Entscheidungsstichwort (Thema)
Aufrechnung. Sozialhilfebedürftigkeit
Orientierungssatz
Dem Großen Senat des BSG wird gemäß SGG § 42 folgende Rechtsfrage zur Entscheidung vorgelegt:
"Kann der Versicherungsträger Beitragsansprüche eines anderen Trägers mit laufenden Geldleistungen (zB Renten) selbst dann bis zur Hälfte der Geldleistungen verrechnen, wenn dadurch der Leistungsberechtigte in höherem Maße als bisher sozialhilfebedürftig wird?"
(vgl BSG 1978-01-19 4 RJ 47/77, BSG 1979-06-28 4 S 1/79).
Normenkette
SGB 1 § 51 Abs 1 Fassung: 1975-12-11, § 51 Abs 2 Fassung: 1975-12-11, § 52 Fassung: 1975-12-11, § 54 Abs 2 Fassung: 1975-12-11, § 54 Abs 3 Fassung: 1975-12-11
Verfahrensgang
Tatbestand
I
Der Kläger erhält von der beklagten Berufsgenossenschaft eine Dauerteilrente und von der F und H H (der Beigeladenen zu 1) außerdem Sozialhilfe. Der A O (A) H (Beigeladenen zu 2) schuldete er Sozialversicherungsbeiträge. Diese ermächtigte die Beklagte im Januar 1976, eine Verrechnung der Rente mit den ausstehenden Beiträgen vorzunehmen, worauf diese von der Rente des Klägers ab 1. Juni 1976 monatlich 100,-- DM einbehielt und zur Schuldentilgung an die Beigeladene zu 2) überwies. Die Beigeladene zu 1) erhöhte darauf die Sozialhilfe um den Kürzungsbetrag. Widerspruch und Klage blieben erfolglos. Das Landessozialgericht (LSG) hat das Urteil des Sozialgerichts (SG) und den Bescheid der Beklagten aufgehoben; es hat die Revision zugelassen. Die Beigeladene zu 2) hat die Revision eingelegt und beantragt,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Die Beigeladene zu 1) hat dem Urteil des LSG zugestimmt.
Die Beklagte hat sich dem Antrag der Beigeladenen zu 2) angeschlossen.
Der Kläger hat keinen Antrag gestellt.
Der Senat hat am 6. Dezember 1978 beschlossen, beim 4. Senat anzufragen, ob er an der im Urteil vom 19. Januar 1978 - 4 RJ 47/77 - (BSGE 45, 271 = SozR 1200 § 51 Nr 3) zu § 51 Sozialgesetzbuch 1 (SGB 1) vertretenen Rechtsauffassung festhält. Der 4. Senat hatte ausgeführt, daß für eine Aufrechnung des Versicherungsträgers mit Beitragsansprüchen nicht die Einschränkungen des SGB 1 § 51 Abs 1 iVm SGB 1 § 54 Abs 2 und 3 gelten, weil insoweit SGB 1 § 51 Abs 2 eine Sonderregelung treffe. Mit Beitragsansprüchen könne der Versicherungsträger gegen laufende Geldleistungen (BG-Renten) selbst dann bis zu ihrer Hälfte aufrechnen, wenn dadurch der Leistungsberechtigte in höherem Maße als bisher sozialhilfebedürftig werde. Der anfragende Senat hatte die Auffassung vertreten, daß § 51 Abs 2 SGB 1 gegenüber § 51 Abs 1 SGB 1 keine Sonderregelung für bestimmte Erstattungsansprüche darstelle; ein Sozialversicherungsträger dürfe seine Ansprüche nicht letztlich auf Kosten eines Trägers der Sozialhilfe befriedigen. Er hat sich dafür auf die vom 4. Senat im Urteil vom 19. Januar 1978 nicht angesprochene Stellungnahme des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung (BMA) vom 26. August 1977 - IVa 1-4001 (7,1B) -51/- (Die Beiträge 1978, 16) und den Entwurf von SGB 10 (BT-Drucks 8/2034) berufen. Der 4. Senat hat am 28. Juni 1979 - 4 S 1/79 - beschlossen, er halte daran fest, daß der Versicherungsträger selbst dann bis zur Hälfte der Geldleistungen aufrechnen dürfe, wenn der Berechtigte dadurch in höherem Maße als bisher sozialhilfebedürftig werde und es als fraglich bezeichnet, ob eine Abweichung gegeben sei, wenn der 8. Senat die von der Berufsgenossenschaft vorgenommene Verrechnung der Rente mit dem Beitragsanspruch mißbillige.
Der BMA hat auf Anfrage mitgeteilt, daß im Sommer 1980 mit der Verabschiedung von SGB 10 gerechnet werden könne. Eine Sonderbehandlung des Art II § 26 Nr 2, der den § 51 Abs 2 SGB 1 durch den Halbsatz ergänze "soweit der Leistungsberechtigte dadurch nicht hilfebedürftig im Sinne der Vorschriften des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) über die Hilfe zum Lebensunterhalt wird", sei nicht vorgesehen.
Entscheidungsgründe
II
Der Ansicht des 4. Senats im Beschluß vom 28. Juni 1979, der drei Anwendungsfälle der §§ 51, 52 SGB 1 aufführt und es für denkbar hält, der von ihm mit Urteil vom 19. Januar 1978 entschiedene Fall sei möglicherweise deshalb anders gelagert gewesen als der des 8a Senats, weil bei der Aufrechnung die Verbindung zwischen den einander gegenübergestellten Ansprüchen wesentlich enger als bei der Verrechnung gestaltet sei, so daß eine unterschiedliche Behandlung gerechtfertigt werde, vermag der 8a Senat nach Überprüfung nicht zu folgen. Gerade die allgemeine Verweisung in § 52 SGB 1 auf § 51 SGB 1 ohne Differenzierung nach dessen Absätzen spricht gegen eine solche Unterscheidung. Obschon § 52 SGB 1 den Kreis der Leistungsträger, zu deren Gunsten aufgerechnet werden kann, erheblich ausgedehnt hat, würde damit die bisherige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zu § 1299 Reichsversicherungsordnung -RVO- (BSGE 27, 54; SozR Nr 13 zu § 1299 RVO, Nr 10 zu § 1301 RVO) erweitert. Belastet würden durch eine so gehandhabte Aufrechnung jedenfalls die Sozialhilfeträger. Ein solches Ergebnis erscheint bedenklich. Es könnte vermieden werden, wenn berücksichtigt wird, daß § 51 Abs 2 SGB 1 dem Leistungsträger lediglich die Aufrechnung ermöglicht ("kann"). Im Rahmen der ihm obliegenden Ermessensentscheidung kann er vor allem berücksichtigen, wie sich die Aufrechnung auf den Berechtigten auswirken wird (vgl Burdenski/v. Maydell/Schellhorn, Kommentar zum SGB Allgemeiner Teil, 1976, RdNrn 30, 31, 33, 34, 35, 44, 49 zu § 51 SGB 1).
In derselben Richtung hat sich der BMA in seiner Stellungnahme vom 26. August 1977 - IV a1-4001 (7,1 B)-51 - (Die Beiträge 1978, 16) erklärt: § 51 Abs 2 SGB 1 nehme gegenüber § 51 Abs 1 SGB 1 keine besondere Stellung ein; ein Gegenteilschluß aus § 51 Abs 2 zu Abs 1 iVm § 54 Abs 3 SGB 1 sei nicht angezeigt; vielmehr schließe der verstärkte Schütz der Leistungsberechtigten (vgl BT-Drucks 7/3786 S 5) mit seiner eindeutigen Zwecksetzung aus, auch nur mittelbar zu folgern, daß mit § 51 Abs 2 SGB 1 der Schutz des Berechtigten verringert werden sollte. Der besondere Zweck einer Geldleistung (Sozialleistung) müsse bei der Aufrechnung angemessen berücksichtigt werden, so daß sie in der Regel nicht zur Befriedigung von Ansprüchen verwandt werden dürfe, die in anderem Zusammenhang begründet worden seien (vgl BT-Drucks 7/868 S 32). Bestätigt wird dies durch den im Beschluß des Senats vom 6. Dezember 1978 genannten Entwurf von SGB 10 (BR-Drucks 170/78 S 42), wonach sich ein Sozialleistungsträger nicht letztlich auf Kosten des Sozialhilfeträgers befriedigen dürfen soll. Der vorlegende Senat schließt aus alledem, daß die oa Rechtsprechung des BSG zu § 1299 entgegen der Auffassung des 4. Senats nicht auf das SGB 1 übertragen werden darf (vgl Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Bd III, S 741 e, 741 f). § 54 Abs 2 und 3 SGB 1 ist daher nicht nur bei § 51 Abs 1, sondern auch bei Abs 2 zu beachten.
Soweit der 4. Senat dem Entwurf des SGB 10 (Art II § 26 Nr 2) keine Klarstellung glaubt entnehmen zu können, darin lediglich an Stelle eines Gegenteilschlusses einen Ähnlichkeitsschluß sehen und auf § 394 Satz 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) zurückgreifen möchte, übersieht er ein Doppeltes: In der Begründung zu Art II § 35 (BR-Drucks 170/78, S 44 unten) ist ausdrücklich in bezug auf die in Abs 4 genannten Änderungen zweimal von Klarstellung die Rede. Zum anderen dürfte die Begründung zu § 26 Abs 2 SGB 10 (aaO, S 42), die Auffassung, eine Aufrechnung dürfe auch dazu führen, daß der Leistungsberechtigte sozialhilfebedürftig werde, könne nicht hingenommen werden, inhaltlich die beabsichtigte Klarstellung deutlich kennzeichnen. Ferner wird der 4. Senat der Konzeption des SGB (Zacher, Archiv für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit, 1974, 1 f, 15 f, "Kodifikation bei begrenzter Sachreform") und dem Ablauf des Gesetzgebungsverfahrens, nämlich der Einfügung von § 54 Abs 2 und 3 in § 51 Abs 1 SGB 1 (vgl Burdenski/v.Maydell/Schellhorn, aaO, "Einleitung" RdNrn 22, 32 und 40 bis 46) nicht gerecht. Er stellt das Interesse der Versichertengemeinschaft zu stark in den Vordergrund.
Der Auffassung des vorlegenden Senats steht das Urteil des 3. Senats vom 11. Oktober 1979 - 3 RK 88/77 - nicht entgegen. Der 3. Senat hat dort offen gelassen, ob die beabsichtigte Ergänzung des § 51 Abs 2 SGB 1 eine echte Gesetzesänderung darstellt oder nur eine Verdeutlichung des gesetzgeberischen Willens. Diese Entscheidung hat sich überdies nicht mit einer Vermehrung der Sozialhilfebedürftigkeit befaßt, sondern mit der Aufrechnung von abgetretenen Beitragsrückständen gegen Krankengeld.
Soweit ersichtlich, ist das LSG Mainz mit Urteil vom 29. August 1978 - L 6 J 17/77 - ebenfalls von dem oa Urteil des 4. Senats abgewichen; es hat nämlich ausgeführt, der Leistungsträger müsse auch bei der Aufrechnung oder Verrechnung von Beitragsansprüchen nach dem SGB gegen eine laufende Rente nach pflichtgemäßem Ermessen beachten, daß der Leistungsempfänger nicht erstmalig oder verstärkt hilfebedürftig iS des BSHG werde.
Fundstellen