Verfahrensgang
OVG für das Land NRW (Urteil vom 17.12.2012; Aktenzeichen 12 A 1949/12) |
VG Düsseldorf (Entscheidung vom 30.07.2012) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers werden das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 17. Dezember 2012 und der Gerichtsbescheid des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 30. Juli 2012 geändert.
Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 10 070,81 EUR nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit zu zahlen.
Der Beklagte trägt die Kosten des gesamten Verfahrens.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten um das Bestehen eines sozialrechtlichen Kostenerstattungsanspruchs.
Der klagende Träger der Sozialhilfe begehrt von dem beklagten Landkreis Erstattung der im Zeitraum vom 1. September 2007 bis zum 31. Dezember 2007 angefallenen Kosten der Unterbringung einer körperlich behinderten Schülerin in dem Internat eines Gymnasiums in Bayern. Der Kläger vertritt die Ansicht, das Amt für Ausbildungsförderung des Beklagten sei vorrangig zur Übernahme der streitgegenständlichen Internatskosten in Höhe von 10 070,81 EUR verpflichtet. Demgegenüber geht der Beklagte davon aus, nicht erstattungspflichtig zu sein, weil bei ihm für den vorgenannten Zeitraum ein Leistungsantrag nicht gestellt worden sei.
Antrag, Klage und Berufung blieben erfolglos. Das Oberverwaltungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, zwar scheitere ein Anspruch des Klägers aus § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X nicht daran, dass keine gleichartigen Leistungsansprüche vorlägen. Auch sei der Kläger als Träger der Sozialhilfe grundsätzlich nur nachrangig verpflichtet. Es bestehe jedoch kein (vorrangiger) Anspruch auf Ausbildungsförderung, weil für den streitgegenständlichen Zeitraum entsprechende Leistungen nicht nach § 46 BAföG beantragt worden seien. Damit fehle eine sachlich-rechtliche und insoweit unverzichtbare Voraussetzung für die Gewährung von Ausbildungsförderung. § 46 BAföG schütze nicht nur die Dispositionsfreiheit und das Selbstbestimmungsrecht des Leistungsberechtigten. Der Antrag sei über § 15 Abs. 1 BAföG, wonach frühestens vom Beginn des Antragsmonats an geleistet werde, auch untrennbar mit dem Beginn der Förderung verknüpft. Zudem binde § 28 Abs. 2 BAföG die Vermögensanrechnung an den Zeitpunkt der Antragstellung. Da der erstattungspflichtige Träger dem Erstattungsberechtigten nur das zu erstatten habe, was er auch gegenüber dem Berechtigten zu leisten habe, bestehe mangels Antrags keine Erstattungspflicht. Aus der durch § 95 SGB XII eröffneten Möglichkeit des Trägers der Sozialhilfe, einen Antrag auf Ausbildungsförderung für die Berechtigte zu stellen, folge nichts anderes. Der Sozialhilfeträger könne eine Vereitelung der gesetzlich vorgesehenen Verteilung der Kostenlast durch den Berechtigten durch einen eigenen Antrag verhindern, so dass für einen Verzicht auf das Antragserfordernis im Erstattungsstreit kein Grund bestehe.
Mit seiner Revision macht der Kläger geltend, das Berufungsurteil verletze durch eine unzutreffende Auslegung und Anwendung des § 104 SGB X i.V.m. § 95 SGB XII Bundesrecht. Als Träger der Sozialhilfe sei er nur nachrangig für die Hilfeleistung verantwortlich gewesen. Vorrangig habe die Übernahme der Internatskosten dem Amt für Ausbildungsförderung des Beklagten oblegen. Einem Kostenerstattungsanspruch des nachrangig verpflichteten Sozialleistungsträgers stehe nicht entgegen, dass für den streitgegenständlichen Zeitraum bei dem vorrangig verpflichteten Träger kein Antrag gestellt worden sei. Das Fehlen eines Leistungsantrags sei für den Erstattungsanspruch nur dann beachtlich, wenn der Zweck des Antragserfordernisses darin bestehe, (auch) die Dispositionsfreiheit und das Selbstbestimmungserfordernis des Leistungsberechtigten zu schützen. Daran fehle es, wenn der erstattungsberechtigte Sozialleistungsträger – wie hier – anstelle des Leistungsberechtigten die Sozialleistungen beantragen könne. Diese für das Versorgungsrecht entwickelten Grundsätze seien auf den vorliegenden Fall zu übertragen, weil § 95 SGB XII ebenso wie § 27i BVG eine Antragstellung durch den erstattungsberechtigten Sozialleistungsträger ermögliche. Das von dem Oberverwaltungsgericht begründete Antragserfordernis bedeute für die Praxis eine unnötige Formalie. Sinn und Zweck der §§ 102 ff. SGB X geböten es, die Finanzierungslast dem im vielfältig gegliederten Sozialleistungssystem vorrangig verpflichteten Leistungsträger zu überantworten. Es stehe nicht im Belieben des Leistungsberechtigten, die gesetzlich vorgegebene Lastenverteilung zwischen den Sozialleistungsträgern durch Stellung oder Nichtstellung von Anträgen zu korrigieren.
Der Beklagte und der Vertreter des Bundesinteresses verteidigen das angefochtene Urteil.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist begründet. Das Oberverwaltungsgericht hat die Erstattungsklage zu Unrecht abgewiesen. Dem Kläger steht gegen den Beklagten ein Anspruch auf Zahlung von 10 070,81 EUR aus § 104 Abs. 1 Satz 1 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch i.d.F. der Bekanntmachung vom 18. Januar 2001 (BGBl I S. 130), zuletzt geändert am 25. Juli 2013 (BGBl I S. 2749), – SGB X – zu.
Gemäß § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist für den Fall, dass ein nachrangig verpflichteter Leistungsträger Sozialleistungen erbracht hat, grundsätzlich der Leistungsträger erstattungspflichtig, gegen den der Berechtigte vorrangig einen Anspruch hat oder hatte. Nach § 104 Abs. 1 Satz 2 SGB X ist ein Leistungsträger nachrangig verpflichtet, soweit er bei rechtzeitiger Erfüllung der Leistungsverpflichtung eines anderen Leistungsträgers selbst nicht zur Leistung verpflichtet gewesen wäre. Ein entsprechender Erstattungsanspruch nach diesen Bestimmungen setzt damit voraus, dass Leistungspflichten (mindestens) zweier Leistungsträger nebeneinander bestehen und miteinander konkurrieren, wobei die Verpflichtung eines der Leistungsträger der Leistungspflicht des anderen nachgehen muss (stRspr, vgl. Urteil vom 9. Februar 2012 – BVerwG 5 C 3.11 – BVerwGE 142, 18 = Buchholz 436.511 § 10 SGB VIII Nr. 7 jeweils Rn. 26 m.w.N.).
1. Hier konkurrierten Leistungspflichten zweier unterschiedlicher Sozialleistungsträger im Sinne des § 104 Abs. 1 Satz 1 und 2 SGB X miteinander.
a) Der Kläger hatte bezogen auf den streitgegenständlichen Zeitraum vom 1. September 2007 bis zum 31. Dezember 2007 Eingliederungshilfe in der Form der Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung, hier in Gestalt der Kosten der Unterbringung der Hilfeempfängerin in dem an dem bayerischen Gymnasium angeschlossenen Internat, erbracht. Die Leistungsgewährung stand im Einklang mit § 53 i.V.m. § 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch i.d.F. des Gesetzes vom 27. Dezember 2003 (BGBl I S. 3022) – SGB XII – i.V.m. § 12 Nr. 3 der Verordnung nach § 60 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch ebenfalls i.d.F. des Gesetzes vom 27. Dezember 2003 (BGBl I S. 3022). Der Kläger leistete die Eingliederungshilfe in seiner Eigenschaft als gemäß § 97 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 SGB XII i.V.m. § 2 Abs. 1 Nr. 1 lit. a) der Ausführungsverordnung zum Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) – Sozialhilfe – des Landes Nordrhein-Westfalen vom 16. Dezember 2004 (GV NRW S. 816) sachlich und überörtlich zuständiger Träger der Sozialhilfe und erfüllte damit eine eigene Verbindlichkeit. Hierüber besteht zwischen den Beteiligten kein Streit. Einvernehmen herrscht auch darüber, dass die Leistungspflicht des Klägers nach § 2 Abs. 1 SGB XII grundsätzlich nachrangig ist.
b) Für den streitigen Zeitraum bestand auch eine vorrangige Leistungspflicht des Beklagten im erstattungsrechtlichen Sinn.
aa) Die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Gewährung von Ausbildungsförderung waren – abgesehen von dem materiellrechtlichen Erfordernis des Antrags auf Gewährung von Ausbildungsförderung (vgl. Urteil vom 20. Februar 1992 – BVerwG 5 C 74.88 – BVerwGE 90, 37 ≪40≫ = Buchholz 435.11 § 45 SGB I Nr. 2 S. 3) – erfüllt. Auch insoweit besteht zwischen den Beteiligten Einvernehmen.
Die Anspruchserfordernisse nach § 1 i.V.m. § 2 Abs. 1 Nr. 1 des Bundesgesetzes über die individuelle Förderung der Ausbildung (Bundesausbildungsförderungsgesetz – BAföG) i.d.F. der Bekanntmachung vom 6. Juni 1983 (BGBl I S. 645, 1680), zuletzt geändert durch Gesetz vom 22. September 2005 (BGBl I S. 2809), lagen vor. Gemäß § 14a Satz 1 Nr. 1 BAföG i.V.m. § 6 Abs. 1 der Verordnung vom 15. Juli 1974 über Zusatzleistungen in Härtefällen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BGBl I S. 1449), zuletzt geändert durch Gesetz vom 19. März 2001 (BGBl I S. 390), wird Ausbildungsförderung unter anderem einem Auszubildenden, dessen Bedarf sich nach § 12 Abs. 2 BAföG bemisst, zur Deckung der Kosten der Unterbringung in einem Internat oder einer gleichartigen Einrichtung geleistet, soweit sie den nach diesen Bestimmungen des Gesetzes maßgeblichen Bedarfssatz übersteigen. Internat im Sinne des § 6 Abs. 1 HärteV ist gemäß § 6 Abs. 2 Satz 1 HärteV ein der besuchten Ausbildungsstätte angegliedertes Wohnheim, in dem der Auszubildende außerhalb der Unterrichtszeit pädagogisch betreut wird und in Gemeinschaft mit anderen Auszubildenden Verpflegung und Unterkunft erhält (vgl. Urteil vom 2. Dezember 2009 – BVerwG 5 C 33.08 – BVerwGE 135, 310 = Buchholz 436.36 § 14a BAföG Nr. 4). Auch diese Voraussetzungen waren unstreitig erfüllt.
bb) Das Oberverwaltungsgericht hat unter Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO) angenommen, der Erstattungsanspruch des Klägers nach § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X scheitere an dem Fehlen eines auf die Bewilligung von Leistungen der Ausbildungsförderung gerichteten Antrags nach § 46 Abs. 1 Satz 1 BAföG. Das Bestehen des Erstattungsanspruchs nach § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X hängt jedoch nicht davon ab, dass Ausbildungsförderung nach § 46 Abs. 1 Satz 1 BAföG beantragt worden ist. Dies folgt aus der Auslegung des § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X.
Der Wortlaut der Bestimmung lässt es zu, eine Leistungspflicht im erstattungsrechtlichen Sinn auch dann anzunehmen, wenn ein Antrag auf Gewährung von Ausbildungsförderung nicht gestellt wurde. Der Wendung „gegen den der Berechtigte vorrangig einen Anspruch hat oder hatte” ist nicht zwingend zu entnehmen, dass eine Leistungspflicht im erstattungsrechtlichen Sinn nur dann gegeben ist, wenn ein Anspruch im Wege eines Antrags geltend gemacht und so zum Gegenstand eines Verwaltungsverfahrens gemacht wird. Dies gilt auch für die Fälle, in denen – wie hier – der Antrag materiellrechtliche Voraussetzung des Leistungsanspruchs ist.
Auch die Gesetzessystematik zwingt nicht zu der Annahme, die Antragstellung sei Voraussetzung einer Leistungspflicht im Sinne des § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Der Leistungsanspruch des Berechtigten und der Erstattungsanspruch des nachrangig verpflichteten Sozialleistungsträgers nach § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X sind jeweils rechtlich selbständige Ansprüche (BSG, Urteile vom 1. Dezember 1983 – 4 RJ 91/82 – BSGE 56, 69 ≪71 f.≫, vom 22. Juli 1987 – 1 RA 63/85 – SozR 1300 § 105 SGB 10 Nr. 5 S. 12 und vom 28. April 1999 – B 9 V 8/98 – BSGE 84, 61 ≪63 f.≫). Die Entstehung des Erstattungsanspruchs gründet nicht auf einem Übergang des Leistungsanspruchs auf den erstattungsberechtigten Träger, sondern allein auf der Erfüllung der Voraussetzungen des § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Soweit der Erstattungsanspruch inhaltlich abhängig von und untrennbar verbunden mit dem Anspruch des Leistungsberechtigten ist, genügt es, dass in der Person des Berechtigten die wesentlichen und unverzichtbaren Grundvoraussetzungen des Anspruchs auf eine Leistung gegen den auf Erstattung in Anspruch genommenen Träger vorliegen. Dazu zählt ein Antrag auf Gewährung von Ausbildungsförderung nicht (vgl. BSG, Urteil vom 28. April 1999 a.a.O.).
Während sich die Entstehungsgeschichte des § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X als unergiebig darstellt, sprechen Sinn und Zweck der §§ 102 ff. SGB X entscheidend dafür, das Bestehen eines Erstattungsanspruchs nach § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X gegen den Träger der Ausbildungsförderung nicht davon abhängig zu machen, dass ein Antrag im Sinne des § 46 Abs. 1 Satz 1 BAföG gestellt worden ist. Die §§ 102 ff. SGB X dienen der Sicherstellung des Nachrangs einer bereits erbrachten Sozialleistung und der Finanzierungsverantwortung des vorrangig verpflichteten Sozialleistungsträgers im Erstattungsrechtsverhältnis. Die Realisierung dieser gesetzlich vorgegebenen Lastenverteilung sollte erkennbar nicht von der Antragstellung im Leistungsverhältnis abhängig sein und in das Belieben des Leistungsberechtigten gestellt werden. Anderenfalls hätte es dieser in der Hand, die gesetzlich vorgesehene Finanzierungsverantwortung dadurch zu korrigieren, dass er es unterlässt, einen Leistungsantrag zu stellen (BSG, Urteil vom 28. April 1999 a.a.O. S. 64 f.). Dem steht nicht entgegen, dass § 95 Satz 1 SGB XII den erstattungsberechtigten Träger der Sozialhilfe ermächtigt, die Feststellung einer Sozialleistung zu betreiben sowie Rechtsmittel einzulegen und damit den an sich dem Leistungsberechtigten zustehenden Anspruch auf Bewilligung der Sozialleistung im Wege der gesetzlichen Prozessstandschaft behördlich und gerichtlich geltend zu machen, ohne dass es dessen Mitwirkung bedarf (vgl. BSG, Urteil vom 22. April 1998 – B 9 VG 6/96 R – BSGE 82, 112 ≪114 und 116 f.≫). Genauso wie der Erstattungsanspruch nach § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X verfolgt das Feststellungsverfahren im Sinne des § 95 Satz 1 SGB XII den Zweck, der gesetzlich vorgesehenen Finanzierungslast im vielfältig gegliederten Sozialleistungssystem Geltung zu verschaffen. Diese Gemeinsamkeit rechtfertigt es hingegen nicht, unter Hinweis auf die Möglichkeit der Durchführung des Feststellungsverfahrens den Erstattungsanspruch von einem Antrag des Leistungsberechtigten abhängig zu machen. Denn der Zweck des Erstattungsanspruchs besteht – wie aufgezeigt – darin, dass der Verteilung der Finanzierungsverantwortung gerade durch ein vom Willen des Leistungsberechtigten unabhängiges Erstattungsverfahren Rechnung getragen wird.
Auch Schutzrichtung und Wirkung des § 95 SGB XII widerstreiten der Annahme, das Antragserfordernis sei deshalb unbedenklich, weil der nachrangig verpflichtete Leistungsträger im Falle des Unterlassens eines Antrags des Leistungsberechtigten das Feststellungsverfahren betreiben und auf diesem Weg einen Leistungsantrag stellen könne. § 95 SGB XII ist eine Schutzvorschrift zugunsten des subsidiär verpflichteten Trägers. Diesem wird insbesondere das Recht verliehen, sich von nachrangig zu erbringenden Leistungen gegenüber dem Hilfeempfänger zu befreien. Zwar dient der Erstattungsanspruch ebenfalls dem Schutz der Interessen des nachrangig zuständigen Trägers. Das Recht aus § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist hingegen auf die Erstattung tatsächlich bereits erbrachter Leistungen und damit auf die Vergangenheit bezogen, während das Recht aus § 95 SGB XII auf die Feststellung des Anspruchs gerichtet ist und auch in die Zukunft reicht. Bereits dieser strukturelle Unterschied spricht dagegen, das hier in Rede stehende Antragserfordernis wegen der Möglichkeit der Durchführung eines Feststellungsverfahrens als unbedenklich zu erachten. Hinzu kommt, dass der Anspruch auf Erstattung und derjenige auf Feststellung nebeneinander bestehen (vgl. BSG, Urteil vom 22. April 1998 a.a.O. S. 116). Auch dies streitet dagegen, das Erfordernis eines Leistungsantrags für den Erstattungsanspruch (auch) mit der Möglichkeit der Durchführung eines Feststellungsverfahrens bei Fehlen eines solchen Antrags zu begründen und auf diese Weise beide Verfahren miteinander zu verknüpfen. Dem Feststellungsverfahren würde dadurch eine Bedeutung beigemessen, die ihm nicht zukommt. Schließlich liefe es dem Charakter des § 95 SGB XII als Schutzvorschrift zuwider, im Fall eines vom Leistungsberechtigten nicht gestellten Antrags die Erstattung von Leistungen davon abhängig zu machen, dass der nachrangig verpflichtete Träger den Leistungsantrag im Rahmen des Feststellungsverfahrens stellt. Dies gilt umso mehr, als es der nachrangig verpflichtete Leistungsträger regelmäßig nicht in der Hand hat, rechtzeitig entweder den Leistungsberechtigten zur Stellung eines weiteren Antrags bei einem anderen Träger zu bewegen oder anderenfalls das Feststellungsverfahren zu betreiben. Faktisch führte die Annahme einer Beachtlichkeit des Antragserfordernisses des § 46 Abs. 1 Satz 1 BAföG zu der ungewollten Konsequenz, dass der nachrangig verpflichtete Träger zur Sicherstellung einer umfassenden Erstattungsleistung gehalten wäre, zeitgleich mit der Beantragung der nachrangigen Sozialleistung durch den Berechtigten – im Sozialhilferecht auf Grund des Kenntnisgrundsatzes des § 18 SGB XII bereits mit Bekanntwerden des Hilfebedarfs – die Feststellung der vorrangigen Sozialleistung zu betreiben.
Der Senat lässt dahingestellt, ob für den Erstattungsanspruch dann ein Antrag des Berechtigten auf Erbringung der Sozialleistung erforderlich ist, wenn ein Antragserfordernis (auch) die Dispositionsfreiheit und das Selbstbestimmungsrecht des Leistungsberechtigten schützt (so BSG, Urteil vom 28. April 1999 a.a.O. S. 64 f.). Darauf kommt es hier nicht an, weil das bei dem Antrag nach § 46 Abs. 1 Satz 1 BAföG nicht der Fall ist. Dies ergibt sich daraus, dass bei Fehlen eines solchen Antrags dieser vom nachrangig verpflichteten Sozialleistungsträger im Rahmen des Verfahrens nach § 95 SGB XII gestellt werden kann.
2. Das Berufungsurteil beruht auf dem fehlerhaften Verständnis des § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Hätte das Oberverwaltungsgericht die Vorschrift im vorstehenden Sinne verstanden, so hätte es entschieden, dass das Unterbleiben der Antragstellung durch die Leistungsberechtigte der Entstehung des Erstattungsanspruchs nicht entgegenstand. Das Berufungsurteil stellt sich auch nicht aus anderen Gründen als rechtmäßig dar (§ 144 Abs. 4 VwGO).
3. Da zwischen den Beteiligten Einigkeit besteht, dass der Beklagte seinerseits Leistungen der Ausbildungsförderung in der mit der Erstattungsklage geltend gemachten Höhe hätte erbringen müssen, ist dem Bundesverwaltungsgericht eine Sachentscheidung möglich (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwGO).
Hiernach ist der Beklagte aus § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X verpflichtet, an den Kläger 10 070,81 EUR zu zahlen. Dieser Anspruch ist in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit zu verzinsen.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sind bei öffentlich-rechtlichen Geldforderungen in sinngemäßer Anwendung des § 291 Satz 1 i.V.m. § 288 Abs. 1 Satz 2 BGB Prozesszinsen zu entrichten, wenn das einschlägige Fachrecht keine gegenteilige Regelung trifft (Urteil vom 22. Februar 2001 – BVerwG 5 C 34.00 – BVerwGE 114, 61 ≪62≫ = Buchholz 435.12 § 108 SGB X Nr. 1 S. 2 m.w.N.). Dies gilt auch für verwaltungsgerichtliche Erstattungsklagen, die auf den §§ 102 ff. SGB X gründen. Dabei knüpft das Gericht an Rechtsüberzeugungen an, die in Deutschland schon vor Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuchs fast allgemein zur Anerkennung gelangt und im Verkehrsleben herrschend waren. Sie halten den Schuldner, auch wenn er sich in redlichem Glauben, zur Zahlung nicht verpflichtet zu sein, auf einen Prozess einlässt, nach dem das gesamte Rechtsleben beherrschenden Grundsatz von Treu und Glauben für verpflichtet, dem Gläubiger für die Nutzungen Ersatz zu leisten, die er diesem während der Dauer des Prozesses vorenthalten hat (Urteil vom 7. Juni 1958 – BVerwG 5 C 272.57 – BVerwGE 7, 95 ≪97≫ = Buchholz 409.2 § 45 AbgeltG Nr. 1 S. 4). Aus § 108 SGB X folgt nichts Gegenteiliges (Urteil vom 22. Februar 2001 a.a.O. S. 65 f. bzw. S. 5).
Daran hält der Senat fest, auch wenn das Bundessozialgericht für den Bereich des sozialgerichtlichen Verfahrens die Gewährung von Prozesszinsen bei Erstattungsansprüchen zwischen Sozialversicherungs- und Sozialleistungsträgern ablehnt (BSG, Urteil vom 2. Februar 2010 – B 8 SO 22/08 – juris Rn. 8 m.w.N.; ferner BSG, Urteil vom 16. Dezember 1964 – 12 RJ 526/64 – BSGE 22, 150 ≪154 f.≫). Denn im Bereich des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens ist die Zuerkennung von Prozesszinsen die nach Treu und Glauben gebotene Regel und keine an die engen Voraussetzungen der Analogie gebundene Ausnahme. Auch gebietet es das zu Grunde liegende materielle Recht – wie ausgeführt – nicht, von dieser Regel abzuweichen. Ebenso wenig liefe die Zuerkennung eines Anspruchs des nachrangig verpflichteten Sozialleistungsträgers gegen den vorrangig verpflichteten Sozialleistungsträger auf Gewährung von Prozesszinsen der Billigkeit und den Grundsätzen von Treu und Glauben zuwider. Es ist nicht zu erkennen, warum der vorrangig verpflichtete Sozialleistungsträger nicht gehalten sein soll, dem in einem Gleichordnungsverhältnis zu ihm stehenden, jedoch nachrangig verpflichteten Sozialleistungsträger nicht auch für die Nutzungen Ersatz zu leisten, die er diesem während der Dauer des verwaltungsgerichtlichen Erstattungsrechtsstreits vorenthalten hat.
5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Unterschriften
Vormeier, Stengelhofen, Dr. Störmer, Dr. Häußler, Dr. Fleuß
Fundstellen