Entscheidungsstichwort (Thema)
Einkommen, Absetzung von Beträgen in angemessener Höhe für Erwerbstätige vom -. Erwerbstätige, Absetzung von Beträgen in angemessener Höhe vom Einkommen
Leitsatz (amtlich)
Die angemessene Höhe des Absetzungsbetrages für Erwerbstätige nach § 76 Abs. 2 a Nr. 1 BSHG ist mangels einer näheren Bestimmung in einer Rechtsverordnung der Bundesregierung (§ 76 Abs. 3 BSHG) durch den zuständigen Träger der Sozialhilfe entsprechend den mit der Absetzungsregelung verfolgten Zwecken zu bestimmen, zusätzliche, nach § 76 Abs. 2 Nr. 4 BSHG nicht berücksichtigte Mehraufwendungen zu decken und einen Anreiz zur Erwerbsarbeit zu geben. Eine rechtliche Bindung an die 1976 zu § 23 Abs. 4 Nr. 1 BSHG a.F. ergangenen Empfehlungen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge zur Bemessung des Mehrbedarfs für Erwerbstätige besteht dabei nicht.
Normenkette
BSHG § 76 Abs. 2a Nr. 1
Verfahrensgang
OVG für das Land NRW (Urteil vom 20.06.2000; Aktenzeichen 22 A 285/98) |
VG Köln (Urteil vom 06.11.1997; Aktenzeichen 5 K 1718/94) |
Tenor
Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 20. Juni 2000 wird aufgehoben.
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Köln vom 6. November 1997 wird zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Tatbestand
I.
Gegenstand des Revisionsverfahrens ist die Frage, wie der Absetzungsbetrag für Erwerbstätige nach § 76 Abs. 2 a Nr. 1 BSHG zu bemessen ist.
Die 1963 geborene Klägerin nahm nach Abschluss ihres Studiums der Sozialarbeit am 1. Oktober 1992 beim Beklagten eine Halbtagstätigkeit als Berufspraktikantin (Sozialarbeiterin im Anerkennungsjahr) auf. Der Beklagte leistete ihr und ihrem 1990 geborenen Sohn ergänzende Hilfe zum Lebensunterhalt bis einschließlich August 1993 unter Berücksichtigung eines Mehrbedarfs wegen Erwerbstätigkeit auf der Grundlage von § 23 Abs. 4 Nr. 1 BSHG a.F. in Höhe von zuletzt 254,65 DM; den Mehrbedarf ermittelte der Beklagte entsprechend den Empfehlungen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge ausgehend von 25 v.H. des im jeweiligen Monat maßgeblichen Regelsatzes eines Haushaltsvorstandes und einem Zuschlag in Höhe von 15 v.H. des den Grundbetrag übersteigenden Einkommens. Ab September 1993 legte der Beklagte seinen Sozialhilfezahlungen statt eines Mehrbedarfs einen Einkommensfreibetrag zu Grunde, den er ausgehend von 1/8 des Regelsatzes eines Haushaltsvorstandes (Grundfreibetrag) zuzüglich 10 v.H. des übersteigenden Einkommens (Steigerungsbetrag) und der Gesamtsumme nach begrenzt auf höchstens 1/3 des Regelsatzes eines Haushaltsvorstandes mit 154,78 DM berechnete; hierdurch ermäßigten sich die Sozialhilfeleistungen um 99,87 DM. Dies erläuterte der Beklagte in einer formularmäßigen „Anlage zum Sozialhilfebescheid für den Monat September 1993” mit dem Wegfall des Mehrbedarfszuschlags für Erwerbstätige zum 1. Juli 1993 und einer von der Stadt Köln als örtlichem Sozialhilfeträger getroffenen Regelung zur Berechnung eines Erwerbstätigenfreibetrags.
Gegen die Neuberechnung legte die Klägerin Widerspruch ein, den der Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 5. April 1994 mit der Begründung zurückwies, bis zum Erlass einer Rechtsverordnung auf der Grundlage von § 76 Abs. 3 BSHG stehe die Feststellung, inwieweit ein Einkommensfreibetrag als angemessen im Sinne des § 76 Abs. 2 a BSHG anzusehen sei, im pflichtgemäßen Ermessen des zuständigen Sozialhilfeträgers; er – der Beklagte – habe hierzu inzwischen „eigene Berechnungsmodalitäten” entwickelt; danach ergebe sich für die Klägerin „seit dem 01.09.1993” ein Einkommensfreibetrag von 154,78 DM.
Das Verwaltungsgericht hat die Klage, mit der es der Klägerin um die Berücksichtigung eines Einkommensfreibetrages in Höhe von monatlich 254,65 DM für die Zeit vom 1. September 1993 bis 30. April 1994 ging, abgewiesen und dies u.a. damit begründet, der Freibetrag gemäß § 76 Abs. 2 a Nr. 1 BSHG sei im Falle der Klägerin angemessen, insbesondere auch, soweit er die Funktion habe, zwecks Stärkung des Selbsthilfewillens einen spürbaren Anreiz für eine Erwerbstätigkeit zu bieten; die konkrete Lebenssituation der Klägerin sei auch ohne äußere finanzielle Stimulierung durch ein höheres Maß von Selbstmotivation geprägt.
Das Oberverwaltungsgericht (ZFSH/SGB 2001, 602) hat den Beklagten für die Zeit vom 1. September 1993 bis 30. April 1994 zur Gewährung von Sozialhilfe verpflichtet, die sich daraus ergibt, dass vom Einkommen der Klägerin nach § 76 Abs. 2 a Nr. 1 BSHG ein Betrag in Höhe von 25 v.H. des für sie maßgeblichen Regelsatzes zuzüglich 15 v.H. des diesen Betrag übersteigenden Einkommens, höchstens aber 50 v.H. des Regelsatzes, abgesetzt werden. Das Berufungsurteil ist im Wesentlichen folgendermaßen begründet:
Bei dem Begriff „angemessene Höhe” im Sinne von § 76 Abs. 2 a Nr. 1 BSHG handele es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, dessen Anwendung uneingeschränkter gerichtlicher Nachprüfung unterliege. Thematisch und seinem Wortlaut nach stehe § 76 Abs. 2 a BSHG in engem Zusammenhang mit der bis zu seinem In-Kraft-Treten geltenden Mehrbedarfsregelung in § 23 Abs. 4 Nr. 1 BSHG a.F., wonach für Erwerbstätige über den Regelbedarf hinaus ein Mehrbedarf „in angemessener Höhe” anzuerkennen gewesen sei. Die Übernahme des Begriffs „in angemessener Höhe” durch § 76 Abs. 2 a Nr. 1 BSHG zeige, dass mit der Neuregelung nicht die Absicht verbunden sei, den Mehrbedarf der Erwerbstätigen geringer als bisher anzusetzen; vielmehr habe der Gesetzgeber die spezifische Bedarfslage der Erwerbstätigen lediglich gesetzessystematisch neu zugeordnet. Der Absetzungsbetrag nach § 76 Abs. 2 a Nr. 1 BSHG sei im Regelfall auch weiterhin nach Maßgabe der Empfehlungen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge zu Inhalt und Bemessung des gesetzlichen Mehrbedarfs nach dem Bundessozialhilfegesetz zu ermitteln; die Heranziehung dieser Empfehlungen könne als antizipiertes Sachverständigengutachten bis zum Erlass einer Rechtsverordnung nach § 76 Abs. 3 BSHG eine gleichmäßige Rechtsanwendung bei der Bemessung des Absetzungsbetrages gewährleisten. Die Tatsache, dass die Empfehlungen des Deutschen Vereins aus dem Jahr 1976 stammten, wecke keine durchgreifenden Zweifel an ihrer derzeitigen Aussagekraft. Die von den Empfehlungen vorgeschlagene Berechnungsformel sei noch im Gesetzgebungsverfahren zur Änderung des Prozesskostenhilferechts im Jahre 1994 herangezogen worden, um den Absetzungsbetrag gemäß § 76 Abs. 2 a Nr. 1 BSHG zu bemessen (Begründung des Regierungsentwurfs eines PKH-ÄndG, BTDrucks 12/6963, S. 12). Ausgehend hiervon ergebe sich im Falle der Klägerin für September 1993 exemplarisch ein Absetzungsbetrag von 247,60 DM. Die Klägerin habe sich nicht in einer Situation befunden, die ausnahmsweise eine Abweichung von dieser typisierenden Berechnung rechtfertige.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Beklagten. Er rügt die Verletzung materiellen Rechts.
Die Klägerin tritt der Revision unter Bezugnahme auf das Berufungsurteil entgegen.
Der Oberbundesanwalt beim Bundesverwaltungsgericht unterstützt ebenfalls die Auffassung des Berufungsgerichts.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision des Beklagten ist begründet. Das Oberverwaltungsgericht hat das die Klage abweisende Urteil des Verwaltungsgerichts unter Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO) geändert, so dass das Berufungsurteil aufzuheben und das erstinstanzliche Urteil unter Zurückweisung der hiergegen eingelegten Berufung wieder herzustellen ist (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwGO).
Das Berufungsurteil steht mit § 76 Abs. 2 a Nr. 1 BSHG in der Fassung des Gesetzes vom 23. Juni 1993 (BGBl I S. 944) – F. 1993 – nicht im Einklang. Nach dieser Vorschrift sind bei Erwerbstätigen von dem Einkommen ferner (d.h. nach den Absetzungen nach Absatz 2 der Vorschrift) „Beträge in jeweils angemessener Höhe” abzusetzen.
Zwar hat das Berufungsgericht zu Recht entschieden, dass der Begriff der „angemessenen Höhe” hier ein unbestimmter Rechtsbegriff ist, dessen richtige Auslegung und Anwendung uneingeschränkter gerichtlicher Prüfung unterliegen (vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Oktober 1989 – BVerwG 5 C 30.86 – ≪Buchholz 436.0 § 84 BSHG Nr. 1 = FEVS 39, 93≫ zum Begriff „in angemessenem Umfang” in § 84 Abs. 1 BSHG). Der Gesetzgeber hat den vom Einkommen abzusetzenden Betrag nach § 76 Abs. 2 a Nr. 1 BSHG nicht, wie jetzt etwa in § 76 Abs. 2 Nr. 5 BSHG in der Fassung des Gesetzes vom 22. Dezember 1999 (BGBl I S. 2552) bei der Absetzung für Kinder, auf einen bestimmten Betrag fixiert; er hat auch nicht angeordnet, dass der Absetzungsbetrag nach § 76 Abs. 2 a Nr. 1 BSHG, wie etwa die Mehrbedarfe nach § 23 Abs. 1 bis 3 BSHG, mit Prozentsätzen des maßgebenden Regelsatzes zu bemessen oder, wie jetzt etwa der Betrag nach § 85 Abs. 2 Satz 1 BSHG in der Fassung des Gesetzes vom 19. Juni 2001 (BGBl I S. 1046), nach zusätzlichen rechnerischen Vorgaben zu ermitteln sei. Das Berufungsgericht ist weiter zutreffend davon ausgegangen, dass für die Bestimmung der angemessenen Höhe im Sinne von § 76 Abs. 2 a Nr. 1 BSHG und die Konkretisierung auf bestimmte Absetzungsbeträge maßgeblich auf den Regelungszweck dieser Vorschrift unter Beachtung der dem Sozialhilferecht insgesamt innewohnenden Zielsetzungen abzustellen ist.
Zu Unrecht aber legt das Berufungsgericht der Anwendung des § 76 Abs. 2 a Nr. 1 BSHG für den hier streitigen Zeitraum (September 1993 bis April 1994) die Empfehlungen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge (DV) für die Ermittlung der angemessenen Höhe des Mehrbedarfs für Erwerbstätige nach § 23 BSHG a.F. aus dem Jahre 1976 (Inhalt und Bemessung des gesetzlichen Mehrbedarfs nach dem Bundessozialhilfegesetz, Kleinere Schriften des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, Heft 55, Eigenverlag des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, Frankfurt am Main 1976) als maßgebliches antizipiertes Sachverständigengutachten zugrunde. Dem stehen folgende Gründe entgegen: Der DV hat nur „Empfehlungen” gegeben (DV, a.a.O., S. 57: „Die Empfehlungen enthalten Anhaltspunkte, nach denen der gesetzliche Mehrbedarf in einer dem Einzelfall gerecht werdenden Höhe anerkannt werden kann”); die Erläuterungen samt Anlagen zu den Empfehlungen des DV enthalten, soweit sie sich mit einem erhöhten Ernährungsaufwand und mit erforderlichen Mehraufwendungen für Körperpflege, für die Instandsetzung von Kleidung, Wäsche und Schuhen sowie für zusätzliche Bedürfnisse des täglichen Lebens befassen (DV, a.a.O., S. 56, 61, 78 f.), keine konkreten Feststellungen; die Empfehlungen von 1976 berücksichtigen die bis dahin eingetretenen Lohnentwicklungen (DV, a.a.O., S. 57), nicht dagegen spätere Preis- und Lohnentwicklungen und andere beachtliche tatsächliche Veränderungen, insbesondere auf dem Arbeitsmarkt, in der Zeit von 1976 bis 1993; die Empfehlungen von 1976 beziehen sich auf den Mehrbedarf für eine Erwerbstätigkeit nach § 23 BSHG a.F. und die damals geltende Rechtslage, nicht dagegen auf den nach der systematischen Umstellung 1993 nunmehr in § 76 Abs. 2 a Nr. 1 BSHG geregelten Einkommensabsetzungsbetrag und die für die streitgegenständliche Zeit geltende Rechtslage.
Mit der Annahme, die Empfehlungen des DV seien auch noch bei der Anwendung des § 76 Abs. 2 a Nr. 1 BSHG maßgeblich, trägt das Berufungsgericht der systematischen Umstellung im Gesetz von § 23 Abs. 4 Nr. 1 BSHG i.d.F. vom 10. Januar 1991 (BGBl I S. 94) – F. 1991 – (Mehrbedarf) auf § 76 Abs. 2 a Nr. 1 BSHG F. 1993 (Absetzungsbetrag) nicht hinreichend Rechnung. Zwar hat das Berufungsgericht zutreffend gesehen, dass ein thematischer Zusammenhang zwischen § 23 Abs. 4 Nr. 1 BSHG F. 1991 einerseits und § 76 Abs. 2 a Nr. 1 BSHG F. 1993 andererseits besteht (vgl. auch BVerwGE 96, 246 ≪250, 252≫), und zu Recht angenommen, dass der Regelungszweck des § 23 Abs. 4 Nr. 1 BSHG F. 1991 (s. dazu BVerwGE 96, 246 ≪251≫) sich in § 76 Abs. 2 a Nr. 1 BSHG F. 1993 dahin fortsetzt, dass der abzusetzende Betrag zum einen der Deckung eines durch Erwerbsarbeit entstehenden zusätzlichen Bedarfs und zum anderen als Anreiz zu Erwerbsarbeit dient. Der Vorinstanz ist ferner einzuräumen, dass – auch vom Oberbundesanwalt in den Vordergrund gestellte – Vorstellungen im Gesetzgebungsverfahren dahin gingen, die Umwandlung des „Erwerbstätigenzuschlag(s) … in einen Freibetrag” sei eine „technische Änderung, durch die die Sozialhilfeempfänger nicht schlechtergestellt werden als bisher” (BTDrucks 12/4801, S. 147). Dies genügt aber nicht für die Annahme, trotz der systematischen Umstellung sei der für die Rechtsauslegung maßgebliche Kontext unverändert geblieben. Vielmehr ist mit der systematischen Umstellung der Begriff „in angemessener Höhe” nicht mehr bezogen auf eine Mehrbedarfsleistung, sondern bezogen auf einen Einkommensabsetzungsbetrag zu bestimmen. So konnte z.B. ein einmaliger Bedarf, z.B. für Bekleidung, in den gesetzlichen Mehrbedarf für Erwerbstätige nach § 23 BSHG a.F. nicht einbezogen werden (vgl. DV, a.a.O., S. 55; Berufungsurteil S. 25); dagegen stünde systematisch nichts entgegen, auch einen einmaligen Bedarf im Rahmen des Absetzungsbetrages nach § 76 Abs. 2 a Nr. 1 BSHG F. 1993 zu berücksichtigen. Neben dieser systematischen Umstellung sind aber auch andere geänderte Rechtsvorschriften, z.B. § 22 Abs. 3 Satz 4 BSHG F. 1993 (s. jetzt § 22 Abs. 4 BSHG in der Fassung des Gesetzes vom 23. Juli 1996 ≪BGBl I S. 1088≫ – F. 1996 –) betreffend das Lohnabstandsgebot, für die Auslegung des § 76 Abs. 2 a Nr. 1 BSHG zu beachten.
Bei der Frage, ob der Beklagte Einkommen in angemessener Höhe abgesetzt hat, indem er vom Einkommen der Klägerin einen Sockelbetrag in Höhe von 12,5 % des Regelsatzes und einen Steigerungsbetrag in Höhe von 10 % des diesen Sockelbetrag übersteigenden Einkommens abgesetzt hat, ist mit dem Berufungsgericht davon auszugehen, dass der Absetzungsbetrag nach § 76 Abs. 2 a Nr. 1 BSHG F. 1993 zum einen der Deckung eines durch Erwerbsarbeit entstehenden zusätzlichen Bedarfs und zum anderen als Anreiz zu Erwerbsarbeit dienen soll.
Bei dem Teil des Absetzungsbetrages, der der Deckung eines durch Erwerbsarbeit entstehenden zusätzlichen Bedarfs dienen soll, ist zu beachten, dass die mit der Erzielung des Einkommens verbundenen notwendigen Ausgaben bereits nach § 76 Abs. 2 Nr. 4 BSHG F. 1993 abzusetzen sind. Da die Aufzählung solcher Ausgaben in § 3 Abs. 4 der Verordnung zur Durchführung des § 76 des Bundessozialhilfegesetzes nicht abschließend ist („vor allem”), sind bereits nach § 76 Abs. 2 Nr. 4 BSHG F. 1993 eigentlich alle notwendigen Aufwendungen wegen des durch Erwerbstätigkeit entstehenden zusätzlichen Bedarfs abzusetzen. Deshalb verbleiben für den Absetzungsbetrag nach § 76 Abs. 2 a Nr. 1 BSHG F. 1993 nur diejenigen erwerbsbedingten (kleineren) Mehraufwendungen, deren Einzelnachweis unverhältnismäßig aufwändig wäre.
Bei der Bemessung des Teiles des Absetzungsbetrages, der als Anreiz zu Erwerbsarbeit dienen soll, sind vor allem folgende Gesichtspunkte von Bedeutung:
Zunächst ist davon auszugehen, dass Sozialhilfe das unterste soziale Netz ist, dass also Sozialhilfe nicht erhält, wer sich selbst helfen kann (§ 2 Abs. 1 BSHG). Dementsprechend bestimmt § 18 Abs. 1 BSHG: Jeder Hilfesuchende muss seine Arbeitskraft zur Beschaffung des Lebensunterhalts für sich und seine unterhaltsberechtigten Angehörigen einsetzen. Folglich hätte bereits nach § 2 Abs. 1 BSHG keinen Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt, wer seinen Lebensunterhalt durch Arbeit verdienen kann. Speziell regelt das § 25 Abs. 1 BSHG in seiner in der streitgegenständlichen Zeit geltenden Fassung dahin, dass keinen Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt hat, wer sich weigert, zumutbare Arbeit zu leisten (in der jetzt geltenden Fassung bestimmt § 25 Abs. 1 Satz 2 BSHG: Die Hilfe ist in einer ersten Stufe um mindestens 25 v.H. des maßgebenden Regelsatzes zu kürzen). Diese Abhängigkeit des Anspruchs auf Hilfe zum Lebensunterhalt von der Unmöglichkeit, zumutbare Arbeit zu leisten, wirkt sich auf die Frage aus, inwieweit es nach § 76 Abs. 2 a Nr. 1 BSHG eines weiteren Anreizes zur Erwerbsarbeit bedarf; denn bereits die Aussicht, bei Verweigerung zumutbarer Arbeit keine Sozialhilfe zu erhalten, ist geeignet, als Anreiz zu wirken, Arbeit aufzunehmen. Dieser gleichsam in der Furcht vor einer Kürzung oder Versagung der Sozialhilfe und damit in der Abwendung negativer Folgen begründete Anreiz zur Arbeit ist aber davon abhängig, dass der Sozialhilfeträger dem Hilfesuchenden vorhalten kann, dass er zumutbare Arbeit verweigere. Darüber hinaus will § 76 Abs. 2 a Nr. 1 BSHG dem Hilfeempfänger einen weiteren Anreiz, diesmal mit der positiven Folge der Belassung von Einkommensteilen bieten, damit er verstärkt nach Möglichkeiten suche, seinen Lebensunterhalt mit Arbeit zu verdienen. Bei der Suche nach der angemessenen Höhe des für diesen Anreiz einzustellenden Betrages ist einerseits zu berücksichtigen, dass der Hilfeempfänger zur Selbsthilfe und damit zur Arbeit verpflichtet ist, und andererseits, dass der gewünschte Anreiz nur mit einem Betrag erreicht werden kann, der den Hilfeempfänger bezogen auf Sozialhilfeniveau nicht nur unwesentlich finanziell besserstellt.
Bei der Bestimmung der angemessenen Höhe des für den Anreiz einzustellenden Betrages ist weiter zu bedenken, dass einerseits zwar (aber auch nur dann) eine Entlastung der Sozialhilfe eintritt, wenn infolge des Absetzungsbetrages nach § 76 Abs. 2 a Nr. 1 BSHG das Einkommen den Bedarf und den Sockelbetrag übersteigt, dass aber andererseits der Absetzungsbetrag in allen denjenigen Sozialhilfefällen zu höheren Sozialhilfeleistungen führt, in denen die Einkommen nicht wesentlich über dem Bedarf und dem Sockelbetrag liegen.
Zwar kann die jetzt geltende Regelung in § 18 Abs. 5 BSHG in der Fassung des Gesetzes vom 6. August 1998 (BGBl I S. 2005), wonach der Träger der Sozialhilfe den Hilfeempfänger zur Überwindung von Hilfebedürftigkeit bei der Eingliederung in den allgemeinen Arbeitsmarkt fördern soll und dem Hilfeempfänger zu diesem Zweck bei Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen oder selbständigen Erwerbstätigkeit ein der Höhe und der Zeit nach begrenzter Zuschuss gewährt werden kann, für die Auslegung des § 76 Abs. 2 a Nr. 1 BSHG F. 1993 für die streitgegenständliche Zeit keine Rolle spielen. Auf die Bemessung der Gesamthöhe des Absetzungsbetrages nach dieser Bestimmung können aber Vorschriften Einfluss haben, die auf ihn Bezug nehmen. Dabei sind allerdings die Vorschriften für die Auslegung des Begriffes „in angemessener Höhe” ohne Bedeutung, die, wie jetzt § 115 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 ZPO, die in § 76 Abs. 2 a BSHG bezeichneten Beträge lediglich übernehmen. Von Gewicht ist jedoch § 22 Abs. 3 Satz 4 BSHG F. 1993 (s. jetzt § 22 Abs. 4 BSHG F. 1996), weil dort der nach § 76 Abs. 2 a Nr. 1 BSHG abzusetzende Betrag in die Berechnung des sog. Lohnabstandsgebotes einbezogen ist. Ausgehend davon, dass für die Festsetzung der Regelsätze nach § 22 Abs. 2 und 3 BSHG F. 1993 (s. jetzt § 22 Abs. 2 bis 5 BSHG in der Fassung des Gesetzes vom 25. Juni 1999 ≪BGBl I S. 1442≫) die jeweils erzielten monatlichen durchschnittlichen Nettoarbeitsentgelte unterer Lohn- und Gehaltsgruppen vorgegebene Größen sind, ist die Höhe des Absetzungsbetrages nach § 76 Abs. 2 a Nr. 1 BSHG für die Festsetzung der Regelsätze relevant. Ein niedrigerer Betrag nach § 76 Abs. 2 a Nr. 1 BSHG lässt einer Festsetzung der Regelsätze nach oben Raum, ein höherer Betrag drückt das mögliche Regelsatzniveau. Dem kann nicht entgegen gehalten werden, die Regelsätze seien für die streitgegenständliche Zeit und in der Folge nicht nach § 22 Abs. 2 und 3 BSHG F. 1993 bzw. § 22 Abs. 2 bis 5 BSHG F. 1996, sondern nach § 22 Abs. 4 BSHG F. 1993 bzw. § 22 Abs. 6 BSHG F. 1996 durch Bundesgesetz geändert worden. Denn zum einen gelten davon unberührt die gesetzlichen Vorgaben für die Festsetzung von Regelsätzen nach § 23 Abs. 2 und 3 BSHG F. 1993 bzw. § 23 Abs. 2 bis 5 BSHG F. 1996 fort und zum anderen wirkt die in § 22 Abs. 3 Satz 4 BSHG F. 1993 bzw. § 22 Abs. 4 BSHG F. 1996 festgelegte Relation zwischen Absetzungsbetrag nach § 76 Abs. 2 a Nr. 1 BSHG und Regelsatz bei einem durch Bundesgesetz festgelegten Regelsatz auf den Absetzungsbetrag nach § 76 Abs. 2 a Nr. 1 BSHG derart zurück, dass dessen Höhe das Lohnabstandsgebot wahren muss.
Der Gesetzgeber hat, wie ausgeführt, die Höhe des Absetzungsbetrages, deren Festlegung durch an den gesetzlichen Zwecken dieses Betrages und auch seinen möglichen Auswirkungen auf die Regelsatzhöhe orientierte rechtspolitische Vorgaben geprägt ist, nicht selbst festgelegt, sondern die Bestimmung der angemessenen Höhe der Rechtsauslegung und -anwendung überlassen. Die Bundesregierung hat von ihrer Ermächtigung in § 76 Abs. 3 BSHG, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates Näheres über die Beträge nach § 76 Abs. 2 a BSHG zu bestimmen, bisher keinen Gebrauch gemacht. Deshalb obliegt es dem Beklagten als Rechtsanwender, den Begriff der angemessenen Höhe in § 76 Abs. 2 a Nr. 1 BSHG auszulegen und die Norm dementsprechend anzuwenden. Dem Gericht obliegt die Überprüfung, ob die Auslegung und Anwendung des § 76 Abs. 2 a Nr. 1 BSHG durch den Beklagten rechtmäßig ist.
Vor dem dargestellten systematischen Hintergrund sowie Sinn und Zweck der Vorschrift sind die Auslegung und Anwendung des § 76 Abs. 2 a Nr. 1 BSHG und die Ausfüllung seines Tatbestandsmerkmals „angemessene Höhe” im Streitfall dahin, vom Einkommen einen Betrag in Höhe von 12,5 % des Regelsatzes für einen Haushaltsvorstand (Sockelbetrag) zuzüglich 10 % des übersteigenden Einkommens (Steigerungsbetrag) abzusetzen, revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Bezogen auf den Regelsatz für einen Haushaltsvorstand in der streitgegenständlichen Zeit in Höhe von 514 DM betrug der Sockelbetrag (12,5 % =) 64,25 DM. Damit zuzüglich des Steigerungsbetrages von 10 % des übersteigenden Einkommens der Klägerin ist den Zwecken des § 76 Abs. 2 a Nr. 1 BSHG, zum einen durch Erwerbsarbeit entstehende zusätzliche, nach § 76 Abs. 2 Nr. 4 BSHG nicht bereits berücksichtigte Mehraufwendungen zu decken und zum anderen einen zusätzlichen Anreiz zu Erwerbsarbeit zu geben, hinreichend Rechnung getragen.
Der Streitfall gibt keinen Anlass zur Prüfung, ob von dieser Bestimmung der angemessenen Höhe im Sinne des § 76 Abs. 2 a Nr. 1 BSHG gegebenenfalls im Einzelfall wegen Besonderheiten abzuweichen ist. Solche waren hier im Revisionsverfahren nicht zu berücksichtigen. Zum einen hat der Beklagte die von der Klägerin geltend gemachten Kinderbetreuungskosten bereits deshalb nicht vom Einkommen abgesetzt, weil er die Betreuung des Kindes ohne Kosten für die Klägerin hätte sicherstellen können; außerdem wären solche Kosten, soweit erwerbstätigkeitsbedingt, nicht nach § 76 Abs. 2 a Nr. 1 BSHG, sondern nach § 76 Abs. 2 Nr. 4 BSHG abzusetzen. Zum anderen hat der Beklagte, wie die formularmäßige Anlage zum Sozialhilfebescheid für den Monat September 1993 belegt, seine Berechnung des Absetzungsbetrages nach § 76 Abs. 2 a Nr. 1 BSHG von diesem Zeitpunkt ab allgemein geändert, im Falle und zu Lasten der Klägerin also gerade nicht deshalb, weil sie für ihre Arbeit im Anerkennungsjahr bereits wegen der Aussicht auf ihre spätere Berufstätigkeit ausreichend motiviert gewesen sei.
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 21.12.2001 durch Müller Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
Fundstellen
Haufe-Index 738160 |
BVerwGE, 331 |
FamRZ 2002, 1027 |
DÖV 2003, 302 |
FEVS 2002, 289 |
NDV-RD 2002, 41 |
ZfSH/SGB 2002, 399 |
DVBl. 2002, 921 |
info-also 2002, 177 |