Entscheidungsstichwort (Thema)
Eingliederungshilfe für seelisch behinderte oder von einer solchen Behinderung bedrohte Kinder oder Jugendliche. Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADS)
Normenkette
SGB VIII § 35a
Verfahrensgang
VGH Baden-Württemberg (Urteil vom 04.11.1997; Aktenzeichen 9 S 1462/96) |
VG Stuttgart (Entscheidung vom 05.03.1996; Aktenzeichen 9 K 4344/95) |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 4. November 1997 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Revisionsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Tatbestand
I.
Der am 27. März 1987 geborene Kläger wurde 1993 vom Schulbesuch zurückgestellt und 1994 in die Grundschule eingeschult. Im Januar 1995 beantragte der Kläger bei der Beklagten, die Aufwendungen für eine heilpädagogische Entwicklungstherapie von 80 Behandlungsstunden bei der Diplompsychologin und Diplomheilpädagogin N. im Wege der Eingliederungshilfe nach § 35 a SGB VIII zu übernehmen. Die Beratungsstelle für Eltern, Kinder und Jugendliche der Beklagten befürwortete dies, weil der Kläger an einer Teilleistungsstörung im Wahrnehmungsbereich leide, die in einem kinderpsychologischen Befund der Therapeutin N. als Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADS) beschrieben werde. Das Gesundheitsamt der Beklagten kam demgegenüber nach einer Untersuchung des Klägers zu dem Ergebnis, bei ihm bestünden leichte hyperkinetische Störungen ohne den Schweregrad einer Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung, was durch den Schulbericht der Klassenlehrerin des Klägers vom 8. April 1995 bestätigt werde. Die Behandlung des Klägers in 80 Therapiestunden dauerte von Juni 1995 bis etwa März 1997.
Mit Bescheid vom 29. August 1995 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers ab. Den hiergegen eingelegten Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 6. Oktober 1995 zurück, weil die leichten hyperkinetischen Störungen des Klägers keinesfalls den Schweregrad eines ADS erreichten.
Die Klage des Klägers, die Beklagte unter Aufhebung der entgegenstehenden Bescheide zur Gewährung von Eingliederungshilfe ab Antragstellung zu verpflichten, hat das Verwaltungsgericht mit Gerichtsbescheid vom 5. März 1996 abgewiesen. Die Berufung des Klägers hat das Berufungsgericht zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt:
Der Kläger habe keinen Anspruch auf Eingliederungshilfe nach § 35 a SGB VIII, weil er in der streitgegenständlichen Zeit der Behandlungsstunden weder seelisch behindert noch von einer solchen Behinderung bedroht gewesen sei. Das ADS – mit oder ohne Hyperaktivität – als solches stelle keine seelische Störung im Sinne von § 3 Satz 2 EinglhVO dar. Als seelische Störungen kämen jedoch neurotische Entwicklungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen in Betracht, die – insbesondere bei Schulversagen – Folge eines ADS sein könnten. Bei bloßen Schulproblemen, auch bei Schulängsten, die andere Kinder teilten, könne noch keinesfalls von einer krankhaften Normabweichung gesprochen werden. Eine neurotische Entwicklungsstörung liege erst vor etwa bei einer z.B. auf Versagensängsten beruhenden Schulphobie, bei totaler Schul- und Lernverweigerung, Rückzug aus jedem sozialen Kontakt und Vereinzelung in der Schule oder dergleichen. § 3 EinglhVO verlange, daß eine seelische Störung, wie z.B. eine Neurose oder Persönlichkeitsstörung, zu einer seelischen Behinderung geführt habe oder zu führen drohe. Die seelische Störung müsse also Sekundärerscheinungen zur Folge haben, welche bei der jeweiligen Störung typischerweise aufträten und den Grad einer Behinderung erreichten. In der Zeit vor wie während der Behandlung sei der Kläger nicht in diesem Sinne behindert oder von einer solchen Behinderung mit einer erforderlichen Eintrittswahrscheinlichkeit von wesentlich mehr als 50 % bedroht gewesen. Zwar träten – wie auch der Sachverständige Prof. Dr. L. ausgeführt habe – bei Kindern mit ADS verhältnismäßig häufig neurotische Störungen auf, diese führten jedoch meist nicht zu einem Dauerleiden, sondern würden von den Kindern oft nach der Reifeentwicklung selbst überwunden. Ob einem an ADS leidenden Kind eine seelische Behinderung drohe, müsse also in jedem konkreten Einzelfall anhand der gegebenen Umstände festgestellt werden; eine nur allgemein oder theoretisch bestehende Möglichkeit genüge nicht. Die Beweisaufnahme (sachverständige Zeugin N., Sachverständiger Prof. Dr. L.) habe, wie das Berufungsgericht im einzelnen ausgeführt hat, erbracht, daß dem Kläger im maßgeblichen Klagezeitraum keine seelische Behinderung gedroht habe.
Mit seiner vom Berufungsgericht zugelassenen Revision gegen das Berufungsurteil beantragt der Kläger, die Beklagte unter Aufhebung der entgegenstehenden Entscheidungen zu verpflichten, dem Kläger Eingliederungshilfe für die Aufwendungen der heilpädagogischen Behandlung von 80 Stunden ab Juni 1995 zu gewähren. In der innerhalb der bis 20. Januar 1998 offenen Revisionsbegründungsfrist eingegangenen Revisionsbegründung hat der Kläger ausgeführt, daß das Berufungsgericht der Berufung im wesentlichen deshalb nicht stattgegeben habe, weil unter Bezugnahme auf die Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. L. in der letzten mündlichen Verhandlung nicht davon ausgegangen werden könne, daß die nach der Rechtsprechung geforderte hohe Wahrscheinlichkeit einer neurotischen Entwicklungsstörung festgestellt werden konnte. Der Kläger griff den Sachverständigen als voreingenommen und nicht sachkundig und sein Gutachten als nicht richtig an. Infolge der unzutreffenden Begutachtung durch Prof. Dr. L. und der Tatsache, daß zu den Kriterien, wann hohe Wahrscheinlichkeit einer Bedrohung anzunehmen ist, nichts aus dem Berufungsurteil zu entnehmen sei, ebensowenig wie das Gutachten des Prof. Dr. L. hier maßgebliche Kriterien erkennen lasse, sei das Urteil aufzuheben. Nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist machte der Kläger zum einen als Verfahrensmangel geltend, das Berufungsgericht habe § 86 Abs. 2 VwGO verletzt, indem es über die Beweisanträge nicht vorweg entschieden habe, und seine Aufklärungspflicht nach § 86 VwGO verletzt, indem es weder nochmals die sachverständige Zeugin N. noch andere vom Kläger benannte, zu ADS sachkundige Gutachter gehört habe. Zum anderen rügte der Kläger die Verletzung des § 35 a SGB VIII, weil das Berufungsgericht von zu hohen Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit für den Eintritt einer seelischen Behinderung als Folge von ADS ausgegangen sei.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II.
Es bestehen bereits erhebliche Zweifel an der Zulässigkeit der Revision. Denn der Kläger hat innerhalb der bis zum 20. Januar 1998 offenen Revisionsbegründungsfrist zwar mit Schriftsatz vom 19. Januar 1998 einen bestimmten Antrag gestellt, aber nicht die Rechtsverletzung des Berufungsgerichts angegeben, auf der die angefochtene Entscheidung beruhen soll (§ 139 Abs. 3 Satz 4, § 137 VwGO).
Im Schriftsatz vom 19. Januar 1998 führt der Kläger zum einen aus, daß und warum nach seiner Meinung das Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. L. falsch, unbrauchbar, unzutreffend und nicht verwertbar sei. Damit und insoweit legt er aber keinen Rechtsverstoß des Berufungsgerichts dar. Zum anderen macht der Kläger im Schreiben vom 19. Januar 1998 geltend, daß zu den Kriterien, wann hohe Wahrscheinlichkeit einer Bedrohung (von einer seelischen Behinderung als Folge von ADS) anzunehmen ist, dem Berufungsurteil nichts zu entnehmen sei. Mit dieser Behauptung ist aber ein Verfahrensmangel nicht ausreichend bezeichnet. Denn sie ist unzutreffend. Das Berufungsgericht hat die von ihm dafür als maßgeblich erachteten Kriterien nicht nur bereits in dem den Verfahrensbeteiligten bekanntgegebenen und vom Kläger inhaltlich nicht beanstandeten Anschreiben zum Sachverständigenauftrag vom 9. April 1997 aufgezeigt, sondern auch ausdrücklich im Berufungsurteil dargelegt.
Die Revision ist jedenfalls unbegründet. Denn auch die vom Kläger erst nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist zum Verfahrensrecht (§ 86 VwGO) und zum materiellen Recht (§ 35 a SGB VIII, §§ 3 und 5 EinglhVO) gerügten Rechtsverstöße liegen nicht vor.
Das Berufungsgericht hat § 86 Abs. 2 VwGO nicht verletzt. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung am 4. November 1997 keinen Beweisantrag gestellt, weder in bezug auf die bereits in der mündlichen Verhandlung am 18. März 1997 vernommene sachverständige Zeugin N. noch in bezug auf weitere Sachverständige.
Das Berufungsgericht hat auch nicht den Untersuchungsgrundsatz bzw. seine Aufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 und 3 VwGO) verletzt. Die Pflicht zur Aufklärung im tatsächlichen Bereich erfaßt nur die nach der Rechtsauffassung des Berufungsgerichts für die Streitentscheidung relevanten tatsächlichen Umstände.
Nach dessen Rechtsauffassung kommt aber als Prognosezeitpunkt für die Wahrscheinlichkeit, ob eine mit ADS verbundene seelische Störung ohne heilpädagogische Maßnahme zu einer seelischen Behinderung geführt hätte, „naturgemäß hauptsächlich derjenige unmittelbar vor der Behandlung … im Juni 1995 in Betracht” und ist unerheblich, „ob dem Kläger inzwischen” – d.h. im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht – „eine seelische Behinderung droht und dies eine (weitere) Therapie notwendig macht”. Von dieser Rechtsauffassung des Berufungsgerichts ausgehend hat für dieses kein Anlaß bestanden, die bereits vernommene sachverständige Zeugin N. nochmals zu den tatsächlichen Voraussetzungen der begehrten Eingliederungshilfe anzuhören bzw. zu befragen, zumal der Kläger nicht dargelegt hat, daß sie neue, nicht bereits aus ihren Befunden und Aussagen bekannte Umstände angeben könne.
Das Berufungsgericht hatte auch keinen Grund, an der Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit des Sachverständigen Prof. Dr. L. zu zweifeln. Erst im Revisionsverfahren hat der Kläger dessen Äußerungen als voreingenommen gerügt; im Berufungsverfahren hatte er dazu nichts vorgetragen. Das Berufungsgericht hatte weiter keinen Grund, an der Sachkunde und Erfahrung des Sachverständigen Prof. Dr. L. zu zweifeln, der mit Einverständnis auch des Klägers zum Sachverständigen bestellt worden war. Der Umstand, daß der Kläger das Gutachten des Prof. Dr. L. für nicht richtig hält, berechtigt nicht, dessen Sachkunde und Erfahrung als Kinder- und Jugendpsychiater in Frage zu stellen. Schließlich hat sich das Berufungsgericht mit den Einwendungen des Klägers gegen das Gutachten und den vom Kläger behaupteten Widersprüchen auseinandergesetzt. Dabei ist das Berufungsgericht bei seiner Beurteilung, daß die eingehenden Ausführungen in dem Gutachten einleuchtend und daher auch für das Gericht nachvollziehbar seien, von seiner, dem Kläger bekannten Vorgabe für das Gutachten ausgegangen, daß dem Kläger vor Beginn der heilpädagogischen Behandlung im Juni 1995 oder später als Folge des ADS eine seelische Behinderung nur dann gedroht habe, wenn wegen des ADS mit hoher Wahrscheinlichkeit (§ 5 EinglhVO) neurotische Entwicklungsstörungen zu erwarten gewesen seien, wobei neurotische Entwicklungsstörungen erst vorlägen z.B. bei einer Schulphobie, bei totaler Schul- und Lernverweigerung, Rückzug aus sozialen Kontakten, Vereinzelung in der Schule, Versagensängsten.
Entgegen der Rüge des Klägers verletzt das Berufungsgericht § 35 a SGB VIII nicht. Nach dieser Vorschrift haben Kinder und Jugendliche, die seelisch behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht sind, Anspruch auf Eingliederungshilfe.
Seelisch behindert sind Kinder und Jugendliche, bei denen infolge seelischer Störungen die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft beeinträchtigt ist (§ 35 a Abs. 1 Satz 3 SGB VIII a.F. bzw. § 35 a Abs. 2 Nr. 3 SGB VIII n.F. i.V.m. § 3 Satz 1 EinglhVO). Seelische Störungen können eine seelische Behinderung zur Folge haben (§ 3 Satz 2 EinglhVO), müssen es aber nicht. Seelische Störungen genügen also noch nicht für die Annahme einer seelischen Behinderung; hinzukommen muß noch die Beeinträchtigung der Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft. Deshalb ist dem Berufungsgericht darin zuzustimmen, daß es für die Frage, ob ein Kind oder Jugendlicher seelisch behindert ist, auf das Ausmaß, den Grad der seelischen Störungen ankommt (vgl. BVerwG, Urteil vom 28. September 1995 – BVerwG 5 C 21.93 – ≪Buchholz 436.0 § 39 Nr. 16 S. 11 = NVwZ-RR 1996, 446≫). Entscheidend ist, ob die seelischen Störungen nach Breite, Tiefe und Dauer so intensiv sind, daß sie die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft beeinträchtigen. Danach ist es rechtlich nicht zu beanstanden, wenn das Berufungsgericht einerseits bei bloßen Schulproblemen und auch bei Schulängsten, die andere Kinder teilen, eine seelische Behinderung verneint und andererseits beispielhaft als behinderungsrelevante seelische Störungen die auf Versagensängsten beruhende Schulphobie, die totale Schul- und Lernverweigerung, den Rückzug aus jedem sozialen Kontakt und die Vereinzelung in der Schule anführt.
Von einer seelischen Behinderung bedroht sind Kinder und Jugendliche, bei denen eine seelische Behinderung als Folge seelischer Störungen noch nicht vorliegt, der Eintritt der seelischen Behinderung aber nach allgemeiner ärztlicher oder sonstiger fachlicher Erkenntnis mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist (§ 35 a Abs. 1 Satz 3 SGB VIII a.F. bzw. § 35 a Abs. 2 Nr. 3 SGB VIII n.F. i.V.m. § 5 EinglhVO). Zu der bereits geschilderten Beurteilung, unter welchen Voraussetzungen seelische Störungen eine seelische Behinderung bewirken, tritt im Falle einer bisher noch nicht eingetretenen Behinderung die Prognosebeurteilung hinzu, ob und gegebenfalls wann beziehungsweise mit welcher Wahrscheinlichkeit der Eintritt einer Behinderung zu erwarten ist. Da § 5 EinglhVO eine hohe Wahrscheinlichkeit voraussetzt, ist es nicht zu beanstanden, daß das Berufungsgericht eine Wahrscheinlichkeit von wesentlich mehr als 50 % verlangt. Dabei ist für diese Prognose insbesondere bedeutsam, auf welche Zeit bezogen die Wahrscheinlichkeit eines Eintritts einer Behinderung beurteilt werden soll. Hierfür kommt kein starrer Zeitrahmen in Betracht, sondern eine nach Sinn und Zweck der Eingliederungshilfe bemessene Zeit. Ist es nämlich Ziel der Eingliederungshilfe für von einer seelischen Behinderung bedrohte Kinder und Jugendliche, den Eintritt einer solchen Behinderung zu verhüten, so ist der Beginn der Bedrohung so früh, aber auch nicht früher anzusetzen, daß noch erfolgversprechende Eingliederungshilfemaßnahmen gegen den Eintritt der Behinderung eingesetzt werden können.
Ausgehend von dieser Auslegung der hier maßgeblichen § 35 a SGB VIII, §§ 3 und 5 EinglhVO und auf der Grundlage seiner verfahrensfehlerfrei getroffenen tatsächlichen Feststellungen, insbesondere zur allgemeinen ärztlichen und sonstigen fachlichen Erkenntnis (sachverständige Zeugin N., Sachverständiger Prof. Dr. L.), ist das Berufungsgericht ohne Rechtsverstoß zu der Überzeugung gelangt, daß beim Kläger im streitgegenständlichen Zeitraum über vorübergehende seelische Störungen hinaus der Eintritt einer seelischen (die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft beeinträchtigenden) Behinderung nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten war.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Gerichtskostenfreiheit auf § 188 Satz 2 VwGO.
Unterschriften
Dr. Säcker, Dr. Pietzner, Schmidt, Dr. Rothkegel, Dr. Franke
Fundstellen
Haufe-Index 1377338 |
FEVS 1999, 487 |
NDV-RD 1999, 71 |
DVBl. 1999, 1140 |