausübung des Berufes dienten, nicht Bestandteil der Maßnahme. Eine zur staatlichen Anerkennung führende Beschäftigung nach Abschluß der Bildungsmaßnahme könne jedoch nur dann vorliegen, wenn die Bildungsmaßnahme selbst bereits zu einem auf dem Arbeitsmarkt verwertbaren Abschluß geführt habe. Das sei aber bei einem Masseur und medizinischen Bademeister nicht der Fall. Er dürfe seinen Beruf erst nach Erledigung des Praktikums ausüben. Mithin sei die Umschulung zum Masseur und medizinischen Bademeister solange nicht abgeschlossen, wie dem Umschüler das Nachpraktikum fehle. Diesem Ergebnis stehe auch nicht die Entstehungsgeschichte des § 34 Abs 2 Satz 2 AFG entgegen.
Mit der Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 34 Abs 2 Satz 2 AFG. Sie führt zur Begründung aus, seit Inkrafttreten des AFG sei von ihr in Übereinstimmung mit dem Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung (BMA) ein Nachpraktikum förderungsrechtlich als Beginn der Beschäftigungszeit im neuen Beruf und nicht mehr als Maßnahmezeit gewertet worden, wenn dieses Praktikum nur dem Erwerb der staatlichen Anerkennung oder Erlaubnis zur eigenverantwortlichen/selbständigen Ausübung des Berufes gedient habe. Diese Auffassung sei von ihrem Verwaltungsrat geteilt und in der Anordnung über die individuelle Förderung der beruflichen Fortbildung und Umschulung vom 9. September 1971 (AFuU) ab 1. Januar 1972 als Anordnungsrecht übernommen worden. Nachdem das Bundessozialgericht (BSG) in seinem Urteil vom 3. Juni 1975 - 7 RAr 56/73 - habe Zweifel darüber anklingen lassen, ob die Anordnungsbestimmung mit dem Gesetz vereinbar, dh durch die Anordnungsermächtigung des § 39 AFG gedeckt sei, habe der Gesetzgeber auf Anregung der Bundesregierung dieser Regelung die eventuell erforderliche Absicherung mit dem HStruktG-AFG gegeben.
Die Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 4. Oktober 1978 und das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 11. Juli 1979 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Er meint, eine andere Auslegung des § 34 Abs 2 AFG als die, die das LSG vorgenommen habe, verstoße gegen Art 3 Abs 1 des Grundgesetzes (GG).
Auf Vorlage des Senats hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) mit Beschluß vom 19. Oktober 1982 entschieden, daß § 34 Abs 2 Satz 2 des Arbeitsförderungsgesetzes in der Fassung des Art 1 § 1 Nr 1 des HStruktG-AFG vom 18. Dezember 1975 (BGBl I 3113) insoweit mit dem Grundgesetz vereinbar ist, als hiernach die gemäß § 2 Abs 2 iVm § 11 des Gesetzes über die Ausübung der Berufe des Masseurs, des Masseurs und medizinischen Bademeisters und des Krankengymnasten vom 21. Dezember 1958 (BGBl I 985) vorgeschriebene praktische Tätigkeit von 1 1/2 Jahren nicht Bestandteil einer nach dem Arbeitsförderungsgesetz zu fördernden Bildungsmaßnahme ist.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Uhg für die Zeit vom 1. Oktober 1977 bis 31. März 1979.
Voraussetzung für die Gewährung von Uhg ist gemäß §§ 47 Abs 1, 44 Abs 1 AFG die Teilnahme an einer beruflichen Fortbildungs- oder Umschulungsmaßnahme. Der § 34 Abs 2 Satz 1 AFG bestimmt, daß Zeiten eines Vor- oder Zwischenpraktikums, deren Dauer und Inhalt in Ausbildungs- oder Prüfungsbestimmungen festgelegt sind, Bestandteil der beruflichen Bildungsmaßnahmen sind. Nach § 34 Abs 2 Satz 2 AFG sind hingegen Zeiten einer der beruflichen Bildungsmaßnahme folgenden Beschäftigung, die der Erlangung der staatlichen Anerkennung oder der staatlichen Erlaubnis zur Ausübung des Berufes dienen, nicht Bestandteil der Maßnahme. Diese Regelung trifft nach ihrem Wortlaut, der begrifflichen Gesetzessystematik sowie nach dem Zweck, den der Gesetzgeber mit ihr verfolgt, auf das Nachpraktikum, dessen Förderung der Kläger begehrt, zu.
Gemäß § 1 MassG benötigt der Kläger für eine Tätigkeit unter der Bezeichnung "Masseur und medizinischer Bademeister" eine Erlaubnis. Diese wird nach dem § 2 Abs 1 und 2 MassG nur erteilt, wenn er an einem Lehrgang teilgenommen, die Prüfung bestanden und danach eine praktische Tätigkeit abgeleistet hat. Das Nachpraktikum dient also der Erlangung der staatlichen Erlaubnis zur Ausübung des Berufes und ist nach dem eindeutigen Wortlaut des § 34 Abs 2 Satz 2 AFG nicht Bestandteil der beruflichen Bildungsmaßnahme.
Das entspricht auch der begrifflichen Systematik des Gesetzes. Gemäß § 34 Abs 1 Satz 1 AFG erstreckt sich die Förderung der Teilnahme an beruflichen Bildungsmaßnahmen auf Maßnahmen mit Vollzeitunterricht, Teilzeitunterricht und Fernunterricht. Das heißt, die Maßnahme muß ihr Gepräge durch die Vermittlung theoretischer Kenntnisse und praktischer Unterweisung durch Lehrkräfte erhalten (BSG SozR 4100 § 47 Nr 12). Ein Praktikum hingegen dient der Sammlung praktischer Erfahrungen. Deshalb ist es in das begriffliche System nur als Ausnahme einzuordnen, wie das auch in § 34 Abs 2 Satz 1 AFG hinsichtlich des Vor- und Zwischenpraktikums geschehen ist. Darüber hinaus wird in § 34 Abs 2 Satz 2 AFG unterstrichen, daß diese Ausnahme nicht für Zeiten einer der beruflichen Bildungsmaßnahme folgenden Beschäftigung gilt, die der Erlangung der staatlichen Anerkennung oder der staatlichen Erlaubnis zur Ausübung des Berufes dienen.
Daß nur diese Auslegung dem Willen des Gesetzgebers entspricht, folgt aus dem Gang des Gesetzgebungsverfahrens. Der Entwurf der Bundesregierung des § 34 Abs 2 Satz 2 AFG lautete ursprünglich: "Zeiten einer der beruflichen Bildungsmaßnahme folgenden Beschäftigung, die der Erlangung der staatlichen Anerkennung des Berufes dienen, sind nicht Bestandteil der Maßnahme". Damit sollte klargestellt werden, daß Anerkennungspraktika nicht zu den Bildungsmaßnahmen gehören (BT-Drucks 7/4127 S 48). Ihre jetzige Fassung erhielt die Vorschrift auf Vorschlag des Haushaltsausschusses (BT-Drucks 7/4224 S 31) durch die Einfügung der Worte "oder der staatlichen Erlaubnis zur Ausübung". Diese Fassung diente nach dem Bericht der Abgeordneten Dr. von Bülow und Schröder (Lüneburg) der Klarstellung, daß alle Nachpraktika, gleich unter welcher Bezeichnung sie ausgeübt würden, von der Förderung ausgeschlossen seien (BT-Drucks 7/4243 S 8). Aus diesen Gründen kann der Senat der Auffassung des LSG und der von Gagel-Jülicher (Kommentar zum AFG § 34 Anm 11 und 12), wonach die erwähnten Beschäftigungszeiten, die einer Anerkennung dienten, mit einem Nachpraktikum nicht identisch seien, nicht folgen. Schließlich spricht auch der Umstand, daß der Senat in seinen Entscheidungen vom 3. Juni 1975 (7 RAr 56/73 und 7 RAr 141/74 - letztere veröffentlicht in SozR 4100 § 47 Nr 12) nach der damals geltenden Rechtslage entschieden hat, auch Nachpraktika seien zu fördern, wenn ohne sie das Maßnahmeziel nicht erreicht werden könne, für die vorstehende Ansicht. Der Senat hatte in diesen Urteilen ausgeführt, es könne dahingestellt bleiben, ob § 6 Abs 3 Satz 2 AFuU vom 9. September 1971 (ANBA S 797 = AFuU 1971), der wörtlich mit dem Regierungsentwurf zu § 34 Abs 2 Satz 2 AFG übereinstimmte, mit dem Gesetz konform gehe. Um entsprechende Bedenken auszuräumen, ist dann offenbar die jetzige Fassung in das Gesetz aufgenommen worden (Schönefelder/Kranz/Wanka, Kommentar zum AFG § 34 Anm 11; Hennig/Kühl/Heuer, Kommentar zum AFG § 34 Anm 5).
Der § 34 Abs 2 Satz 2 AFG läßt sich auch nicht dahin auslegen, daß er für Maßnahmen der beruflichen Umschulung keine Anwendung findet. Nach § 47 Abs 1 AFG fördert die Bundesanstalt für Arbeit (BA) die Teilnahme von Arbeitsuchenden an Maßnahmen, die das Ziel haben, den Übergang in eine andere geeignete berufliche Tätigkeit zu ermöglichen, insbesondere um die berufliche Beweglichkeit zu sichern oder zu verbessern. In den Fällen, in denen das Nachpraktikum erforderlich ist, um die staatliche Anerkennung oder Erlaubnis zur Ausübung des Berufes zu erlangen, führen Lehrgang und Prüfung allein noch nicht zu einem auf dem Arbeitsmarkt verwertbaren Beruf. Damit kann also das vom Gesetz gesteckte Ziel nicht erreicht werden, so daß nach dem Sinngehalt von § 47 Abs 1 AFG das Nachpraktikum zu fördern wäre. Dem steht jedoch entgegen, daß die Frage, welche Teile eines Bildungsganges Bestandteil der beruflichen Bildungsmaßnahmen sind, nur einheitlich für die verschiedenen Arten der beruflichen Bildung beantwortet werden kann. Anderenfalls hätte der Gesetzgeber seine gegenteilige Auffassung zu erkennen gegeben, zumal da davon ausgegangen werden muß, daß ihm die Rechtsprechung des Senats, nach der das Nachpraktikum in die Förderung einzubeziehen war, bekannt gewesen ist und diese Urteile Maßnahmen der Umschulung betrafen. § 34 Abs 2 Satz 2 AFG ist daher nur so zu verstehen, daß Nachpraktika, die der Erlangung der staatlichen Anerkennung oder der staatlichen Erlaubnis zur Ausübung des Berufes dienen, nicht förderungsfähiger Bestandteil der Maßnahme sein sollen; dies gilt vor allem für Nachpraktika, die der staatlichen Erlaubnis zur Ausübung des Berufs unter einer bestimmten Bezeichnung dienen. Die vorhergehenden Bildungsteile wollte der Gesetzgeber allerdings nicht von der Förderung ausschließen. Folgerichtig ist deshalb in § 2 Abs 2 Satz 2 AFuU vom 23. März 1976 - AFuU 1976 - (ANBA 1976 S 559 ff) klargestellt worden, daß eine Bildungsmaßnahme auch dann den Übergang in eine andere berufliche Tätigkeit iS des § 47 Abs 1 Satz 1 AFG ermöglicht, wenn diese erst nach Ablauf einer der Maßnahme folgenden Beschäftigung iS des § 34 Abs 2 AFG aufgenommen werden kann.
Diese Regelung ist nach der auf Vorlagebeschluß des Senats vom 17. Juli 1980 - 7 RAr 78/79 - ergangenen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Oktober 1982 - 1 BvL 39/80 -, an die der Senat gem § 31 Abs 1 Bundesverfassungsgerichtsgesetz gebunden ist, verfassungsgemäß. Der Einwand des Klägers, sie verstoße gegen den Gleichheitsgrundsatz des Art 3 Abs 1 GG, kann daher nicht mehr berücksichtigt werden.
Hiernach sind die angefochtenen Bescheide nicht rechtswidrig. Die Urteile der Vorinstanzen sind daher aufzuheben, und die Klage muß abgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen