Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialhilfe für Deutsche im Ausland
Leitsatz (amtlich)
Ein besonderer Notfall, der Sozialhilfeleistungen an Deutsche im Ausland rechtfertigt, liegt dann vor, wenn eine nicht unerhebliche Beeinträchtigung existentieller Rechtsgüter droht und dieser Gefahr nur durch Hilfegewährung im Ausland begegnet werden kann, weil dem Bedürftigen eine Rückkehr nach Deutschland nicht zumutbar ist (wie Urteil vom 5. Juni 1997 – BVerwG 5 C 4.96 – zur Veröffentlichung in der amtlichen Sammlung vorgesehen).
Normenkette
BSHG §§ 119, 147b
Verfahrensgang
OVG für die Länder Niedersachsen und Schleswig-Holstein (Urteil vom 24.07.1996; Aktenzeichen 4 L 3073/95) |
VG Hannover (Entscheidung vom 04.04.1995; Aktenzeichen 3 A 159/95) |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 24. Juli 1996 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Revisionsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Tatbestand
I.
Der im März 1936 geborene deutsche Kläger lebt seit 1978 nach der Behandlung von Unfallfolgen auf Gran Canaria. Er erwarb dort eine Wohnung und bestritt seinen Lebensunterhalt mit verschiedenen Tätigkeiten im Bereich des Fremdenverkehrs. Seit längerer Zeit lebt er mit einer einheimischen Lebenspartnerin zusammen. Nachdem er nicht mehr ausreichend Arbeit fand, er sich infolge seines Gesundheitszustandes arbeitsunfähig fühlte und die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte seinen Antrag auf Erwerbsunfähigkeitsrente abgelehnt hatte, stellte der Kläger am 5. September 1994 bei der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland, Außenstelle Las Palmas de Gran Canaria, einen Antrag auf Gewährung von Sozialhilfe für Deutsche im Ausland. Den gegen die Ablehnung dieses Antrags gerichteten Widerspruch des Klägers wies der Beklagte mit im wesentlichen folgender Begründung zurück: Die Voraussetzung des § 119 BSHG in der zum 27. Juni 1993 in Kraft getretenen Fassung, daß ein besonderer Notfall gegeben sei, sei nicht erfüllt. Ein Notfall im Sinne dieser Regelung sei schon nach dem Wortsinn eine Sachlage, in der plötzlich und unvorhergesehen für den Betroffenen nachteilige Veränderungen einträten, die zwar dessen Existenz tief berührten, jedoch in aller Regel innerhalb einer mehr oder weniger kurzen Zeitspanne wieder (vollständig) beseitigt werden könnten. Dem Begriff des Notfalles wohne daher, jedenfalls was den Eintritt, aber auch grundsätzlich was dessen Ende angehe, ein zeitliches Moment des Plötzlichen inne. Dies folge aus dem Sinn und Zweck der Neuregelung des § 119 BSHG. Ihr liege die Erwägung zugrunde, daß die Gewährung von Hilfe im Ausland wegen der Höhe der Leistungen und wegen der Gefahr des Mißbrauchs zu höheren Belastungen der öffentlichen Hand führe, als sie bei der Hilfe im Inland entstünden. Bei der Beurteilung der Besonderheit des Notfalles könnten solche Umstände nicht berücksichtigt werden, die bereits die Voraussetzungen für die Hilfe nach § 11 BSHG bildeten.
Die auf die Gewährung von Sozialhilfe im Ausland gerichtete Klage des Klägers hat das Verwaltungsgericht abgewiesen und zur Begründung im wesentlichen auf die Gründe des Widerspruchsbescheides Bezug genommen. Die vom Kläger dagegen eingelegte Berufung hat das Berufungsgericht zurückgewiesen und unter Hinweis auf die Gründe der Entscheidung des Verwaltungsgerichts von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe abgesehen.
Gegen dieses Urteil richtet sich die vom Berufungsgericht zugelassene Revision des Klägers, mit der er sein Klagebegehren weiterverfolgt mit der zusätzlichen Begründung, es sei nach der Übergangsvorschrift des § 147 b Satz 2 BSHG noch nach § 119 BSHG in der bis zum 26. Juni 1993 geltenden Fassung zu beurteilen.
Der Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Der Oberbundesanwalt beim Bundesverwaltungsgericht vertritt die Auffassung, § 147 b Satz 2 BSHG sei auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist zurückzuweisen, weil sich das Berufungsurteil im Ergebnis als richtig erweist.
Zutreffend ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, daß das Begehren des Klägers auf Hilfe zum Lebensunterhalt nach § 119 BSHG in der Fassung der Bekanntmachung vom 23. März 1994 (BGBl I S. 646) zu beurteilen ist. Denn entgegen dem Verständnis des Berufungsgerichts in seinen Prozeßkostenhilfe bewilligenden und die Revision zulassenden Beschlüssen ist § 147 b Satz 2 BSHG im vorliegenden Fall nicht anwendbar. Als Übergangsregelung bestimmt § 147 b Satz 2 BSHG das Ende von „Leistungen bei fortdauernder Bedürftigkeit” und setzt damit voraus, daß sozialhilferechtlich relevante Bedürftigkeit bereits vor Inkrafttreten der Neufassung des § 119 BSHG am 27. Juni 1993 (Art. 7 Nr. 35 und Art. 43 Abs. 1 FKPG vom 23. Juni 1993 ≪BGBl I S. 944≫) bestand. Daran fehlt es. Denn der Kläger hat erst Anfang September 1994 bei der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland seine Hilfebedürftigkeit angegeben und Sozialhilfe beantragt; zuvor konnte er sich selbst helfen.
Mit der Zurückweisung der Berufung des Klägers gegen den seine Klage abweisenden Gerichtsbescheid des Verwaltungsgerichts hat das Berufungsgericht im Ergebnis zu Recht entschieden, daß dem Kläger nach § 119 BSHG kein Anspruch auf Sozialhilfe zusteht.
Gemäß § 119 Abs. 1 BSHG kann Deutschen, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland haben und dort der Hilfe bedürfen, in besonderen Notfällen Sozialhilfe gewährt werden. Die Vorschrift knüpft die in das Ermessen der Behörde gestellte Hilfeleistung an einen Deutschen mit – wie beim Kläger – gewöhnlichem Aufenthalt im Ausland nicht (mehr) nur an die Voraussetzung, daß er im Ausland der Hilfe bedarf. Vielmehr muß ein besonderer Notfall vorliegen. Wann ein solcher besonderer Notfall vorliegt, ist im Gesetz nicht ausdrücklich geregelt. Der Begriffsinhalt muß also durch Auslegung ermittelt werden. Ein Notfall ist nach dem Wortsinn eine Sachlage, welche über die allgemeine Notlage hinausgeht, die Voraussetzung einer sozialhilferechtlichen Hilfebedürftigkeit im Sinne von § 11 Abs. 1 BSHG ist. Mit dem Erfordernis einer besonderen Notlage verlangt das Gesetz das Hinzutreten besonderer Umstände, die sich ihrer Art nach von Situationen, die üblicherweise im Ausland sozialhilferechtlichen Bedarf hervorrufen, deutlich abheben. Deshalb ist die besondere Notlage auf diejenigen Fälle zu beschränken, in denen ohne die Hilfeleistung an den im Ausland lebenden und in Not geratenen Deutschen eine nicht unerhebliche Beeinträchtigung existentieller Rechtsgüter droht. Das ist dann zu bejahen, wenn durch die Not sein Leben in Gefahr ist oder bedeutender Schaden für die Gesundheit oder ein anderes vergleichbar existentielles Rechtsgut zu gewärtigen ist, dem nicht anders als durch Hilfegewährung im Ausland begegnet werden kann, weil dem Bedürftigen eine Rückkehr nach Deutschland nicht zumutbar ist. Der „besondere Notfall” als das Eintreten der Sozialhilfe im Ausland auslösender Sachverhalt unterscheidet sich aus dieser Sicht von einer „allgemeinen” sozialhilferechtlichen Notlage, die im Inland bereits eher zum Eintreten der Sozialhilfe führt, mithin dadurch, daß er erst gegeben ist, wenn die Not ein wesentliches Rechtsgut gewichtig zu schädigen droht.
Der „besondere Notfall” ist sonach zum einen durch die qualifizierende Voraussetzung eines existentielle Güter betreffenden Mangels charakterisiert, zum anderen aber abhängig von der Feststellung, daß dem Mangel nicht in zumutbarer Weise in der Bundesrepublik Deutschland abgeholfen werden kann. Ausdrücklich schließt § 119 Abs. 3 Satz 2 BSHG Sozialhilfeleistungen im Ausland aus, wenn die Heimführung des Hilfesuchenden geboten ist. Darauf, ob diese besondere Hilfebedürftigkeit plötzlich und unvorhergesehen eingetreten ist und ob sie innerhalb einer verhältnismäßig kurzen Zeitspanne wieder beseitigt werden kann, kommt es dagegen, entgegen der Annahme der Vorinstanz, nicht entscheidend an. Eine solche Einschränkung läßt sich dem Wortsinn des Begriffs des besonderen Notfalls nicht entnehmen.
Nach diesen Grundsätzen steht dem Kläger ein Anspruch auf Sozialhilfe im Ausland nicht zu. Zwar ist langfristig sogar sein Leben in Gefahr und bereits kurzfristig bedeutender Schaden für seine Gesundheit zu erwarten, wenn dem Kläger nicht ausreichend Mittel für seinen notwendigen Lebensunterhalt zur Verfügung stehen. Aber das zwingt nicht zu einer Hilfegewährung im Ausland. Denn nach den unstreitigen Tatsachen, die Grundlage des Berufungsurteils sind, ergibt sich nicht, daß es dem Kläger unzumutbar ist, nach Deutschland zurückzukehren und Hilfe im Inland zu erhalten.
Dem steht nicht entgegen, daß der Kläger auf Gran Canaria sozial integriert ist und seit vielen Jahren in eheähnlicher Gemeinschaft mit einer Spanierin lebt. Dabei kann davon ausgegangen werden, daß nicht feststeht, daß die Partnerin des Klägers diesem nach Deutschland folgen will und kann, so daß gegebenenfalls die Rückkehr des Klägers nach Deutschland zur räumlichen Trennung von seiner Partnerin und damit zum Ende ihrer bisher gelebten eheähnlichen Gemeinschaft führte. Das wäre für den Kläger sicherlich hart; gleichwohl ist ihm eine Rückkehr nach Deutschland deshalb noch nicht unzumutbar. Denn anders als die Ehe, die nach Art. 6 GG unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung steht, genießt die eheähnliche Gemeinschaft keinen vergleichbaren oder ähnlichen Schutz dahin, daß es Aufgabe der staatlichen Ordnung und damit auch der Leistungsgesetze wäre, das Entstehen und Fortbestehen der eheähnlichen Gemeinschaft zu fördern. Zwar ist die Freiheit, in eheähnlicher Gemeinschaft zu leben, Bestandteil des Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit nach Art. 2 Abs. 1 GG. Dieses Freiheitsrecht gewährleistet in den gesetzlichen Grenzen die Freiheit zu einem dem Betreffenden möglichen Tun oder Unterlassen, nicht aber gibt es ihm weitergehend einen Anspruch auf Leistungen, die den Betreffenden erst zu einem von ihm gewünschten Tun oder Unterlassen in die Lage versetzen. Art. 2 Abs. 1 GG gebietet demnach keine Auslegung des § 119 BSHG dahin, daß Sozialhilfe für Deutsche im Ausland auch zur Aufrechterhaltung einer dort bestehenden eheähnlichen Gemeinschaft gezahlt werden müßte.
Die Rückkehr nach Deutschland ist dem Kläger auch nicht deshalb unzumutbar, weil er ab März 2001 altersrentenberechtigt sei und mit dieser Rente auf Gran Canaria leben könne. Denn damit stünden dem Kläger erst nach sechseinhalb Jahren wieder ausreichende Mittel für sein Leben im Ausland zur Verfügung. Auch ist nach dem eigenen Vortrag des Klägers nicht gesichert, daß er in der Zwischenzeit eher auf Gran Canaria als in Deutschland Arbeit findet.
Schließlich ist dem Kläger die Rückkehr nach Deutschland nicht deshalb unzumutbar, weil er, wie er meint, für seinen weiteren Aufenthalt auf Gran Canaria weniger Sozialhilfe brauche als für ein Leben in Deutschland. Diesen Gesichtspunkt wird der Beklagte im öffentlichen Interesse, die Kosten der Sozialhilfe gering zu halten, bedacht haben. Für den Kläger aber ist eine möglicherweise höhere Inlandssozialhilfe kein Grund, der ihm die Rückkehr nach Deutschland unzumutbar machen und damit einen Anspruch auf Auslandssozialhilfe begründen könnte.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Gerichtskostenfreiheit auf § 188 Satz 2 VwGO.
Unterschriften
Dr. Säcker, Dr. Pietzner, Schmidt, Dr. Rothkegel, Dr. Franke
Fundstellen
Haufe-Index 1418695 |
BayVBl. 1998, 569 |
info-also 1998, 92 |