Entscheidungsstichwort (Thema)
Generalklausel und unbestimmter Rechtsbegriff im Rechtsstaat
Leitsatz (amtlich)
§ 3 Absatz 1 des Kapitalverkehrsteuergesetzes in der Fassung vom 22. September 1955 (BGBl I S. 590) war mit dem Grundgesetz vereinbar.
Normenkette
KVStG § 3; GG Art. 20
Tenor
§ 3 Absatz 1 des Kapitalverkehrsteuergesetzes in der Fassung vom 22. September 1955 (BGBl I S. 590) war mit dem Grundgesetz vereinbar.
Tatbestand
A.
I.
Nach § 3 Abs. 1 des Kapitalverkehrsteuergesetzes – KVStG in der Fassung vom 22. September 1955 ≪BGBl. I S. 590≫ unterliegt der Gesellschaftsteuer auch die Gewährung von Darlehen an eine inländische Kapitalgesellschaft durch einen Gesellschafter, wenn die Darlehensgewährung eine durch die Sachlage gebotene Kapitalzuführung ersetzt.
Im Ausgangsverfahren ist streitig, ob Darlehen, die die 1937 gegründete „Unterstützungskasse der Albert Nestler AG e.V., Lahr/Schwarzwald” der Firma Albert Nestler AG in Lahr/Schwarzw. – einer Familiengesellschaft –, der Berufungsführerin des Ausgangsverfahrens, gewährt hat, gemäß § 3 Abs. 1 KVStG eine nach Sachlage gebotene Kapitalzuführung ersetzen und daher der Gesellschaftsteuer unterliegen. Gegründet wurde der Verein „Unterstützungskasse” von zwei Vorstandsmitgliedern und Aktionären. Das Vermögen des Vereins ist zum größten Teil der Gesellschaft als Darlehen gegeben; im Bedarfsfall muß es jedoch jederzeit dem Verein zur Verfügung gestellt werden. Der Vorstand des Vereins besteht aus drei Personen, von denen zwei vom Vorstand der Gesellschaft und eine vom Geschäftsführer der 1951 von ihr abgespaltenen Verkaufsgesellschaft – ebenfalls einer Familiengesellschaft – auf die Dauer von 3 Jahren bestellt werden. Bis zum Jahre 1956 waren die Gründer ≪Aktionäre≫ als Vorstandsmitglieder tätig. Seit dem 21. Juni 1948 führt die Gesellschaft Teile des Gewinnes in steuerlich zulässiger Weise der Unterstützungskasse zu. Diese Beträge sind körperschaftsteuerfrei. Die Gesellschaft weist diese Beträge in ihrer Handelsbilanz als Darlehensschulden gegenüber Verein aus.
Das Finanzamt Freiburg – Kapitalverkehrsteuerstelle – erachtete zum 31. Dezember 1955 eine Gesellschaftsteuerpflicht hinsichtlich eines Darlehensbetrages von 250000 DM gemäß §§ 3 und 4 KVStG als gegeben und setzte durch Bescheid vom 12. November 1956 die Gesellschaftsteuer auf ≪3 v. H. =≫ 7500 DM fest.
Der Einspruch der Gesellschaft gegen diesen Steuerbescheid blieb erfolglos.
Die Gesellschaft wendet sich mit der Berufung gegen ihre Heranziehung zur Gesellschaftsteuer: Sie ist der Ansicht, daß inländische Kapitalgesellschaften nur dann gemäß §§ 3, 4 KVStG 1955 steuerpflichtig werden können, wenn ihnen von außen her Kapital zugeführt wird. Auch sei eine Kapitalzuführung nicht erforderlich gewesen; ihr Eigenkapital sei höher ihr Anlagevermögen. Daß auch ein Teil des Umlaufvermögens durch Eigenkapital gedeckt sein müsse, könne nicht gefordert werden. Die Darlehen des Vereins ersetzten somit nicht eine nach Sachlage gebotene Kapitalzuführung.
Das Finanzgericht hat das Verfahren gemäß Art. 100 Abs. 1 GG ausgesetzt, um die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts darüber herbeizuführen, ob § 3 Abs. 1 KVStG in der Fassung des Gesetzes vom 22. September 1955 ≪BGBl. I S. 590≫ mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Zwar sieht es die Voraussetzungen der §§ 3 und 4 KVStG in der anhängigen Berufungssache als gegeben an, hält aber die Bestimmung des § 3 Abs. 1 für verfassungswidrig; zur Begründung bezieht es sich auf den Sinn der Vorschrift, eigene Untersuchungen über die Handhabung der Bestimmung durch die Verwaltungsbehörden und auf ein betriebswirtschaftliches Gutachten von Prof. Dr. Lohmann in Freiburg. Die weite, auffallend generalisierend gefaßte Umschreibung des gesetzlichen Tatbestandes werfe die Frage auf, ob die Vorschrift in der vorliegenden Gesetzesfassung den Grundsätzen genüge, die für die Rechtsgültigkeit einer Gesetzesnorm Voraussetzung seien. Zu denken sei an die Rechtsprinzipien der Bestimmtheit ≪wörtlich: Bestimmbarkeit≫ des gesetzlichen Tatbestandes und den Grundsatz der Klarheit der Gesetze, die in das Postulat der Rechtssicherheit mündeten; das Gericht bezieht sich dafür auf BVerfGE 1, 299 ff. Zwar brauche ein Gesetz nicht so speziell zu sein, daß die richterliche Lösung des Einzelfalles nahezu mit Sicherheit vorausgesehen werden könne ≪BVerfGE 3, 225 ≪243≫≫, andererseits aber müsse die Tatbestandsvoraussetzung so abgegrenzt sein, daß die Gesetzesvorschriften in sicherer Weise eindeutig und damit genügend konkretisiert den Maßstab vermittelten, der bei der juristischen Subsumtionsarbeit angewendet werden solle ≪BVerfGE 1, 14 ≪16 LS 14≫≫. Der Rechtsprechung sei es aber bis heute nicht gelungen, hinsichtlich der Tatbestandsvoraussetzung: „wenn die Darlehensgewährung eine durch die Sachlage gebotene Kapitalzuführung ersetzt” Merkmale herauszuarbeiten, die so verdeutlicht und abgrenzbar seien und den Bereich der Vorschrift so bestimmt und merkmalsicher umreißen, daß die Gesetzesinterpretation im Einzelfalle mit nahezu hinreichender Sicherheit auf ein bestimmtes und eindeutiges Ergebnis hinführe. § 3 Abs. 1 KVStG überfordere Verwaltung und Rechtsprechung. Die Bestimmung ermangele somit einer hinreichenden Justitiabilität.
II.
Der Bundesfinanzhof hat seine Auslegungsgrundsätze zu der Frage, ob eine Darlehensgewährung durch einen Gesellschafter eine durch die Sachlage gebotene Kapitalzuführung ersetzt, mitgeteilt. Er kommt zu dem Ergebnis, daß Steuertatbestand in § 3 Abs. 1 KVStG hinreichend klar bestimmt sei.
Die Bundesregierung, die ein Rechtsgutachten von Rechtsanwalt Dr. v. Braunbehrens und Prof. Dr. Hans Schneider vorgelegt hat, vertritt ebenfalls die Auffassung, daß die zur Prüfung gestellte Vorschrift mit dem Grundgesetz vereinbar sei. Die Regelung solle verhindern, daß Gesellschafter aus steuerlichen Gründen, anstatt der Gesellschaft Eigenkapital zuzuführen, ihr die entsprechenden Beträge als Darlehen zur Verfügung stellen, die aber im Betrieb wie Eigenkapital arbeiten; solche Darlehen hätten wirtschaftlich die Bedeutung von Einlagen auf das Gesellschaftskapital. § 3 Abs. 1 KVStG solle § 2 ergänzen, indem nicht nur die endgültig in das Eigentum der Gesellschaft übergehenden, sondern auch die ihr – mit gleichem wirtschaftlichen Erfolg – zur Nutzung überlassenen Gelder in die Steuerpflicht einbezogen werden. Die Finanzminister ≪Finanzsenatoren≫ der Länder – legt die Bundesregierung weiterhin dar – hätten hierzu mitgeteilt, daß sich in der Praxis nennenswerte Schwierigkeiten bei der Anwendung der Vorschriften nicht ergeben hätten. Einen Anhaltspunkt für die Praktikabilität der Vorschriften gebe die nachstehende Tabelle:
1957 |
1958 |
|
Zahl der Steuerfestsetzungen |
|
|
nach § 3 Abs. 1 KVStG 1 |
1791 |
1700 |
– davon entfallen auf das Finanzamt Freiburg I Zahl der Berufungsfälle |
57 |
54 |
|
≪= 3,10 v.H.≫ |
≪= 3,17 v.H.≫ |
|
43 |
42 |
|
≪= 2,40 v.H.≫ |
≪= 2,47 v.H.≫ |
–davon entfallen auf das Finanzamt Freiburg I Zahl der Rechtsbeschwerden |
1 |
1 |
|
3 |
0 |
|
≪= 0,16 v.H.≫ |
≪= – ≫ |
– davon entfallen auf das Finanzamt Freiburg I |
0 |
0 |
Falle § 3 Abs. 1 KVStG weg, so müßte auf § 6 des Steueranpassungsgesetzes zurückgegriffen werden.
Entscheidungsgründe
B. I. Die Vorlage ist zulässig.
§ 3 Abs. 1 KVStG ist nachkonstitutionelles Recht. Zwar ist der Wortlaut dieser Vorschrift seit Inkrafttreten des Kapitalverkehrsteuergesetzes (KVStG) vom 16. Oktober 1934 (RGBl I S. 1058) bis 1959 unverändert geblieben, jedoch ist das Gesetz in dem – auch § 3 umfassenden – Teil I „Gesellschaftsteuer” nach Inkrafttreten des Grundgesetzes mehrfach geändert worden. So ist durch § 1 des Gesetzes zur Änderung des Kapitalverkehrsteuergesetzes (KVStÄndG 1953) vom 29. Juli 1953 (BGBl I S. 711) der § 7 KVStG geändert worden, der „die in den §§ 2 und 3 bezeichneten Rechtsvorgänge bei bestimmten inländischen Kapitalgesellschaften” (z.B. Vermögensverwaltung für einen nicht rechtsfähigen Berufsverband) von der Besteuerung ausnimmt. Durch Art. 1 Nr. 1 des Gesetzes zur Änderung des Kapitalverkehrsteuergesetzes vom 19. August 1955 (BGBl I S. 530) hat der Abs. 2 Satz 1 des § 3 – der sich auf Abs. 1 bezieht – eine neue Fassung erhalten. Der Satz „Als Darlehen eines Gesellschafters gilt auch das Darlehen eines Dritten, wenn ein Gesellschafter dafür Sicherheit leistet” wurde eingeschränkt durch den Zusatz; „dies gilt nicht, wenn der Gesellschafter für Kredite aus öffentlichen Kreditprogrammen Sicherheit leistet”. Auf Grund von § 2 Abs. 2 KVStÄndG 1953 hat der Bundesminister der Finanzen das Kapitalverkehrsteuergesetz im ganzen in der Fassung vom 22. September 1955 (KVStG 1955) neu bekanntgemacht (BGBl I S. 590). Schließlich sind durch das Gesetz zur Änderung verkehrsteuerrechtlicher Vorschriften vom 25. Mai 1959 (BGBl I S. 261) – Abschnitt I Kapitalverkehrsteuern – zahlreiche Bestimmungen des Kapitalverkehrsteuergesetzes in der Fassung vom 22. September 1955 geändert worden, darunter auch die §§ 2 und 3.
Die zur Prüfung gestellte Vorschrift ist also nach dem Inkrafttreten des Grundgesetzes inhaltlich geändert worden (vgl. BVerfGE 12, 10 [22 ff.]). Der Gesetzgeber hat die Vorschrift bestätigend in seinen Willen aufgenommen (BVerfGE 10, 129 [133]; vgl. auch BVerfGE 3, 45 [48]; 6, 55 [64]).
II. 1. § 2 KVStG bestimmt u.a. als Gegenstand der Gesellschaftsteuer den Erwerb von Gesellschaftsrechten an einer inländischen Kapitalgesellschaft durch den ersten Erwerber, ferner Leistungen von Gesellschaftern auf Grund einer im Gesellschaftsverhältnis begründeten Verpflichtung (wie z.B. weitere Einzahlungen, Nachschüsse, Zubußen) und schließlich unter gewissen Voraussetzungen auch freiwillige Leistungen eines Gesellschafters. Nach § 3 Abs. 1 KVStG unterliegt der Gesellschaftsteuer auch die Gewährung von Darlehen an eine inländische Kapitalgesellschaft durch einen Gesellschafter, wenn die Darlehnsgewährung eine durch die Sachlage gebotene Kapitalzuführung ersetzt. Durch diese Bestimmung soll verhindert werden, daß zwecks Umgehung der Gesellschaftsteuerpflicht an Stelle einer Zuführung von Eigenkapital der Weg des Gesellschafterkredits gewählt wird. Diese Bestimmung ist von besonderer Bedeutung bei Familiengesellschaften wie in dem vom vorliegenden Gericht zu entscheidenden Fall, weil dort die Bezeichnung „Einlage” oder „Darlehen” für die Beteiligten oft unwesentlich ist.
Inhalt und Zweck der Vorschrift des § 3 Abs. 1 KVStG werden noch verdeutlicht durch ihre Entstehungsgeschichte. Vorgänger des § 3 Abs. 1 war der § 6 Buchst. c KVStG in der Fassung der Anlage 4 zum Gesetz über Änderungen im Finanzwesen vom 8. April 1922 (RGBl I S. 354). Diese Vorschrift knüpfte an die Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs an, nach der bereits unter der Herrschaft des Reichsstempelgesetzes – in der durch die Gesetze vom 3. Juli 1913 (RGBl S. 544), vom 17. Juni 1916 (RGBl S. 555), vom 8. April 1917 (RGBl. S. 329) und vom 26. Juli 1918 (RGBl S. 799) geänderten Fassung auch Darlehen, die einer GmbH von ihren Gesellschaftern gewährt wurden, der Stempelsteuer unterlagen, falls sie als Leistung der Gesellschafter im Sinne von § 3 GmbH-Gesetz anzusehen waren. Der Reichsfinanzhof hatte diese Voraussetzung insbesondere dann als gegeben erachtet, wenn die Gesellschafter während der Dauer der Gesellschaft die Darlehnsforderungen nicht geltend machen oder sie nur gleichzeitig mit ihrem Geschäftsanteil abtreten konnten oder wenn das Darlehen eine wesentliche Voraussetzung für den Beginn oder die Fortführung der Gesellschaft war (vgl. Keßler, KVStG 1922, 2. Aufl. 1927, Anm. 32, S. 127 f zu § 6).
§ 6 Buchst. c KVStG 1922 sah dementsprechend ausdrücklich eine Steuerpflicht auch für Gesellschafterdarlehen an eine inländische Kapitalgesellschaft vor, wenn die Darlehnsgewährung
- eine wesentliche Voraussetzung des Beginns oder der Fortführung der Gesellschaft war und
- sich sachlich als Beteiligung an der Gesellschaft darstellte.
Nach der Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs waren für die Beurteilung der ersten Frage objektive Erwägungen maßgebend, während für die zweite Frage die subjektive Auffassung der Beteiligten entscheidend sein sollte (RFH II A 286/26 vom 6. August 1926, Mrozek-Kartei zum KVStG 1922 § 6 c R 54).
Die Frage, ob sich die Darlehnsgewährung nach der Auffassung der Beteiligten im Einzelfall sachlich als Beteiligung an der Gesellschaft darstellte, führte zu Schwierigkeiten; deshalb faßte § 3 Abs. 1 KVStG 1934 den Steuertatbestand objektiv; auf die subjektive Auffassung der Beteiligten sollte es nicht mehr ankommen (vgl. die amtliche Begründung zu § 6 zu c KVStG 1934, RStBl 1934, S. 1460 ff. [1465 f]).
2. Die zur Prüfung gestellte Vorschrift knüpft an den Rechtsvorgang der Darlehnsgewährung durch einen Gesellschafter unter bestimmten Voraussetzungen eine Steuerpflicht.
Die Grundsätze des Rechtsstaats fordern, daß die Norm, die eine Steuerpflicht begründet, nach Inhalt, Gegenstand, Zweck und Ausmaß hinreichend bestimmt und begrenzt ist, so daß die Steuerlast meßbar und in gewissem Umfang für den Staatsbürger voraussehbar und berechenbar wird. Das folgt einmal aus dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, der nicht nur irgendeine, sondern eine näher begrenzte und näher bestimmte Ermächtigung der Exekutive zur Vornahme belastender Verwaltungsakte fordert, und der darüber hinaus gebietet, daß Eingriffe der öffentlichen Gewalt für den Staatsbürger möglichst berechenbar sein sollen. Das Gesetz muß die Tätigkeit der Verwaltung inhaltlich normieren und darf sich nicht darauf beschränken, allgemein gehaltene Grundsätze aufzustellen. Eine lediglich formelle rechtsatzmäßige Bindung der Eingriffsverwaltung genügt nicht. Insbesondere ist eine „vage Generalklausel”, die es völlig dem Ermessen der Exekutive überläßt, die Grenzen von Freiheit und Eigentum des Staatsbürgers im einzelnen zu bestimmen, mit dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung nicht vereinbar (BVerfGE 8, 274 [276], Leitsatz 7 und S. 325 mit weiteren Rechtsprechungsnachweisen). Diese Konsequenz ergibt sich weiter aus dem Prinzip der Gewaltenteilung, das die Exekutive auf die Ausführung der Gesetze beschränkt, und schließlich auch aus der rechtsstaatlichen Forderung nach möglichst lückenlosem gerichtlichen Schutz gegen die Verletzung der Rechtssphäre des einzelnen durch Eingriffe der öffentlichen Gewalt, wie er durch Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistet ist (BVerfGE a.a.O. S. 325 [326]; vgl. auch BVerfGE 8, 71 [76]). Ist der Steuertatbestand im Gesetz nicht hinreichend bestimmt, so kann der Richter die Anwendung der Norm durch die Verwaltung nicht nachprüfen.
3. § 3 Abs. 1 KVStG ist mit diesen Grundsätzen vereinbar.
a) Der Gegenstand des möglichen staatlichen Eingriffs ist hinreichend klar bestimmt. Den in § 2 KVStG als Gegenstand der Steuer normierten typischen Sachverhalten wird ein weiterer Ersatztatbestand hinzugefügt, nämlich der, daß auch die Darlehnsgewährung durch einen Gesellschafter steuerpflichtig ist, wenn sie „eine durch die Sachlage gebotene Kapitalzuführung ersetzt”. Der Gesetzgeber nötigt hier für die juristische Subsumtion zu einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise. Denn ob ein Gesellschaftsdarlehen eine „durch die Sachlage gebotene Kapitalzuführung” im Einzelfall „ersetzt”, kann nur nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten entschieden werden.
b) Der Gesetzgeber verwendet hier einen unbestimmten Rechtsbegriff, indem er die Steuerpflicht nur eintreten läßt, „wenn die Darlehnsgewährung eine durch die Sachlage gebotene Kapitalzuführung ersetzt”. Die Grundsätze des Rechtsstaates verwehren es dem Gesetzgeber nicht schlechthin, Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe zu verwenden. Gerade im Bereich des Wirtschafts- und Steuerrechts kommt der Gesetzgeber nicht ohne sie aus. So wird z.B. in zahlreichen steuerrechtlichen Vorschriften der unbestimmte Rechtsbegriff „ordnungsmäßige Buchführung” verwendet. Auch die Vorschrift über die Berücksichtigung einer „außergewöhnlichen Belastung” im Einkommensteuerrecht nach § 33 EStG enthält einen unbestimmten Rechtsbegriff.
Das Bundesverfassungsgericht hat die sehr weit gefaßte Bestimmung des § 2 des Preisgesetzes vom 10. April 1948, die die für die Preisbildung zuständigen Stellen ermächtigte, „Anordnungen und Verfügungen [zu] erlassen, durch die Preise, Mieten, Pachten, Gebühren und sonstige Entgelte für Güter und Leistungen jeder Art, ausgenommen Löhne, festgesetzt oder genehmigt werden, oder durch die der Preisstand aufrecht erhalten werden soll”, für rechtsstaatlich unbedenklich erklärt (BVerfGE 8, 274). Ebenso hat es die Vorschrift des § 7 Abs. 1 Buchst. a des Paßgesetzes vom 4. März 1952 für mit dem Grundgesetz vereinbar gehalten, wonach ein Paß zu versagen ist, wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, daß der Antragsteller als Inhaber eines Passes die innere oder die äußere Sicherheit oder sonstige erhebliche Belange der Bundesrepublik gefährdet (BVerfGE 6, 32 [42 f]).
Der rechtsstaatliche Grundsatz der gleichen steuerlichen Belastung und damit der Steuergerechtigkeit kann eher verwirklicht werden, wenn Steuerverwaltung und Finanzgerichte den Besonderheiten des Einzelfalles durch Anwendung eines unbestimmten Rechtsbegriffs gerecht werden können, als wenn sie gezwungen werden, jeden Fall in eine starre, enumerativ-kasuistisch gestaltete Norm zu pressen. Hinzu kommt, daß die Verwendung des in § 3 Abs. 1 KVStG enthaltenen unbestimmten Rechtsbegriffs dazu dient, den Steuertatbestand einzuengen und damit die Steuerpflicht zu begrenzen, nicht aber sie zu erweitern. Die Verwendung des unbestimmten Rechtsbegriffs soll hier also eine möglichst vollkommene Steuergleichheit und Steuergerechtigkeit erreichen.
c) Was in § 3 Abs. 1 KVStG unter Kapitalzuführung zu verstehen ist, wird einmal durch die in den Gesetzestext einbezogenen Beispiele (Kapitalerhöhung, weitere Einzahlungen, Zubußen) deutlich gemacht, weiterhin durch den in § 2 umrissenen „Gegenstand der Steuer”.
Ob im Einzelfall die Darlehnsgewährung eine nach Sachlage gebotene Kapitalzuführung ersetzt, läßt sich bei Zugrundelegung der vom Gesetzgeber vorausgesetzten wirtschaftlichen Betrachtungsweise ermitteln.
Hierbei ist entscheidend, daß die vom Bundesfinanzhof zu § 3 Abs. 1 KVStG entwickelten Auslegungsgrundsätze der allgemeinen wirtschaftlichen Lebenserfahrung entsprechen und zu einer sachgerechten Entscheidung des Einzelfalles zu führen durchaus geeignet sind. Der Bundesfinanzhof geht von dem allgemeinen kaufmännischen Finanzierungsgrundsatz aus, daß das Anlagevermögen (d.h. langlebige, dauernd gebundene Vermögensteile) in erster Linie durch Eigenkapital und nur ergänzend durch langfristiges Fremdkapital finanziert werden soll, um Liquiditätsschwierigkeiten zu vermeiden. Aus dieser Überlegung ergibt sich die Folgerung, daß ein Gesellschafterdarlehen eine durch die Sachlage gebotene Kapitalzuführung in aller Regel dann ersetzt, wenn das Darlehen für Investitionszwecke verwendet wird, es sich weiter dabei nicht nur um einen kurzfristigen, sondern um einen mittel- oder langfristigen Kredit handelt und der Gesellschaft die Deckung des Investitionsbedarfs aus eigenen Mitteln nicht möglich ist. Liegen diese Voraussetzungen vor, dann haben in der Regel die Gesellschafterdarlehen wirtschaftlich die Funktion von Gesellschaftskapital und sind dann gesellschaftsteuerpflichtig. Mit Hilfe dieser Auslegungsgrundsätze können Steuerverwaltung und Finanzgerichte in jedem Einzelfall ermitteln, ob der Rechtsvorgang der Darlehnsgewährung gesellschaftsteuerpflichtig ist oder nicht, ohne dabei willkürlich entscheiden zu müssen.
d) Die Heranziehung zur Gesellschaftsteuer wird durch die Vorschrift des § 3 Abs. 1 KVStG keineswegs in das Ermessen der Steuerbehörde gestellt. Es handelt sich nicht um eine Kann-Vorschrift, sondern die Heranziehung zur Steuer ist zwingend vorgeschrieben, sobald der Tatbestand erfüllt ist. Steuermaßstab und Steuersatz sind ebenfalls in besonderen Vorschriften des Gesetzes genau festgelegt (§ 8 und § 9 KVStG). Das Gesetz bestimmt auch, wer Steuerschuldner ist und wer für die Steuerschuld haftet (§ 10 KVStG).
Damit sind Gegenstand, Inhalt, Zweck und Ausmaß des obrigkeitlichen Eingriffs durch das Gesetz selbst genügend bestimmt. Der Steuerpflichtige – die Kapitalgesellschaft, also ein kaufmännisches Unternehmen – ist daher sehr wohl in der Lage, im voraus zu beurteilen, ob ein Gesellschafterkredit die Steuerpflicht auslöst.
4. Was schließlich die Bedenken des vorlegenden Gerichts angeht, daß die Bestimmung des § 3 Abs. 1 KVStG den Richter überfordere, so ist darauf hinzuweisen, daß nach der. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts selbst die schöpferische Füllung weiter Lücken auf der Grundlage einer richtungweisenden Generalklausel eine herkömmliche und stets bewältigte richterliche Aufgabe ist (BVerfGE 3, 225 [243 f]).
Dieser Grundsatz ist keineswegs auf das Zivilrecht und auf die Zivilgerichte beschränkt. Die Steuergesetze, die die Steuerpflicht an bestimmte wirtschaftliche Lebenssachverhalte knüpfen, müssen der Vielfalt wirtschaftlicher Gestaltungsmöglichkeiten Rechnung tragen und können ohne unbestimmte Rechtsbegriffe und Generalklauseln nicht auskommen. Diese weit gefaßten Normen können das Gebot materieller Gerechtigkeit überhaupt erst erfüllen, wenn der Richter Lücken schöpferisch ausfüllt und damit den objektiven Willen des Gesetzgebers im Einzelfall verwirklicht.
Daß Finanzgerichte und Steuerverwaltung auch tatsächlich durchaus in der Lage sind, die ihnen durch den unbestimmten Rechtsbegriff in § 3 Abs. 1 KVStG gestellte Aufgabe zu bewältigen, zeigt die einschlägige Rechtsprechung. Bisher ist kein anderes Finanzgericht dem vorlegenden Gericht gefolgt. Das Finanzgericht Hamburg (nicht rechtskräftiges Urteil vom 27. Juni 1958, Deutsche Verkehrsteuer-Rundschau 1958, S. 153, und Urteil vom 27. Juni 1958, Deutsche Steuer-Rundschau 1958, S. 352) sowie die Finanzgerichte München (nicht rechtskräftiges Urteil vom 12. Juni 1959, EFG 1959. S. 412) und Hannover (nicht rechtskräftiges Urteil vom 20. Oktober 1959, BB 1959, S. 1240 Nr. 2104) gehen von der Verfassungsmäßigkeit des § 3 Abs. 1 KVStG aus. Nach Auskunft der Finanzminister (Finanzsenatoren) der Länder haben sich nennenswerte Schwierigkeiten bei der Anwendung des § 3 Abs. 1 KVStG nicht ergeben, wie auch aus der für die Jahre 1957 und 1958 vorgelegten Statistik über die Zahl der Berufungen und Rechtsbeschwerden zu § 3 Abs. 1 KVStG hervorgeht. Im übrigen zeigt die Begründung des Vorlagebeschlusses, daß auch das vorlegende Gericht im Ausgangsverfahren bei Anwendung der Vorschrift des § 3 Abs. 1 KVStG zu einer sachgerechten Entscheidung kommen könnte, da ihm im vorliegenden Fall (s. S. 12/13 des Vorlagebeschlusses) offenbar die Feststellung gelungen ist, daß nach Sachlage eine Kapitalerhöhung geboten gewesen wäre.
5. Da die Vorschrift des § 3 Abs. 1 KVStG auch andere Bestimmungen des Grundgesetzes nicht verletzt, ist auszusprechen, daß sie mit dem Grundgesetz vereinbar ist.
Fundstellen
BStBl I 1961, 716 |
BVerfGE, 153 |