Verfahrensgang
Hessischer VGH (Beschluss vom 16.01.2007; Aktenzeichen 10 EU 2228/05) |
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Beschluss des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 16. Januar 2007 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 16 754,83 € festgesetzt.
Gründe
Die auf § 132 Abs. 2 Nr. 1 und 3 VwGO gestützte Beschwerde bleibt erfolglos. Die zu ihrer Begründung angeführten Gesichtspunkte rechtfertigen die Zulassung der Revision nicht.
1. Die Rechtssache hat nicht die ihr von der Beschwerde beigemessene grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Dies wäre nur dann zu bejahen, wenn für die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs eine konkrete, jedoch fallübergreifende Rechtsfrage von Bedeutung war, die auch für die Entscheidung im Revisionsverfahren erheblich wäre und deren höchstrichterliche Klärung zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zu einer bedeutsamen Weiterentwicklung des Rechts geboten erscheint (stRspr; vgl. Beschluss vom 11. August 1999 – BVerwG 11 B 61.98 – Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 1 VwGO Nr. 19).
1.1 Die von dem Kläger für klärungsbedürftig gehaltene Frage (S. 9 Nr. 1 der Beschwerdebegründung),
“ob auch im Falle der Kenntnis des Jugendamtes von der Maßnahme, vor Antritt derselben ein direkt an das Jugendamt gerichteter Jugendhilfeantrag vom Antragsberechtigten gestellt werden muss, damit ein Leistungsanspruch bzw. ein Erstattungsanspruch begründet wird”,
rechtfertigt die Zulassung der Revision nicht. Zum einen stellt sich die ausdrücklich bezeichnete Frage nach den nicht mit durchgreifenden Verfahrensrügen angegriffenen und daher bindenden (§ 137 Abs. 2 VwGO) tatsächlichen Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofs so nicht. Anders als von der Beschwerde angenommen hat der Verwaltungsgerichtshof nicht festgestellt, dass das zuständige Jugendamt bei oder zumindest kurz nach Beginn der Maßnahme Kenntnis von dieser erlangte. Vielmehr geht der Verwaltungsgerichtshof davon aus, dass das Jugendamt erst mit Übersendung der Antragsunterlagen durch das Sozialamt am 5. August 2002 – mithin deutlich nach Beginn der Maßnahme am 9. Juli 2002 – hiervon Kenntnis erlangt hat; der Antrag des Hilfeempfängers sei dabei auch gerade nicht auf Leistungen nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch, sondern auf Leistungen nach § 72 BSHG gerichtet gewesen. Zum anderen ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. grundlegend Urteile vom 28. September 2000 – BVerwG 5 C 29.99 – BVerwGE 112, 98 und vom 11. August 2005 – BVerwG 5 C 18.04 – BVerwGE 124, 83) hinreichend geklärt, dass Leistungen der Jugendhilfe grundsätzlich eine vorherige Antragstellung gegenüber dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe voraussetzen. Auch legt die Beschwerde keinen grundsätzlichen neuerlichen oder weitergehenden Klärungsbedarf dar.
In den vorbezeichneten, noch vor Einführung von § 36a SGB VIII durch Gesetz vom 8. September 2005 (BGBl I S. 2729) ergangenen Entscheidungen ist geklärt, dass grundsätzlich materielle Voraussetzung für die Gewährung rechtmäßiger Jugendhilfe ein entsprechender Antrag des Betroffenen ist. Bereits aus der Gesamtverantwortung des Trägers der Jugendhilfe folgt, dass eine Leistung der öffentlichen Jugendhilfe rechtzeitig vor dem Einsetzen der Maßnahme zu beantragen ist. Es entspricht nicht dem gesetzlichen Auftrag des Jugendhilfeträgers, nur “Zahlstelle” und nicht Leistungsträger zu sein. Das Jugendhilferecht zielt auf eine partnerschaftliche Hilfe unter Achtung familiärer Autonomie und auf kooperative pädagogische Entscheidungsprozesse. Nur wenn die Eltern bzw. der Hilfeempfänger grundsätzlich den Träger der Jugendhilfe von Anfang an in den Entscheidungsprozess einbeziehen, kann er seine aus § 79 Abs. 1 SGB VIII folgende Gesamtverantwortung für die Erfüllung der gesetzlichen Aufgaben und die Planungsverantwortung nach § 80 Abs. 1 Nr. 1 und 3 SGB VIII wahrnehmen. Darüber hinaus folgt das Antragserfordernis auch aus allgemeinen verfahrensrechtlichen Regelungen. So verdeutlicht § 28 SGB X den Grundsatz, dass Sozialleistungen einen rechtzeitigen Antrag voraussetzen, der nicht lediglich auf eine nachträgliche Übernahme von Kosten gerichtet ist. Durch diese Vorschrift soll dem Leistungsträger vielmehr ermöglicht werden, nach ordnungsgemäßer Prüfung der Voraussetzungen des Anspruchs seine Leistung zeit- und bedarfsgerecht zu erbringen. Aus § 40 Abs. 1 SGB I, wonach Ansprüche auf Sozialleistungen entstehen, sobald ihre im Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes bestimmten Voraussetzungen vorliegen, folgt nichts anderes. Ob zu diesen Voraussetzungen ein rechtzeitiger Antrag gehört, ist nicht § 40 Abs. 1 SGB I zu entnehmen, sondern den Besonderheiten des Rechts der jeweiligen Sozialleistungen. Danach setzt die Gewährung von Jugendhilfeleistungen regelmäßig nicht nur voraus, dass überhaupt ein Antrag gestellt ist, sondern grundsätzlich auch, dass er so rechtzeitig gestellt ist, dass der Jugendhilfeträger zu pflichtgemäßer Prüfung sowohl der Anspruchsvoraussetzungen als auch möglicher Hilfemaßnahmen in der Lage ist. Für den danach grundsätzlich erforderlichen Antrag ist keine besondere Form vorgesehen, er kann auch in der Form schlüssigen Verhaltens gestellt werden.
Ein darüber hinausgehender grundsätzlicher Klärungsbedarf wird auch nicht durch den Hinweis der Beschwerde auf die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Münster vom 25. Oktober 2005 (– 12 A 4384/03 – juris) begründet. Auch das Oberverwaltungsgericht Münster geht in Übereinstimmung mit der oben aufgezeigten Rechtsprechung des Senats von einem grundsätzlichen Antragserfordernis für rechtmäßige Jugendhilfeleistungen aus; es gelangt lediglich bei “wertender Betrachtung” in dem von ihm zu entscheidenden Einzelfall dazu, dass der Antrag nicht nur auf Leistungen der Sozialhilfe beschränkt war, sondern dem jugendhilferechtlichen Antragserfordernis genügende Anträge vorlagen.
1.2 Auch die weiter von dem Kläger für grundsätzlich klärungsbedürftig gehaltene Frage,
“ob es für das Antragserfordernis genügt, dass zwar beim zuständigen Landkreis, aber im falschen Amt, der Antrag gestellt worden ist”,
stellt sich im vorliegenden Fall nach den differenzierten Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofs nicht. Der Verwaltungsgerichtshof stützt seine Entscheidungen nicht darauf, dass ein Antrag, der bei entsprechender Auslegung auch oder vorrangig als auf eine jugendhilferechtliche Leistung gerichtet hätte gewertet werden können, bei der behördenintern unzuständigen Stelle gestellt worden wäre. Vielmehr geht der Verwaltungsgerichtshof bei Würdigung der Gesamtumstände davon aus, dass ausdrücklich ein – nur und ausschließlich – auf Leistungen der Sozialhilfe nach § 72 BSGH gerichteter Antrag gestellt wurde, für den das Sozialamt auch zuständig war.
1.3 Auch die von dem Kläger als grundsätzlich klärungsbedürftig aufgeworfene Frage,
“ob es sich im Falle strafgerichtlicher Auflagen um unaufschiebbare Maßnahmen handelt, die keines gesonderten Jugendhilfeantrages direkt beim Jugendamt bedürfen, um Ansprüche auf SGB VIII-Leistungen zu begründen”,
rechtfertigt die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung nicht. Bei der Frage, ob eine unaufschiebbare Maßnahme vorliegt, handelt es sich um eine solche des Einzelfalles, die keiner weitergehenden abstrakten Klärung in einem Revisionsverfahren zugänglich ist. Im Übrigen ergeben sich weder aus den bindenden tatsächlichen Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofs noch aus dem Beschwerdevorbringen Anhaltspunkte für das Vorliegen einer besonderen Eilbedürftigkeit, die einer Einschaltung des Jugendhilfeträgers entgegengestanden hätte. Die Beschwerde trägt nichts dafür vor, warum es dem Hilfeempfänger bzw. der ihn betreuenden Sozialarbeiterin der Einrichtung trotz der jugendgerichtlichen Weisung nicht möglich gewesen wäre, sich am 9. Juli 2002 an das Jugendamt des Beklagten – anstatt an das tatsächlich angegangene Sozialamt – zu wenden.
1.4 Die von der Beschwerde für grundsätzlich klärungsbedürftig gehaltene Frage,
“ob § 16 Abs. 2 SGB I bereits deshalb keine Anwendung findet, weil auf dem Antragsvordruck bereits eine sozialhilferechtliche Norm (§ 72 BSHG) zu finden ist”,
rechtfertigt die Zulassung der Revision nicht. Dahingestellt kann dabei bleiben, ob dieses Vorbringen den an die Darlegung einer Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung (§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO) zu stellenden Anforderungen genügt oder im Gewande der Grundsatzrüge die einzelfallbezogene Auslegung und Anwendung von § 16 Abs. 2 SGB I angegriffen wird. Die bezeichnete Frage stellt sich nach den bindenden (§ 137 Abs. 2 VwGO) tatsächlichen Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofs und dessen differenzierter Sachverhaltswürdigung nicht. Denn der Verwaltungsgerichtshof stellt ersichtlich nicht lediglich auf die im Antragsformular angegebene Norm, sondern auf das Gesamtvorbringen des Antrags sowie darauf ab, dass aus der Behördenakte des Sozialamts auch nicht ersichtlich sei, dass der Hilfeempfänger nachträglich seinen Antrag zugleich als solchen nach dem SGB VIII verstanden wissen wollte und deshalb die Weiterleitung an das Jugendamt gewünscht habe.
1.5 Aus ähnlichen Erwägungen ermöglicht die weiter von dem Kläger für grundsätzlich klärungsbedürftig gehaltene Frage,
“ob auch im Rahmen eines Erstattungsstreites nach § 104 SGB X ein direkter beim Jugendamt gestellter Antrag des Leistungsberechtigten als Erstattungsvoraussetzung vorliegen muss, wenn das Jugendamt von der Maßnahme Kenntnis hatte und der Hilfeempfänger selbst die Maßnahme als solche wollte”,
die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung nicht. Wie oben näher ausgeführt, ist nach den bindenden Feststellungen des Berufungsgerichts nicht davon auszugehen, dass das Jugendamt Kenntnis von der Maßnahme vor deren Beginn erlangt hatte. Unabhängig hiervon bedarf die aufgeworfene Rechtsfrage keiner Klärung in einem Revisionsverfahren. Der Senat hat bereits in seinem Urteil vom 24. Juni 1999 (– BVerwG 5 C 24.98 – BVerwGE 109, 155) entschieden, dass auch im Erstattungsstreit (im konkreten Fall nach § 89 SGB VIII a.F.) maßgeblich ist, ob die zugrundeliegende Maßnahme den materiellrechtlichen Vorschriften entsprach, d.h. ob sie rechtmäßig war. Hieraus folgt, ohne dass es einer weitergehenden Klärung in einem Revisionsverfahren bedürfte, dass entsprechend dem einschlägigen materiellen Recht grundsätzlich auch entsprechende Antragserfordernisse zu beachten sind.
2. Die Revision ist auch nicht nach §§ 133, 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO wegen eines Verfahrensmangels zuzulassen.
Die mit der Beschwerde erhobene Rüge einer Verletzung der gerichtlichen Aufklärungspflicht nach § 86 Abs. 1 VwGO entspricht bereits nicht den Darlegungserfordernissen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts erfordert die Rüge einer Verletzung der gerichtlichen Aufklärungspflicht die substanziierte Darlegung, welche Tatsachen auf der Grundlage der materiellrechtlichen Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs aufklärungsbedürftig waren, welche für erforderlich und geeignet gehaltenen Aufklärungsmaßnahmen hierfür in Betracht kamen, welche tatsächlichen Feststellungen dabei voraussichtlich getroffen worden wären und inwiefern diese unter Zugrundelegung der materiellrechtlichen Auffassung des Tatsachengerichts zu einer für den Beschwerdeführer günstigeren Entscheidung hätten führen können. Weiterhin muss entweder dargelegt werden, dass bereits im Verfahren vor dem Tatsachengericht, insbesondere in der mündlichen Verhandlung, auf die Vornahme der Sachverhaltsaufklärung, deren Unterbleiben nunmehr gerügt wird, hingewirkt worden ist oder aufgrund welcher Anhaltspunkte sich dem Gericht die bezeichneten Ermittlungen auch ohne ein solches Hinwirken hätten aufdrängen müssen (stRspr; vgl. Urteil vom 22. Januar 1969 – BVerwG 6 C 52.65 – BVerwGE 31, 212; Beschluss vom 13. Juli 2007 – BVerwG 9 B 1.07 – juris). Eine derartige substanziierte Darlegung enthält die Beschwerdebegründung nicht. Der Beschwerdeführer – der im erstinstanzlichen Verfahren auf eine mündliche Verhandlung verzichtet und im Berufungsverfahren auch schriftsätzlich nicht auf eine weitergehende Sachverhaltsaufklärung hingewirkt hat – legt nicht ausreichend dar, warum sich dem Verwaltungsgerichtshof die nunmehr erforderlich gehaltene Sachverhaltsaufklärung hätte aufdrängen müssen.
Fehl geht die Annahme der Beschwerde, dem Verwaltungsgerichtshof hätte sich eine Zeugenbefragung des Hilfeempfängers T… zu der Frage, auf welcher Rechtsgrundlage er Leistungen beantragen wollte, aufdrängen müssen. Eine derartige Sachverhaltsaufklärung durch Zeugenbefragung lag bereits deshalb fern, weil – wie die Beschwerde selbst wiederholt vorträgt – der Hilfeempfänger keine genaue Kenntnis von den Zuständigkeiten bzw. den Rechtsgrundlagen für die Leistungsgewährung hatte. In Übereinstimmung hiermit wurde der Leistungsantrag auch nicht von dem Hilfeempfänger selbst, sondern für ihn von der bei dem Einrichtungsträger tätigen Sozialarbeiterin S…-W… gestellt. In Anbetracht u.a. der von der Sozialarbeiterin ausdrücklich begehrten Kostenübernahme nach § 72 BSHG sowie dem abgeschlossenen Betreuungsvertrag lag die von der Beschwerde für erforderlich gehaltene Zeugenbefragung des Hilfeempfängers fern, zumal für die Auslegung des gestellten Antrages dessen innere Vorstellungen zum Begehren dann unbeachtlich sind, wenn sie nicht einmal ansatzweise einen äußeren Niederschlag gefunden haben.
Fehl geht auch die Annahme der Beschwerde, das Stellen eines Beweisantrages sei deshalb entbehrlich gewesen, weil nach dem bisherigen Verfahren davon auszugehen gewesen sei, dass Leistungen nach dem SGB VIII begehrt werden sollten. Dem steht bereits entgegen, dass das Berufungsgericht sowohl in seinem Zulassungsbeschluss vom 16. August 2005 als auch in seinem Anhörungsschreiben zu dem Verfahren nach § 130a VwGO vom 5. Dezember 2006 ausdrücklich darauf hingewiesen hat, es fehle seiner Ansicht nach an dem erforderlichen Antrag für Leistungen nach SGB VIII.
Soweit die Beschwerde ohne nähere Substanziierung sich gegen die Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichtshofs wendet, wird ebenfalls kein Verfahrensmangel aufgezeigt. Etwaige Fehler in der Sachverhalts- und Beweiswürdigung sind nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts regelmäßig nicht dem Verfahrens-, sondern dem materiellen Recht zuzuordnen (vgl. Beschluss vom 2. November 1995 – BVerwG 9 B 710.94 – Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 266 S. 18 f.). Anhaltspunkte für das Vorliegen eines möglichen Ausnahmefalles einer gegen Denkgesetze verstoßenden oder sonst von Willkür geprägten Sachverhaltswürdigung sind von der Beschwerde nicht dargelegt.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 188 Satz 2 VwGO; die Streitwertfestsetzung folgt aus § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG.
Unterschriften
Hund, Dr. Franke, Prof. Dr. Berlit
Fundstellen