Entscheidungsstichwort (Thema)
Einsetzen der Sozialhilfe bei Kenntnis der Leistungsvoraussetzungen. Sozialhilfe. Einsetzen der – bei Kenntnis der Leistungsvoraussetzungen. Hilfe zur Pflege. Bindung an die Entscheidung der Pflegekasse über das Ausmaß der Pflegebedürftigkeit. Pflegebedürftigkeit. Bindung des Sozialhilfeträgers an die Entscheidung der Pflegekasse über das Ausmaß der –
Leitsatz (amtlich)
Eine rückwirkende Erhöhung der Pflegestufe durch die Pflegekasse begründet keinen Anspruch auf Nachbewilligung höheren Pflegegeldes nach dem Bundessozialhilfegesetz, solange der Träger der Sozialhilfe von dem erhöhten Pflegebedarf keine Kenntnis hat.
Normenkette
BSHG §§ 5, 68a
Verfahrensgang
Niedersächsisches OVG (Urteil vom 25.10.2001; Aktenzeichen 12 LB 2910/01) |
OVG für die Länder Niedersachsen und Schleswig-Holstein (Entscheidung vom 25.10.2001; Aktenzeichen 12 LB 2910/01) |
VG Göttingen (Urteil vom 09.07.2001; Aktenzeichen 2 A 2321/00) |
Tenor
Das Urteil des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 25. Oktober 2001 wird aufgehoben, soweit es unter Änderung des Urteils des Verwaltungsgerichts Göttingen vom 9. Juli 2001 die Klage hinsichtlich eines Betrages von 869,20 EUR (= 1 700 DM) abgewiesen hat. Insoweit wird die Berufung des Beklagten zurückgewiesen.
Im Übrigen wird die Revision der Klägerin zurückgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens tragen die Klägerin zu 1/3 und der Beklagte zu 2/3. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Tatbestand
I.
Die Beteiligten streiten aus Anlass einer Erhöhung der Pflegestufe über eine rückwirkende Gewährung weitergehender Sozialhilfeleistungen für die Unterbringung in einem Pflegeheim.
Die 1918 geborene Klägerin lebt in einem Alten- und Pflegeheim im Zuständigkeitsbereich des Beklagten. Sie war ursprünglich in die Pflegestufe I eingestuft und erhielt neben den Zahlungen aus der Pflegeversicherung ergänzend Hilfe zur Pflege nach dem Bundessozialhilfegesetz.
Aufgrund einer erheblichen Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes stellte die Klägerin unter dem 22. April 1999, bei der Pflegekasse eingegangenen am 23. April 1999, einen Antrag auf Leistungen der Pflegeversicherung mit dem Begehren einer Höherstufung in die Pflegestufe II.
Mit Bescheid vom 22. Juli 1999 teilte die Pflegekasse der Klägerin mit, dass nach dem Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung seit dem 22. April 1999 die Voraussetzungen der Pflegestufe II vorlägen und dass dementsprechend ab diesem Zeitpunkt ein Betrag in Höhe von 75 % des Heimentgeltes bzw. bei einem Heimentgelt von über 3 333,33 DM der pauschale monatliche Höchstbetrag von 2 500 DM geleistet werde.
Am 4. August 1999 ging bei dem Beklagten eine auf die Klägerin bezogene Kostenabrechnung des Heimes ein, in der auf der Grundlage der Pflegestufe II abgerechnet wurde. Eine Kopie des Bescheides der Pflegekasse über die Höherstufung der Klägerin erhielt der Beklagte am 21. August 1999 zur Kenntnis. Mit Bescheid vom 25. August 1999 teilte der Beklagte der Klägerin mit, dass die Heimkosten für die Zeit ab dem 4. August 1999 entsprechend der Pflegestufe II abgerechnet würden. Der Widerspruch hiergegen mit dem Begehren, die Hilfe zur Pflege bereits ab dem 22. April 1999 auf der Grundlage der Pflegestufe II zu gewähren, wurde mit Widerspruchsbescheid vom 6. November 2000 unter Hinweis auf § 5 BSHG zurückgewiesen.
Das Verwaltungsgericht hat den Beklagten unter Änderung des Ausgangsbescheides und Aufhebung des Widerspruchsbescheides verpflichtet, der Klägerin für den Zeitraum vom 22. April 1999 bis zum 3. August 1999 weitere Hilfe zur Pflege in Höhe von 2 508,18 DM zu gewähren. Diesem Anspruch der Klägerin stehe § 5 Abs. 1 BSHG nicht entgegen, weil er durch die speziellere Norm des § 68 a BSHG verdrängt werde.
Auf die Berufung des Beklagten hat das Oberverwaltungsgericht mit im Wesentlichen folgender Begründung das Urteil des Verwaltungsgerichts geändert und die Klage abgewiesen: Der Gesetzgeber habe mit der in § 68 a BSHG angeordneten Bindungswirkung in keiner Weise den das Sozialhilferecht prägenden Grundsatz, dass die Sozialhilfe dazu diene, eine gegenwärtige Notlage zu beheben, bei der Gewährung der Hilfe zur Pflege zu Gunsten einer § 5 BSHG zuwiderlaufenden „rückwirkenden” Bewilligung durchbrechen wollen. § 5 Abs. 1 BSHG stehe insoweit der der Klägerin in erster Instanz zugesprochenen weitergehenden Hilfe entgegen, weil der Beklagte im streitbefangenen Zeitraum keine Kenntnis vom Vorliegen der Voraussetzungen für die begehrte höhere Leistungsgewährung gehabt habe. Im vorliegenden Fall hätten für den Beklagten auch keine Anhaltspunkte bestanden, den Hilfefall in gesteigertem Maße im Blick zu behalten, weil der Eintritt einer Verschlechterung nicht absehbar gewesen sei. Schließlich greife auch § 16 SGB I nicht zu Gunsten der Klägerin ein, denn jedenfalls seien dem zunächst angegangenen Träger die relevanten Einkommens- und Vermögensverhältnisse nicht bekannt gewesen. Und selbst wenn bei der Pflegekasse Versäumnisse oder Unzulänglichkeiten hinsichtlich der Beratung der Klägerin festzustellen wären, könne dies allenfalls zu Ansprüchen gegen die Pflegekasse, nicht aber gegen den Beklagten führen.
Mit ihrer vom Oberverwaltungsgericht zugelassenen Revision beantragt die Klägerin, das Urteil des Oberverwaltungsgerichts abzuändern und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts mit der Maßgabe zurückzuweisen, dass der Beklagte die Zahlung von 1 282,42 EUR = 2 508,19 DM an das Pflegeheim zu bewirken habe. Sie rügt die Verletzung von § 68 a und § 93 BSHG und Art. 12 GG.
Der Beklagte verteidigt das Berufungsurteil.
Der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht vertritt, das Berufungsurteil unterstützend, die Auffassung, die Bindungswirkung des § 68 a BSHG lasse den sozialhilferechtlichen Grundsatz der Kenntnisnahme nach § 5 Abs. 1 BSHG unberührt.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision der Klägerin ist begründet, soweit sie vom Beklagten weitere Sozialhilfe in Höhe von 869,20 EUR (= 1 700 DM) begehrt. Im Übrigen ist die Revision nicht begründet.
1. Zu Recht hat das Berufungsgericht entschieden, dass der Beklagte nicht verpflichtet ist, der Klägerin bereits für die Zeit vom 22. April 1999 bis zum 3. August 1999 Hilfe zur Pflege nach Maßgabe der Pflegestufe II zu gewähren. Denn nach § 5 Abs. 1 BSHG setzt die Sozialhilfe erst ein, wenn dem Träger der Sozialhilfe oder den von ihm beauftragten Stellen bekannt wird, dass die Voraussetzungen für die Gewährung vorliegen. Dem Beklagten war zwar die bisherige Pflegebedürftigkeit der Klägerin im Ausmaß der Pflegestufe I bekannt, von ihrer erhöhten Pflegebedürftigkeit nach Pflegestufe II erfuhr er aber erst am 4. August 1999 mit Eingang der Heimkostenzwischenabrechnung vom 30. Juli 1999. Für ein früheres Einsetzen der Sozialhilfe kann nicht auf die frühere Kenntnis der Pflegekasse abgestellt werden; nicht nach § 5 Abs. 1 BSHG, weil die Pflegekasse keine vom Träger der Sozialhilfe beauftragte Stelle ist, nicht nach § 5 Abs. 2 BSHG, weil die Pflegekasse weder ein nicht zuständiger Träger der Sozialhilfe noch eine nicht zuständige Gemeinde ist, und jedenfalls deshalb auch nicht nach § 16 Abs. 2 SGB I, weil der an die Pflegekasse gerichtete Antrag auf Höherstufung auf Stufe II vom 22. April 1999, dort eingegangen am 23. April 1999, ein Antrag auf Leistungen der Pflegeversicherung bei der zuständigen Pflegekasse und nicht ein Antrag auf Leistungen der Sozialhilfe bei einem unzuständigen Sozialleistungsträger war.
Zutreffend hat das Berufungsgericht (vgl. auch Urteil vom 25. Oktober 2001 – 12 LB 2908/01 – ≪NdsRpfl 2002, 248≫) dahin erkannt, dass § 68 a BSHG § 5 BSHG nicht verdrängt (ebenso OVG Münster, Urteil vom 5. Dezember 2000 – 22 A 5487/99 – ≪FEVS 52, 320 = NVwZ-RR 2001, 766≫; VG Koblenz, Urteil vom 28. Mai 1998 – 5 K 3886/97.KO – ≪RsDE 44, 100≫). Das ergibt sich aus dem Wortlaut beider Vorschriften, ihrer systematischen Stellung im Bundessozialhilfegesetz sowie ihrer je eigenständigen, unterschiedlichen Zielrichtung und wird durch die Gesetzesmaterialien bestätigt.
Nach § 68 a BSHG bindet die Entscheidung der Pflegekasse über das Ausmaß der Pflegebedürftigkeit nach dem Elften Buch Sozialgesetzbuch die Entscheidung über die Hilfe zur Pflege nach dem Bundessozialhilfegesetz, „soweit sie auf Tatsachen beruht, die bei beiden Entscheidungen zu berücksichtigen sind”.
Bereits ihrem Wortlaut nach regelt diese Vorschrift eine Bindung nur insoweit, als die Entscheidung der Pflegekasse über das Ausmaß der Pflegebedürftigkeit auf Tatsachen beruht, die auch bei der Entscheidung über die Hilfe zur Pflege zu berücksichtigen sind. § 68 a BSHG setzt damit Regelungen, welche Tatsachen je bei den beiden Entscheidungen zu berücksichtigen sind, als bereits in anderen Normen getroffen voraus. An diese Regelungen knüpft § 68 a BSHG an, ohne aber deren Inhalt in irgendeiner Weise, sei es erweiternd, sei es einschränkend, zu ändern. Für die Sozialhilfe und damit auch für die Hilfe zur Pflege bestimmt § 5 Abs. 1 BSHG, dass sie einsetzt, sobald – aber auch erst wenn – dem Träger der Sozialhilfe oder den von ihm beauftragten Stellen bekannt wird, dass die Voraussetzungen für die Gewährung vorliegen. Damit sind Tatsachen, die dem Träger der Sozialhilfe oder den von ihm beauftragten Stellen (noch) nicht bekannt sind, bei einer Entscheidung im Rahmen der Hilfe zur Pflege nicht zu berücksichtigen.
Der Wortlautinterpretation und dem systematischen Bezug in § 68 a BSHG zwischen der Vorgabe, welche Tatsachen für beide Entscheidungen zu berücksichtigen sind, und der daran anknüpfenden Entscheidungsbindung entspricht auch die systematische Stellung des § 5 Abs. 1 einerseits und des § 68 a andererseits im Bundessozialhilfegesetz. Denn § 5 Abs. 1 BSHG steht im Abschnitt 1. Allgemeines, § 68 a BSHG hingegen im Abschnitt 3. Hilfe in besonderen Lebenslagen im Unterabschnitt 10. Hilfe zur Pflege. § 5 Abs. 1 BSHG setzt allgemein für das Einsetzen der Sozialhilfe die Kenntnis des Sozialhilfeträgers von den Leistungsvoraussetzungen voraus; § 68 a BSHG stellt das in Bezug auf das Ausmaß der Pflegebedürftigkeit nicht in Frage.
§ 5 BSHG einerseits und § 68 a BSHG andererseits haben je eigenständige und unterschiedliche Zielrichtungen. Während § 5 BSHG allgemein die Kenntnis des Sozialhilfeträgers als Voraussetzung für das Einsetzen der Sozialhilfe bestimmt, regelt § 68 a BSHG eng bezogen auf die Hilfe zur Pflege eine Bindung an die Entscheidung der Pflegekasse über das Ausmaß der Pflegebedürftigkeit. Sinn dieser Bindung ist es, unnötige Mehrfachprüfungen und -begutachtungen sowie abweichende Prüfungsergebnisse zu vermeiden. Dieses Ziel kann nur auf der Grundlage gleicher Prüfungsvoraussetzungen erreicht werden, also in den Worten des Gesetzes, „soweit sie (die Entscheidung der Pflegekasse) auf Tatsachen beruht, die bei beiden Entscheidungen zu berücksichtigen sind”.
Dieses Auslegungsergebnis wird, worauf das Berufungsgericht zu Recht hingewiesen hat, durch die Gesetzesmaterialien bestätigt. Dort heißt es zu § 68 a BSHG (BTDrucks 12/5952, S. 57 ≪zu BTDrucks 12/5920≫): „Der zweite Halbsatz stellt klar, dass dies (die Bindungswirkung) nur gelten kann, soweit aufgrund gleicher Leistungsvoraussetzungen zu entscheiden ist (Tatsachenidentität).” Danach bleiben die besonderen Leistungsvoraussetzungen für die Gewährung von Sozialhilfe unberührt.
2. Das Berufungsurteil beruht aber auf der Verletzung von Bundesrecht, soweit es die Klage hinsichtlich eines Betrages von 869,20 EUR abgewiesen hat. In dieser Höhe (entspricht 1 700 DM) hat der Beklagte der Klägerin Leistungen der Pflegekasse als Einkommen angerechnet, die sie in der streitgegenständlichen Zeit vom 22. April 1999 bis zum 3. August 1999 nicht erhalten hat. Er hat für diese Zeit zwar Sozialhilfe (zu Recht) nur nach Maßgabe der Pflegestufe I geleistet, darauf aber Leistungen der Pflegekasse auf der Grundlage der Pflegestufe II, also bezogen auf den Monat in Höhe von 2 500 DM, abgezogen. Die Anrechnung von Leistungen der Pflegekasse über die Pflegestufe I mit bezogen auf den Monat 2 000 DM hinaus war jedoch in der Zeit vom 22. April 1999 bis zum 3. August 1999 nicht berechtigt. Denn die höheren Pflegekassenleistungen sind zwar mit Bescheid vom 22. Juli 1999 rückwirkend zum 22. April 1999 bewilligt worden, aber erst später nachgezahlt worden. Jedenfalls deshalb stehen der Klägerin für die Zeit vom 22. April 1999 bis zum 3. August 1999 noch 869,20 EUR = 1 700 DM zu, nämlich je 500 DM für die Monate Mai, Juni und Juli 1999 und rund 200 DM (500 DM: 30,42 Tage × 12 Tage) für die 9 Tage im April 1999 und die 3 Tage im August 1999.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO, die Gerichtskostenfreiheit auf § 188 Satz 2 VwGO.
Unterschriften
Dr. Säcker, Schmidt, Dr. Rothkegel, Dr. Franke, Prof. Dr. Berlit
Fundstellen
Haufe-Index 924087 |
NJW 2003, 1961 |
BVerwGE 2003, 272 |
FamRZ 2003, 756 |
DÖV 2003, 507 |
FEVS 2003, 294 |
NDV-RD 2003, 72 |
ZfF 2004, 259 |
BayVBl. 2003, 440 |
DVBl. 2003, 1007 |
GV/RP 2003, 393 |
KomVerw 2003, 370 |
FuBW 2003, 769 |
FuHe 2003, 626 |
FuNds 2003, 733 |