Entscheidungsstichwort (Thema)
Mitgliederwerbung einer Ersatzkasse
Normenkette
SGG § 51 Abs. 1; RVO § 516
Tenor
Der Rechtsweg zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit ist gegeben.
Gründe
I
Die Klägerin wendet sich gegen die ihrer Ansicht nach unzulässige Werbung der Beklagten.
Im Juli 1970 hat die Klägerin das Sozialgericht (SG) Speyer mit der Klage angerufen und behauptet, die Beklagte habe unzulässige Werbung betrieben. Ein Angestellter der Beklagten habe bei einer Frau D. vorgesprochen und dieser wahrheitswidrig erklärt, ihre Tochter Ursula müsse als kaufmännischer Lehrling Mitglied der. Beklagten werden. Diese Art der Werbung sei unzulässig; zudem verletze die Beklagte sie damit in ihren Rechten, denn ohne deren rechtswidrige Beeinflussung würde Ursula D. kraft Gesetzes ihr Mitglied. Die Klägerin hat beantragt, die Beklagte zu verurteilen, Werbemaßnahmen zu unterlassen, die gegen den Erlaß des Reichsarbeitsministers (RAM) vom 13. Mai 1941 verstoßen.
Das SG hat nach Zeugenvernehmungen die Beklagte verurteilt, unzulässige Werbemaßnahmen zu unterlassen; insbesondere dürfe sie bei der Werbung von Mitgliedern nicht erklären, daß diese Mitglieder einer Ersatzkasse werden müßten (Urteil vom 11. Dezember 1970). Zur Begründung führt das SG aus, es sei falsch und unzulässig, wenn die Beklagte eine Versicherte dadurch zur Kassenmitgliedschaft bewege, daß sie ihr einrede, sie müsse Mitglied dieser Kasse werden. Die Beklagte verstoße damit gegen den Erlaß des RAM vom 13. Mai 1941. Die Beklagte sei verpflichtet, derartige Täuschungen bei der Mitgliederwerbung zu unterlassen und müsse im Wiederholungsfall mit der Auferlegung einer Zwangsstrafe rechnen.
Gegen dieses Urteil hat die Beklagte Berufung eingelegt. Sie hat ausgeführt, daß die im Urteilstenor festgelegte Verpflichtung, unzulässige Werbemaßnahmen zu unterlassen, ihrem Inhalt nach unbestimmt und daher nicht ausführbar sei. Im übrigen lasse die Entscheidung jegliche substantiierte Begründung vermissen. Das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz hat das angefochtene Urteil aufgehoben und den Rechtsstreit auf einen Hilfsantrag der Klägerin hin an das Landgericht in Zweibrücken verwiesen (Urteil vom 23. März 1972): Die Mitgliederwerbung der Ersatzkassen spiele sich außerhalb des durch Beitritt begründeten öffentlich-rechtlichen Versicherungsverhältnisses ab, da sie in den Zeitraum vor dessen Beginn falle. Die Werbung hätte sich nach den allgemein für den Wettbewerb geltenden Grundsätzen zu richten. Deren Verletzung sei nach § 823 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) zu bewerten und für derartige Streitigkeiten stehe der Rechtsweg an die ordentlichen Gerichte offen.
Gegen dieses Urteil richtet sich die nicht zugelassene Revision der Beklagten. Sie hält § 51 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) für verletzt. Für den anhängigen Streitfall sei der Rechtsweg zur Sozialgerichtsbarkeit gegeben. Die Ersatzkasse erhalte ihre Mitglieder nicht kraft gesetzlicher Zuweisung, sondern sei auf Werbung angewiesen, um ihren gesetzlichen Auftrag erfüllen zu können. Im übrigen setze § 516 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) voraus, daß Ersatzkassen Werbung durchführten.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 23. März 1972 aufzuheben und den Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an die Berufungsinstanz zurückzuverweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision als unzulässig zu verwerfen.
Sie teilt die Auffassung des LSG über die Unzulässigkeit des Rechtswegs zu den Sozialgerichten. Für diese Frage komme es nur auf die Natur des Rechtsverhältnisses an, aus dem der Klageanspruch abgeleitet werde. Der Anspruch auf Unterlassung unzulässiger Werbung gehöre dem zivilen Recht an.
II
Für den Rechtsstreit der Beteiligten ist der Rechtsweg zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit gegeben.
Da das LSG die Revision nicht zugelassen hat, hängt die Statthaftigkeit des Rechtsmittels davon ab, ob das Verfahren des LSG an einem mit der Revision gerügten wesentlichen Mangel leidet (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG). Unter Mängeln i. S. dieser Vorschrift sind Verstöße gegen die das Verfahren regelnden Bestimmungen zu verstehen; dazu gehören auch die Vorschriften über die Zulässigkeit des Rechtswegs (vgl. BSG 15, 169, 172 mit weiteren Hinweisen). Ein solcher Mangel liegt hier vor, denn das LSG hat zu Unrecht den Rechtsweg zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit verneint. Über diesen Teil des Streitgegenstandes konnte der Senat vorab durch Zwischenurteil entscheiden (§ 202 SGG i.V.m. §§ 275 Abs. 1, 274 Abs. 2 Nr. 2 der Zivilprozeßordnung -ZPO-; vgl. BSG 10, 233).
Die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit entscheiden über öffentlich-rechtliche Streitigkeiten in Angelegenheiten der Sozialversicherung, der Arbeitslosenversicherung und der übrigen Aufgaben der Bundesanstalt für Arbeit sowie der Kriegsopferversorgung (§ 51 Abs. 1 SGG). Die öffentlich-rechtliche Natur einer Streitigkeit ist danach zu beurteilen, ob das Rechtsverhältnis, aus dem der Klageanspruch hergeleitet wird, seinem Wesen nach dem öffentlichen oder dem zivilen Recht angehört. Eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit liegt in der Regel dann vor, wenn die Streitigkeit aus Rechtsbeziehungen erwachsen ist, die öffentliche Aufgaben regeln (vgl. BSG 32, 145, 146). Hier kommen öffentlich-rechtliche Aufgaben auf dem Gebiet der Sozialversicherung in Betracht. Ob zwischen den Beteiligten solche Aufgaben im Streit stehen, läßt sich vor allem aus den zwischen ihnen bestehenden besonderen Rechtsbeziehungen ableiten (vgl. BSG 35, 121, 122), die ihre gegenseitigen Interessen, Verbindungen und Obliegenheiten abgrenzen und dadurch dem gesamten Verhältnis der Beteiligten zueinander ihr Gepräge geben (vgl. BGHZ 29, 187, 192).
Im vorliegenden Fall streiten zwei Träger der gesetzlichen Krankenversicherung darüber, ob die eine Kasse bei der Gewinnung von Mitgliedern die Grenzen zulässiger Werbung überschritten hat. Ihre besonderen Beziehungen zueinander ergeben sich daraus, daß beide Kassen Träger der gesetzlichen Krankenversicherung sind und daß beide den strukturellen Normen der gegliederten sozialen Krankenversicherung unterliegen (vgl. BSG 35, 121, 122). Den Trägern der sozialen Krankenversicherung ist vom Gesetzgeber die Aufgabe zugewiesen, auf dem Gebiet der gesundheitlichen Daseinsvorsorge für die Allgemeinheit - mehr als 86 v.H. der Bevölkerung der Bundesrepublik werden durch die gesetzliche Krankenversicherung versorgt (vgl. Sozialenquete S. 196) - tätig zu werden. Sie verwirklichen damit auf diesem Gebiet den Verfassungsauftrag der Sozialstaatlichkeit. Die Organisation dieser Versicherung hat der Gesetzgeber als gegliederte Krankenversicherung ausgestaltet und den einzelnen institutionellen Trägern zum Zweck der Durchführung ihrer - öffentlichen - Aufgaben die Rechtsform von Körperschaften des öffentlichen Rechts verliehen. Dabei ist das Strukturprinzip so ausgestaltet, daß sich die Tätigkeitsbereiche verschiedener Trägerkörperschaften in einem eng begrenzten, im Gesetz genau festgelegten Umfang überschneiden. Insoweit eine solche Überschneidung stattfindet, stehen die jeweiligen Träger in einem Konkurrenzverhältnis, woraus sich der Natur der Sache nach auch ein gewisser Wettbewerb ergibt. Alle diese Konkurrenzen erwachsen aber ausschließlich aus der Durchführung der der Krankenversicherung obliegenden Daseinsvorsorge, und dieser Aufgaben und Tätigkeitsbereich gehört seinem vollen Umfang nach dem öffentlichen Recht an. Wenn die Krankenkassen bei der Durchführung dieser Aufgaben zueinander nicht im Verhältnis der Über- und Unterordnung stehen, sondern als gleichgeordnete Konkurrenten auftreten, so folgt das aus der Struktur der gegliederten Krankenversicherung, führt aber keineswegs dazu, ihren Wettbewerb der Privatrechtsordnung zuzuweisen (vgl. über die Rechtsnatur der ebenfalls aus den Konkurrenzverhältnissen entspringenden Streitigkeiten über die Aufgabenabgrenzung der Versicherungsträger BSG 32, 177; 33, 21; 33, 69; 34, 203).
Die Teilhabe des einzelnen Versicherten an der sozialen Krankenversicherung äußert sich in einem Mitgliedschaftsverhältnis bei einem Träger der gesetzlichen Krankenversicherung. Den Erwerb der Mitgliedschaft bei einer Krankenkasse regeln öffentlich-rechtliche Normen (vgl. §§ 165 ff, 306 ff, 504 ff, 517 ff RVO). Die klagende AOK erhält ihre Mitglieder kraft Gesetzes zugewiesen (§ 306 i.V.m. § 234 RVO). Die Mitgliedschaft bei der beklagten Ersatzkasse hingegen kann mit Ausnahme der hier nicht interessierenden Krankenversicherung der Rentner nur durch freiwillige Beitrittserklärung im Rahmen der Satzungsbestimmungen (vgl. § 4 Abs. 1 der 12. Verordnung zum Aufbau der Sozialversicherung vom 24. Dezember 1935 - RGBl I 1537) erworben werden. Daraus folgt, daß die Ersatzkasse zur Aufrechterhaltung ihres Mitgliederbestandes auf die Werbung neuer Mitglieder angewiesen ist (vgl. AN 1935 S. IV 7; Peters, Handbuch der Krankenversicherung, 17. Aufl. 1973, § 516, Anm. 5). Die Beklagte betreibt demzufolge ihre Werbung, um die ihr obliegende öffentliche Aufgabe des sozialen Krankenschutzes der Bevölkerung durchführen zu können, und die Beklagte fühlt sich durch die "unzulässige" Werbung bei der Durchführung eben der gleichen, auch ihr obliegenden Aufgabe gestört. Damit ergibt sich, daß die im Hinblick auf den Streitstoff zwischen den Beteiligten bestehenden besonderen Beziehungen ihr Gepräge durch die öffentlich-rechtliche Gestaltung der Aufgaben der Kassen erhalten.
Auch der Gesetzgeber hat die Mitgliederwerbung der Ersatzkassen als ein dem öffentlichen Recht zugeordnetes Sachgebiet angesehen. Bereits bei der Änderung der Rechtsstellung der Ersatzkassen durch das Aufbaugesetz vom 5. Juli 1934 (RGBl I 577) wurde erkennbar, daß die Frage der Mitgliederwerbung einer Regelung bedurfte, und es wurde den Aufsichtsbehörden anheimgegeben, bei Verstößen notwendige Polgerungen zu ziehen (vgl. Erlaß des RAM vom 15. Dezember 1934 in AN 1935 S. IV 7). Die 12. Verordnung zum Aufbau der Sozialversicherung bestimmte dann in Art. 6 § 30, daß § 516 RVO die Fassung bekam, die im wesentlichen bis jetzt unverändert erhalten geblieben ist. Nach Abs. 2 dieser Vorschrift wird die Zulassung einer Ersatzkasse widerrufen, wenn sie gegen die vom RAM erlassenen Richtlinien über die Werbung von Mitgliedern verstößt. Damit ist die Mitgliederwerbung als Betätigungsfeld der Ersatzkassen anerkannt, und zugleich ist für den Fall der Verletzung eine Sanktion öffentlich-rechtlicher Art bestimmt.
Der vom Gesetz gezogene Rahmen bedurfte nur noch der Ausfüllung, die durch die Richtlinien des RAM vom 10. April 1937 (AN 1937 S. IV 158) auch erfolgte. Sie stellen darauf ab, daß die Ersatzkassen als Träger der gegliederten gesetzlichen Krankenversicherung durch Art. 1 Nr. 1 der 15. Verordnung zum Aufbau der Sozialversicherung vom 1. April 1937 (RGBl I 439) von diesem Zeitpunkt an Körperschaften des öffentlichen Rechts sind (Richtlinien Abschn. I Nr. 1 a.a.O.) und bestimmen daraus nach Art einer Generalklausel für die Werbung: "Diese Werbung muß in Formen geschehen, die mit der Eigenschaft der Ersatzkasse als Körperschaft des öffentlichen Rechts und als Träger der sozialen Krankenversicherung vereinbar sind" (Richtlinien Abschn. I Nr. 2 Satz 2). Diese Anweisung ist durch die Ermächtigung in § 516 Abs. 2 RVO i.V.m. Art. 3 Abs. 3 der 15. Verordnung zum Aufbau der Sozialversicherung gedeckt (siehe Abschn. I Nr. 2 der Richtlinien) und ordnungsgemäß veröffentlicht worden; sie muß als rechtsgültig zustande gekommen angesehen werden (vgl. Peters a.a.O., § 516, Anm. 7).
Daß das besondere Verhältnis von Rechten und Pflichten der Träger der gesetzlichen Krankenversicherung für die Gestaltung ihrer Werbemaßnahmen auch nach heutiger Rechtsüberzeugung vorrangig berücksichtigt werden muß, wird dadurch belegt, daß die Generalklausel ihrem wesentlichen Inhalt nach auch in § 254 Abs. 4 des Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der sozialen Krankenversicherung (Deutscher Bundestag, 4. Wahlperiode, Bundestagsdrucks. Nr. IV/816) übernommen worden ist. Sie macht deutlich, daß die Mitgliederwerbung der Ersatzkasse ein öffentlich-rechtliches Mittel des Verwaltungshandelns ist, bestimmt ihren zulässigen Umfang und hebt sie damit ab vom privatgeschäftlichen Wettbewerb, der regelmäßig der Gewinnerzielung dient. Auf die später ergangenen Richtlinien vom 13. Mai 1941 (AN II 198) und vom 14. Juni 1941 (AN II 250) braucht in diesem Zusammenhang nicht näher eingegangen zu, werden, da sie offensichtlich auf eine rein kriegsbedingte Situation abgestellt waren und infolgedessen gegenstandslos geworden sind.
Zusammenfassend ist somit festzustellen, daß die Ersatzkassen als Träger der gegliederten gesetzlichen Krankenversicherung der Gemeinsamkeit der sich hieraus ergebenden Aufgabenstellung auch bei ihrer - erlaubten - Mitgliederwerbung Rechnung zu tragen haben und Sich aus dieser besonderen, dem öffentlichen Recht angehörenden Rechtsbeziehung, wie in den genannten Richtlinien von 1937 zum Ausdruck gebracht - und nicht nach den Grundsätzen über den privat-rechtlichen Wettbewerb -, die von der Ersatzkasse im einzelnen zu wahrenden Pflichten bestimmen. Demzufolge ist für Streitigkeiten, die aus diesen besonderen Beziehungen der Beteiligten zueinander entstehen, der Rechtsweg. zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit gegeben.
Unterschriften
Dr. Langkeit
Dr. Schmitt
Dr. Heinze
Fundstellen