Entscheidungsstichwort (Thema)
Unzulässige Richtervorlage zur Verfassungsmäßigkeit des § 23 Abs 3 S 1 Nr 2 SGB XII (juris: SGB 12. Unzulässige Richtervorlage zur Verfassungsmäßigkeit des § 23 Abs 3 S 1 Nr 2 SGB XII (juris: Ausschluss von Sozialleistungen für Ausländer ohne Aufenthaltsrecht). Nichtanwendbarkeit des § 23 Abs 3 S 7 SGB 12 nicht hinreichend begründet
Normenkette
GG Art 100 Abs. 1; BVerfGG § 80 Abs. 2 S. 1; FreizügG/EU 2004 § 5 Abs. 4 S. 1; SGB XII § 23 Abs. 3 S. 1 Nr. 2, Sätze 6-7; SGB II § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2a, S. 4
Verfahrensgang
Tenor
Die Vorlage ist unzulässig.
Gründe
I.
Rz. 1
Das Vorlageverfahren nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG betrifft den Ausschluss von Ausländern ohne Aufenthaltsrecht von Leistungen der Sozialhilfe gemäß § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII.
Rz. 2
§ 23 SGB XII lautet auszugsweise wie folgt:
(1) 1Ausländern, die sich im Inland tatsächlich aufhalten, ist Hilfe zum Lebensunterhalt, Hilfe bei Krankheit, Hilfe bei Schwangerschaft und Mutterschaft sowie Hilfe zur Pflege nach diesem Buch zu leisten. 2Die Vorschriften des Vierten Kapitels bleiben unberührt. 3Im Übrigen kann Sozialhilfe geleistet werden, soweit dies im Einzelfall gerechtfertigt ist. 4Die Einschränkungen nach Satz 1 gelten nicht für Ausländer, die im Besitz einer Niederlassungserlaubnis oder eines befristeten Aufenthaltstitels sind und sich voraussichtlich dauerhaft im Bundesgebiet aufhalten. 5Rechtsvorschriften, nach denen außer den in Satz 1 genannten Leistungen auch sonstige Sozialhilfe zu leisten ist oder geleistet werden soll, bleiben unberührt.
(2) Leistungsberechtigte nach § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes erhalten keine Leistungen der Sozialhilfe.
(3) 1Ausländer und ihre Familienangehörigen erhalten keine Leistungen nach Absatz 1 oder nach dem Vierten Kapitel, wenn
…
2. sie kein Aufenthaltsrecht haben oder sich ihr Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt,
….
2Satz 1 Nummer 1 und 4 gilt nicht für Ausländerinnen und Ausländer, die sich mit einem Aufenthaltstitel nach Kapitel 2 Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten. 3Hilfebedürftigen Ausländern, die Satz 1 unterfallen, werden bis zur Ausreise, längstens jedoch für einen Zeitraum von einem Monat, einmalig innerhalb von zwei Jahren nur eingeschränkte Hilfen gewährt, um den Zeitraum bis zur Ausreise zu überbrücken (Überbrückungsleistungen); die Zweijahresfrist beginnt mit dem Erhalt der Überbrückungsleistungen nach Satz 3. 4Hierüber und über die Möglichkeit der Leistungen nach Absatz 3a sind die Leistungsberechtigten zu unterrichten. 5Die Überbrückungsleistungen umfassen:
1. Leistungen zur Deckung der Bedarfe für Ernährung sowie Körper- und Gesundheitspflege,
2. Leistungen zur Deckung der Bedarfe für Unterkunft und Heizung in angemessener Höhe, einschließlich der Bedarfe nach § 35 Absatz 4 und § 30 Absatz 7,
3. die zur Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände erforderliche ärztliche und zahnärztliche Behandlung einschließlich der Versorgung mit Arznei- und Verbandmitteln sowie sonstiger zur Genesung, zur Besserung oder zur Linderung von Krankheiten oder Krankheitsfolgen erforderlichen Leistungen und
4. Leistungen nach § 50 Nummer 1 bis 3.
6Soweit dies im Einzelfall besondere Umstände erfordern, werden Leistungsberechtigten nach Satz 3 zur Überwindung einer besonderen Härte andere Leistungen im Sinne von Absatz 1 gewährt; ebenso sind Leistungen über einen Zeitraum von einem Monat hinaus zu erbringen, soweit dies im Einzelfall auf Grund besonderer Umstände zur Überwindung einer besonderen Härte und zur Deckung einer zeitlich befristeten Bedarfslage geboten ist. 7Abweichend von Satz 1 Nummer 2 und 3 erhalten Ausländer und ihre Familienangehörigen Leistungen nach Absatz 1 Satz 1 und 2, wenn sie sich seit mindestens fünf Jahren ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet aufhalten; dies gilt nicht, wenn der Verlust des Rechts nach § 2 Absatz 1 des Freizügigkeitsgesetzes/EU festgestellt wurde. 8Die Frist nach Satz 7 beginnt mit der Anmeldung bei der zuständigen Meldebehörde. 9Zeiten des nicht rechtmäßigen Aufenthalts, in denen eine Ausreisepflicht besteht, werden auf Zeiten des tatsächlichen Aufenthalts nicht angerechnet. 10Ausländerrechtliche Bestimmungen bleiben unberührt.
Rz. 3
Im sozialgerichtlichen Ausgangsverfahren begehren die dortigen Antragsteller (im Folgenden: Antragsteller) im Wege des Eilrechtsschutzes die Bewilligung von Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII. Die Antragsteller sind nach den Feststellungen des vorlegenden Gerichts seit dem 1. März 2010 durchgehend in Deutschland gemeldet und besitzen nur die rumänische Staatsbürgerschaft. Im März 2018 stellte die Ausländerbehörde den Verlust des Freizügigkeitsrechts der Antragsteller gemäß § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU und die daraus folgende Ausreisepflicht fest. Sie drohte den Antragstellern die Abschiebung nach Rumänien an, falls sie nicht spätestens drei Monate nach Bestandskraft der Verfügung ihrer Ausreiseverpflichtung nachgekommen sein sollten. Über die gegen die Verlustfeststellung erhobene Klage der Antragsteller hat das zuständige Verwaltungsgericht noch nicht entschieden.
Rz. 4
Die Antragstellerin zu 1) des fachgerichtlichen Verfahrens ist alleinerziehend. Sie ist die Mutter der übrigen Antragsteller zu 2) bis 4) im Alter von 9, 14 und 17 Jahren. Diese besuchen eine Grund- beziehungsweise Förderschule. Der Antragsteller zu 4) beabsichtigt, im Jahr 2021 seinen Hauptschulabschluss zu erwerben. Die Antragsteller leben gemeinsam mit dem schwerbehinderten (GdB 100, Merkzeichen G, B, H), 21 Jahre alten Sohn der Antragstellerin zu 1) zusammen. Dieser besucht tagsüber eine Werkstatt für behinderte Menschen. Seit Mai 2018 erhalten die Antragsteller keine Leistungen nach dem SGB II mehr. Die Kindergeldzahlungen sind seit Januar 2019 eingestellt. Die Familienwohnung der Antragsteller wurde nach den Feststellungen des vorlegenden Gerichts zum 27. September 2019 gekündigt. Eine Räumungsklage ist anhängig. Ihren Lebensunterhalt bestreiten die Antragsteller derzeit wohl überwiegend aus Spenden.
Rz. 5
Das vorlegende Gericht sieht sich aufgrund der Ausschlussregelung des § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII außer Stande, einen Leistungsanspruch der Antragsteller und damit einen Anordnungsanspruch zu bejahen. Es hält aufgrund der Verlustfeststellung trotz des langjährigen Aufenthalts der Antragsteller in der Bundesrepublik Deutschland die Rückausnahme nach § 23 Abs. 3 Satz 7 SGB XII für nicht anwendbar. Auch die Härtefallregelung des § 23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII könne nicht zur Anwendung kommen. Die Regelung des § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII verletze jedoch das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG), indem sie Unionsbürgern, deren Ausreisepflicht noch nicht vollziehbar sei, dem Grunde nach jegliche existenzsichernde Leistung verwehre. Die Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG sei bereits im einstweiligen Rechtsschutzverfahren geboten, da die Antragsteller nicht in der Lage wären, vorläufig erbrachte Leistungen zurückzuzahlen. Die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes bedeute damit eine faktische Vorwegnahme der Hauptsache. Aus diesem Grund sehe das Gericht auch von dem Erlass eines Hängebeschlusses für die Dauer des Vorlageverfahrens ab.
II.
Rz. 6
Die Vorlage ist unzulässig.
Rz. 7
1. Im Rahmen eines fachgerichtlichen Eilverfahrens ist eine Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG nur ausnahmsweise zulässig (vgl. BVerfGE 46, 43 ≪51≫; 63, 131 ≪141≫; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 19. Juli 1996 - 1 BvL 39/95 -). Es kann dahinstehen, ob dies hier der Fall ist.
Rz. 8
2. Die Vorlage entspricht jedenfalls nicht den Anforderungen an die Begründung aus § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG.
Rz. 9
a) Dem Begründungserfordernis des § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG genügt ein Vorlagebeschluss nur, wenn die Ausführungen des Gerichts erkennen lassen, dass es sowohl die Entscheidungserheblichkeit der Vorschrift als auch ihre Verfassungsmäßigkeit sorgfältig geprüft hat (vgl. BVerfGE 127, 335 ≪355 f.≫ m.w.N.). Das Gericht muss sich dabei eingehend mit der Rechtslage auseinandersetzen und die in Literatur und Rechtsprechung entwickelten Rechtsauffassungen berücksichtigen, die für die Auslegung der vorgelegten Rechtsvorschrift von Bedeutung sind (vgl. BVerfGE 65, 308 ≪316≫; 94, 315 ≪323≫; 97, 49 ≪60≫; 105, 61 ≪67≫; 121, 233 ≪237 f.≫). Richten sich die Bedenken gegen eine Vorschrift, von deren Anwendung die Entscheidung nicht allein abhängt, müssen die weiteren mit ihr im Zusammenhang stehenden Bestimmungen in die rechtlichen Erwägungen einbezogen werden, soweit dies zum Verständnis der zur Prüfung gestellten Norm oder zur Darlegung ihrer Entscheidungserheblichkeit erforderlich ist (BVerfGE 131, 1 ≪15≫).
Rz. 10
Das vorlegende Gericht muss zudem von der Verfassungswidrigkeit der vorgelegten Norm überzeugt sein und die dafür maßgeblichen Erwägungen nachvollziehbar und erschöpfend darlegen (vgl. BVerfGE 78, 165 ≪171 f.≫; 86, 71 ≪77 f.≫; 88, 70 ≪74≫; 88, 198 ≪201≫; 93, 121 ≪132≫). Es muss den verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstab angeben, die naheliegenden tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte erörtern, sich eingehend mit der Rechtslage auseinandersetzen und die in Literatur und Rechtsprechung entwickelten Rechtsauffassungen berücksichtigen (vgl. BVerfGE 76, 100 ≪104≫; 79, 240 ≪243 f.≫; 85, 329 ≪333≫; 86, 52 ≪57≫; 86, 71 ≪77 f.≫; 88, 187 ≪194≫; 88, 198 ≪202≫; 94, 315 ≪325≫). Dazu gehört die Erörterung der in Rechtsprechung und Schrifttum vertretenen Auffassungen zu denkbaren Auslegungsmöglichkeiten (vgl. BVerfGE 85, 329 ≪333≫; 97, 49 ≪60≫; 105, 61 ≪67≫), insbesondere auch der verfassungskonformen Auslegung. Das vorlegende Gericht muss diese prüfen und vertretbar begründen, weshalb sie ausgeschlossen sein soll (vgl. BVerfGE 85, 329 ≪333≫; 121, 108 ≪117≫). Es muss erkennbar sein, dass das vorlegende Gericht alle Möglichkeiten einer Problemlösung durch Auslegung des einfachen Rechts erwogen hat (vgl. BVerfGE 127, 335 ≪359 f.≫; 131, 88 ≪117 f.≫).
Rz. 11
b) Dem genügen die Darlegungen des Sozialgerichts hier nicht. Die Vorlage übergeht mehrere Fragen zur Verfassungswidrigkeit und zur Entscheidungserheblichkeit der vorgelegten Norm, die für die verfassungsrechtliche Prüfung unverzichtbar sind und ohne deren Klärung das Bundesverfassungsgericht in diesem Verfahren nicht entscheiden kann. Das vorlegende Gericht macht geltend, § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII sei verfassungswidrig, soweit Unionsbürger vollständig von existenzsichernden Leistungen ausgeschlossen seien, bei denen das Nichtbestehen der Freizügigkeit zwar festgestellt, diese Feststellung aber noch nicht in Bestandskraft erwachsen ist. Das Sozialgericht legt jedoch nicht hinreichend dar, dass das geltende Recht in der hier konkret zu entscheidenden Situation einer Auslegung entgegensteht, nach der vor Bestandskraft der Feststellung des Nichtbestehens der Freizügigkeit die Leistung nicht ausgeschlossen ist.
Rz. 12
aa) § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII knüpft nicht ausdrücklich an die Feststellung des Nichtbestehens der Freizügigkeit, sondern nur an das Nichtbestehen eines Aufenthaltsrechts an. Ist schon nicht vom Nichtbestehen der Freizügigkeit die Rede, lässt der Wortlaut der Regelung für sich genommen erst recht nicht darauf schließen, dass der Leistungsausschluss vor Bestandskraft der Feststellung des Nichtbestehens der Freizügigkeit gelten soll. Sollte diese dem Wortlaut nicht ohne Weiteres zu entnehmende Auslegung durch das Fachrecht dennoch vorgegeben sein, hätte das Sozialgericht dies dem Bundesverfassungsgericht im Einzelnen darlegen müssen. Dies ist nicht geschehen.
Rz. 13
Formal betrachtet begründet das vorlegende Gericht nicht, dass die Antragsteller kein Aufenthaltsrecht im Sinne des § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII haben. Es stellt lediglich fest, die Antragsteller verfügten, "wie bereits in Teil 1 II. 2. f) dargelegt", über kein Aufenthaltsrecht. Dieser Verweis lässt sich nicht nachvollziehen, weil ein entsprechender Gliederungspunkt nicht existiert.
Rz. 14
In der Sache verweist das vorlegende Gericht wohl auf seine voranstehenden Ausführungen zu § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2a SGB II, der dem hier zur Prüfung gestellten § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII weitgehend gleicht.
Rz. 15
§ 7 SGB II lautet auszugsweise wie folgt:
(1) 1Leistungen nach diesem Buch erhalten Personen, die
1. das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a noch nicht erreicht haben,
2. erwerbsfähig sind,
3. hilfebedürftig sind und
4. ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (erwerbsfähige Leistungsberechtigte).
2Ausgenommen sind
…
2. Ausländerinnen und Ausländer,
a) die kein Aufenthaltsrecht haben,
…
und ihre Familienangehörigen,
…
3Satz 2 Nummer 1 gilt nicht für Ausländerinnen und Ausländer, die sich mit einem Aufenthaltstitel nach Kapitel 2 Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten. 4Abweichend von Satz 2 Nummer 2 erhalten Ausländerinnen und Ausländer und ihre Familienangehörigen Leistungen nach diesem Buch, wenn sie seit mindestens fünf Jahren ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet haben; dies gilt nicht, wenn der Verlust des Rechts nach § 2 Absatz 1 des Freizügigkeitsgesetzes/EU festgestellt wurde. 5Die Frist nach Satz 4 beginnt mit der Anmeldung bei der zuständigen Meldebehörde. 6Zeiten des nicht rechtmäßigen Aufenthalts, in denen eine Ausreisepflicht besteht, werden auf Zeiten des gewöhnlichen Aufenthalts nicht angerechnet. 7Aufenthaltsrechtliche Bestimmungen bleiben unberührt.
Rz. 16
Zu § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2a SGB II führt das Gericht aus, dass mit der Verlustfeststellung (gemeint ist die Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts gemäß § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU) alle Aufenthaltsrechte, die gegebenenfalls entstanden waren, entfallen seien und dass auch kein neues materielles Freizügigkeitsrecht entstanden sei. Hier hätte das Sozialgericht wenigstens darlegen müssen, wodurch es zwingend daran gehindert ist, zugunsten der Antragsteller deren Klage gegen die Verlustfeststellung zu berücksichtigen, erblickt das vorlegende Gericht doch gerade hierin den Verfassungsverstoß. Zur Bedeutung fehlender Bestandskraft der Verlustfeststellung finden sich hier keine Ausführungen.
Rz. 17
Überlegungen, die die Relevanz fehlender Bestandskraft betreffen könnten, finden sich allerdings im Rahmen der Ausführungen zur Rückausnahme nach § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II, die dann wohl auf die Parallelregelung in einem Folgesatz zu dem allein zur Überprüfung vorgelegten § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII zu übertragen wären. Zu diesem § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II heißt es im Vorlagebeschluss: "Allein der Erlass der Feststellung und die bislang fehlende Aufhebung der Verlustfeststellung sperren den Leistungsanspruch. Auf die Vollziehbarkeit oder Erledigung auf andere Weise für die Zukunft kommt es nicht an (…). Schon die Verlustfeststellung wirkt der Verfestigung des Aufenthalts entgegen bzw. der Aufenthalt kann nicht mehr als verfestigt im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 4, 1. Halbsatz SGB II angesehen werden (…). Da die Verlustfeststellung trotz der Klageerhebung wirksam ist, entfaltet sie Tatbestandswirkung und bindet Sozialleistungsbehörden und Sozialgerichte." Ungeachtet der Frage, ob diese Ausführungen für sich genommen ausreichend wären, ist es in einem Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, anhand der Erläuterungen des vorlegenden Gerichts zu anderen Regelungen eigenständig die komplexe fachrechtliche Interpretation der eigentlich zur Prüfung gestellten Regelung zu erarbeiten. Das gilt erst recht, wenn die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, wie hier, unter Zeitdruck zu treffen ist, weil den Antragstellern derzeit ‒ nicht zuletzt wegen Verneinung eines Härtefalls (unten, cc) ‒ existenzsichernde Leistungen verwehrt werden.
Rz. 18
bb) Das vorlegende Gericht macht indessen schon nicht hinreichend deutlich, warum es trotz der Klage gegen die Verlustfeststellung zwingend an der Anwendung der Rückausnahme nach § 23 Abs. 3 Satz 7 SGB XII gehindert ist. Zu § 23 Abs. 3 Satz 7 SGB XII konstatiert das vorlegende Gericht lediglich, ein solcher Anspruch bestehe wegen der Feststellung des Verlusts der Freizügigkeit nicht. Es verweist dabei auf die Regelung in § 7 Abs. 1 Satz 4 2. Halbsatz SGB II und "Teil 1 II. 2. a)" seiner Ausführungen. Auch dieser Verweis lässt sich nicht nachvollziehen, weil ein entsprechender Gliederungspunkt nicht existiert. Das vorlegende Gericht dürfte sich auf seine vorangehenden Ausführungen in Teil 1 II. 1. beziehen. Es legt aber auch in diesem Zusammenhang nicht hinreichend dar, inwiefern es an einer Auslegung des einfachen Rechts gehindert wäre, nach der eine Verlustfeststellung (§ 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU) der Rückausnahme nach § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II beziehungsweise § 23 Abs. 3 Satz 7 SBG XII bei Erfüllung der Fünfjahresfrist jedenfalls dann nicht entgegensteht, wenn die Verlustfeststellung nicht bestandskräftig ist. Das Gericht stellt lediglich fest, dass sich im Gesetzestext (wohl des § 7 SGB II) kein Anhaltspunkt dafür finde, dass nur die vollziehbare Verlustfeststellung die Rückausnahme des § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II sperre und dass § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II auf der Annahme eines verfestigten Inlandsaufenthaltes beruhe, eine solche Verfestigung aber bereits mit Erlass der Verlustfeststellung verhindert werde. Zur Begründung seiner Annahme der Verfassungswidrigkeit hätte das Gericht aber vielmehr gerade umgekehrt darlegen müssen, was einer Gesetzesauslegung zwingend entgegensteht, nach der eine Verlustfeststellung die Rückausnahme des § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II nicht sperrt, solange diese Verlustfeststellung nicht bestandskräftig ist. Soweit das vorlegende Gericht sich an einer solchen Auslegung durch die von ihm angenommene, auch die Sozialgerichte bindende Tatbestandswirkung des Verwaltungsaktes über die Verlustfeststellung gehindert sehen sollte, genügen angesichts davon abweichender Rechtsprechung mehrerer Landessozialgerichte (vgl. nur Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 28. Mai 2019 - L 8 SO 109/19 B ER -, juris, Rn. 9 m.w.N.) die Ausführungen im Vorlagebeschluss nicht, um tragfähig zu belegen, dass § 23 Abs. 3 Satz 7 SGB XII bereits bei nicht bestandskräftiger Verlustfeststellung unanwendbar ist.
Rz. 19
cc) Es kann danach offenbleiben, ob das vorlegende Gericht hinreichend deutlich gemacht hat, warum es an der Anwendung der Härtefallklausel des § 23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII gehindert ist. Es begründet, weshalb es die Auslegung des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg (Urteil vom 11. Juli 2019 - L 15 SO 181/18 -, juris; beim Bundessozialgericht anhängiges Revisionsverfahren - B 8 SO 7/19 R -), im Fall fehlender vollziehbarer Ausreisepflicht generell von einem Härtefall auszugehen, als unzulässige Auslegung ablehnt. Ob es darüber hinaus hätte darlegen müssen, inwiefern nicht im Einzelfall konkrete Bindungen an das Bundesgebiet ‒ im Fall der Antragstellerin zu 1) etwa wegen ihres schwerbehinderten Sohnes, der in Deutschland in einer Werkstatt für behinderte Menschen betreut wird ‒ angesichts fehlender Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht die Annahme einer besonderen Härte rechtfertigen können, bedarf hier keiner abschließenden Entscheidung.
Rz. 20
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Fundstellen
Haufe-Index 13709064 |
NVwZ 2020, 8 |
NZS 2020, 6 |
ZfSH/SGB 2020, 255 |
AUR 2020, 190 |
Asylmagazin 2020, 138 |
GV/RP 2020, 561 |