Entscheidungsstichwort (Thema)
„Bagatellgrenze” bei der Kostenerstattung zwischen Trägern der Sozialhilfe. Kostenerstattung zwischen Trägern der Sozialhilfe, Umfang der –. Sozialhilfe, Umfang der Kostenerstattung zwischen Trägern der –
Leitsatz (amtlich)
1. Bei Überschreitung der Bagatellgrenze von 5 000 DM in § 111 Abs. 2 Satz 1 BSHG ist der gesamte Kostenbetrag voll zu erstatten (wie BVerwG 5 C 30.99, zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung vorgesehen).
2. Bei Überschreiten der Bagatellgrenze bereits in den ersten zwölf Monaten des Leistungszeitraums ist für die Erstattung der nachfolgend aufgewendeten Kosten ein erneutes Erreichen der Bagatellgrenze nicht erforderlich (wie BVerwG 5 C 30.99, zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung vorgesehen).
Normenkette
BSHG § 111 Abs. 2 S. 1
Verfahrensgang
OVG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 09.06.2000; Aktenzeichen 12 A 10403/00) |
VG Neustadt a.d. Weinstraße (Entscheidung vom 28.09.1999; Aktenzeichen 4 K 978/99) |
Tenor
Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz vom 9. Juni 2000 wird aufgehoben.
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Neustadt an der Weinstraße vom 28. September 1999 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Tatbestand
I.
Der Kläger begehrt Kostenerstattung gemäß § 107 Abs. 1 BSHG, welche der Beklagte unter Hinweis auf § 111 Abs. 2 Satz 1 BSHG verweigert.
Der Kläger hat der hilfebedürftigen Frau M. in der Zeit vom 3. Mai 1996 bis zum 30. November 1997 Sozialhilfe (laufende Hilfe zum Lebensunterhalt) gewährt. Die Hilfeempfängerin war zum 1. Mai 1996 aus dem Zuständigkeitsbereich des Beklagten in den Zuständigkeitsbereich des Klägers gezogen und wohnte dort bis zum 30. November 1997.
Unter dem 12. Juni 1996 beantragte der Kläger beim Beklagten Kostenerstattung gemäß § 107 Abs. 1 BSHG. Die innerhalb der ersten zwölf Monate nach dem Umzug, also bis zum 30. April 1997, vom Kläger erbrachten Leistungen in Höhe von 6 134,60 DM hat der Beklagte erstattet. Dagegen lehnte er die Erstattung der im Zeitraum vom 1. Mai 1997 bis zum 30. November 1997 entstandenen Aufwendungen in Höhe von 3 052,35 DM unter Hinweis auf § 111 Abs. 2 BSHG mit der Begründung ab, in diesem Zeitraum sei die Bagatellgrenze von 5 000 DM nicht überschritten worden.
Das Verwaltungsgericht hat der auf Zahlung von 3 052,35 DM gerichteten Klage stattgegeben, das Berufungsgericht hat sie mit im Wesentlichen folgender Begründung abgewiesen: Die gesonderte Anwendung der Bagatellgrenze des § 111 Abs. 2 Satz 1 BSHG auf jeden einzelnen Zeitraum der Leistungsgewährung von bis zu zwölf Monaten ergebe sich aus dem Zweck, den der Gesetzgeber nach der Begründung des Gesetzentwurfs (BTDrucks 12/4401 S. 84) mit der Änderung der Vorschrift verfolgt habe, nämlich Tatbestände und Fälle der Kostenerstattung zu reduzieren. Das Ziel, die Kostenerstattung einzuschränken, lasse sich eher erreichen, wenn man § 111 Abs. 2 Satz 1 BSHG als Festlegung von einzelnen, selbständig nebeneinander stehenden Abrechnungszeiträumen von bis zu zwölf Monaten begreife.
Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Klagebegehren weiter; er rügt Verletzung des § 111 Abs. 2 Satz 1 BSHG. Ziel und Zweck der Gesetzesänderung sei es nämlich nicht gewesen, die zu leistenden Kostenerstattungsbeträge zu reduzieren, sondern die Zahl der Kostenerstattungsfälle zu reduzieren bzw. Kostenerstattung gänzlich zu vermeiden. Sei die Bagatellgrenze – wie im Streitfall – innerhalb eines Zwölf-Monats-Zeitraums überschritten, so sei ein Kostenerstattungsfall entstanden mit der Folge, dass sodann für den gesamten Kostenerstattungsfall und nicht nur für einzelne Abrechnungszeiträume Kostenerstattung zu leisten sei.
Der Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil und schließt sich unter Bezugnahme auf die Stellungnahme des Oberbundesanwalts den Ausführungen des Berufungsgerichts an, dass sich das Ziel der Minimierung und Vermeidung der Kostenerstattung eher erreichen lasse, wenn man die Regelung des § 111 Abs. 2 Satz 1 BSHG als Festlegung selbständig nebeneinander stehender Abrechnungszeiträume von bis zu zwölf Monaten begreife.
Der Oberbundesanwalt beim Bundesverwaltungsgericht teilt die Rechtsauffassung des Berufungsgerichts. Er meint, über den Beginn des Abrechnungszeitraums und über dessen Ende, das höchstens zwölf zusammenhängende Monate nach Beginn eintrete, könne der erstattungsberechtigte Träger der Sozialhilfe selbst entscheiden. Mit dem so vom erstattungsberechtigten Träger festgelegten Ende sei dieser Abrechnungszeitraum tatsächlich abgeschlossen. Für darüber hinausgehende Sozialhilfeleistungen beginne dann ein neuer Abrechnungszeitraum, für den dieselben Voraussetzungen zu gelten hätten wie für den vorausgegangenen. Nur damit werde das Ziel des Gesetzgebers erreicht, die Kostenerstattungsansprüche auf wirtschaftlich sinnvolle Fälle zu begrenzen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision des Klägers, über die der Senat im Einverständnis mit den Beteiligten gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entscheiden kann, ist begründet. Zu Unrecht hat das Berufungsgericht angenommen, § 111 Abs. 2 Satz 1 BSHG stehe einem Erstattungsanspruch für die Zeit der Leistungsgewährung vom 1. Mai 1997 bis zum 30. November 1997, in welcher Kosten von 5 000 DM nicht (mehr) erreicht wurden, entgegen.
Gemäß der Regelung in § 111 Abs. 2 Satz 1 BSHG, welche mit Wirkung zum 1. Januar 1994 (Gesetz zur Umsetzung des Föderalen Konsolidierungsprogramms – FKPG – vom 23. Juni 1993 ≪BGBl I S. 944≫) die bisher geltende Fassung ersetzt hat, wonach „Kosten unter 400 Deutsche Mark … außer im Falle des § 107 Abs. 1 nicht zu erstatten” waren, sind „Kosten unter 5 000 Deutsche Mark, bezogen auf einen Zeitraum der Leistungsgewährung von bis zu zwölf Monaten, … nicht zu erstatten”. Nach Abrechnung und Erstattung der Kosten in Höhe von 6 134,60 DM für die Hilfegewährung vom 3. Mai 1996 bis 30. April 1997 verbleiben bezüglich der nachfolgenden Zeit der Leistungsgewährung von sieben Monaten zwar lediglich Kosten von 3 052,35 DM, also Kosten unter 5 000 DM, doch steht dies einem Kostenerstattungsanspruch nicht entgegen. Denn aufgewendete Kosten sind jedenfalls dann insgesamt zu erstatten, wenn – wie hier – bereits in den ersten zwölf Monaten des Zeitraums der Leistungsgewährung mindestens 5 000 DM erreicht werden. Dies ergibt sich aus folgenden Überlegungen:
Die Bedeutung der Formulierung in § 111 Abs. 2 Satz 1 BSHG „Kosten unter 5 000 Deutsche Mark … sind … nicht zu erstatten” erschließt sich aus dem Wortlaut nicht eindeutig. Sie könnte zunächst dahin verstanden werden, dass auch bei höheren Kosten ein Sockelbetrag von unter 5 000 DM von der Erstattung ausgenommen sein soll mit der Folge, dass die Erstattung auf den überschießenden Betrag beschränkt wäre. Unter Berücksichtigung des mit der Neuregelung des Kostenerstattungsrechts durch das Gesetz zur Umsetzung des Föderalen Konsolidierungsprogramms verfolgten Zwecks einer Begrenzung der verwaltungsaufwendigen Kostenerstattungsfälle (vgl. BTDrucks 12/4401 S. 84 zu Nr. 17: „Die Tatbestände und damit die Fälle der Kostenerstattung, die erhebliche Verwaltungskosten verursachen, sollen reduziert werden sowie eine Vereinfachung der gebliebenen Kostenerstattung und eine erste Angleichung an SGB X erreicht werden. … Gleichzeitig soll eine schnelle Entscheidung über die Hilfe sichergestellt und sollen die bisher zahlreichen Konfliktfälle zwischen Trägern der Sozialhilfe verringert werden. … Zur weiteren Begrenzung der Kostenerstattung wird die Bagatellgrenze in § 111 Abs. 2 von bisher 400 DM ohne Zeitbegrenzung auf 5 000 DM für den Zeitraum der Hilfegewährung von bis zu zwölf Monaten festgelegt.”) ist eine Bagatellgrenzenregelung jedoch nur dann sinnvoll, wenn es unterhalb der Grenze keine Erstattung und oberhalb der Grenze volle Erstattung gibt. Die Bagatellgrenzenregelung ist daher eine Entweder-oder-Regelung und der Bagatellgrenzbetrag kein immer ausgenommener Sockelbetrag, vielmehr ist beim Erreichen des Betrags von 5 000 DM der gesamte Kostenbetrag voll zu erstatten.
Auch die Bedeutung der Voraussetzung in § 111 Abs. 2 Satz 1 BSHG „bezogen auf einen Zeitraum der Leistungsgewährung von bis zu zwölf Monaten” erschließt sich nicht von selbst (vgl. zu den verschiedenen Auslegungsmöglichkeiten Schwabe in ZfF 2000, S. 217 ff.).
Die Auffassung des Oberbundesanwalts, der „Zeitraum der erstattungsfähigen Leistungsgewährung” lege Abrechnungszeiträume fest und bewirke zwischen diesen eine rechtliche Zäsur mit der Folge, dass für jeden einzelnen Abrechnungszeitraum die Überschreitung der Bagatellgrenze erforderlich sei (im Anschluss an Großmann, NDV 2000, 72), findet im Wortlaut der Bestimmung keinen Anhalt; denn weder verwendet das Gesetz den Begriff des „Abrechnungszeitraums” noch muss sich ein „Zeitraum der erstattungsfähigen Leistungsgewährung” mit dem von einer Abrechnung erfassten Zeitraum decken. Da § 111 Abs. 2 Satz 1 BSHG keine Regelungen für das Abrechnungsverfahren aufstellt, kann der Erstattungsberechtigte im Rahmen der zeitlichen Vorgabe aus § 111 SGB X seine Abrechnungszeiträume selbst wählen und ist insbesondere nicht gehalten, in vollen Zwölf-Monats-Zeiträumen abzurechnen.
Geht man entsprechend dem Gesetzeswortlaut davon aus, dass die Bagatellgrenze sich auf einen objektiv feststellbaren Leistungszeitraum und nicht auf vom Erstattungsberechtigten bestimmte, rechtlich selbständige Abrechnungszeiträume bezieht, muss es für eine Erstattung bei über zwölf Monate hinausgehenden Leistungen jedenfalls genügen, dass – wie hier – in den ersten zwölf Monaten des Zeitraums der Leistungsgewährung die Bagatellgrenze erreicht wird. Dies entspricht dem vom Gesetzgeber verfolgten Ziel einer Vereinfachung des Kostenerstattungsverfahrens und dem Erfordernis normativer Klarheit und Vorhersehbarkeit.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, die Gerichtskostenfreiheit aus § 188 Satz 2 VwGO.
Unterschriften
Dr. Säcker, Prof. Dr. Pietzner, Schmidt, Dr. Rothkegel, Dr. Franke
Fundstellen
ZfF 2003, 235 |
GV/RP 2001, 361 |