Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Sozialpolitik. Arbeitszeitgestaltung. Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub. Arbeitsverhältnis, das durch den Tod des Arbeitnehmers endet. Nationale Regelung, nach der es nicht möglich ist, den Rechtsnachfolgern des Arbeitnehmers eine finanzielle Vergütung für von diesem nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub zu zahlen. Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts. Möglichkeit der Geltendmachung in einem Rechtsstreit zwischen Privatpersonen
Normenkette
Richtlinie 2003/88/EG Art. 7; Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 31 Abs. 2
Beteiligte
Tenor
1. Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung und Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung wie der in den Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen, nach der bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch Tod des Arbeitnehmers der von ihm gemäß diesen Bestimmungen erworbene Anspruch auf vor seinem Tod nicht mehr genommenen bezahlten Jahresurlaub untergeht, ohne dass ein Anspruch auf eine finanzielle Vergütung für diesen Urlaub besteht, der im Wege der Erbfolge auf die Rechtsnachfolger des Arbeitnehmers übergehen könnte.
2. Falls eine nationale Regelung wie die in den Ausgangsverfahren fragliche nicht im Einklang mit Art. 7 der Richtlinie 2003/88 und Art. 31 Abs. 2 der Grundrechtecharta ausgelegt werden kann, hat das mit einem Rechtsstreit zwischen dem Rechtsnachfolger eines verstorbenen Arbeitnehmers und dessen ehemaligem Arbeitgeber befasste nationale Gericht die nationale Regelung unangewendet zu lassen und dafür Sorge zu tragen, dass der Rechtsnachfolger von dem Arbeitgeber eine finanzielle Vergütung für den von dem Arbeitnehmer gemäß diesen Bestimmungen erworbenen und vor seinem Tod nicht mehr genommenen bezahlten Jahresurlaub erhält. Diese Verpflichtung ergibt sich für das nationale Gericht aus Art. 7 der Richtlinie 2003/88 und Art. 31 Abs. 2 der Grundrechtecharta, wenn sich in dem Rechtsstreit der Rechtsnachfolger und ein staatlicher Arbeitgeber gegenüberstehen, und aus Art. 31 Abs. 2 der Grundrechtecharta, wenn sich in dem Rechtsstreit der Rechtsnachfolger und ein privater Arbeitgeber gegenüberstehen.
Tatbestand
In den verbundenen Rechtssachen
betreffend zwei Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesarbeitsgericht (Deutschland) mit Entscheidungen vom 18. Oktober 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 10. November 2016, in den Verfahren
Stadt Wuppertal
gegen
Maria Elisabeth Bauer (C-569/16)
und
Volker Willmeroth als Inhaber der TWI Technische Wartung und Instandsetzung Volker Willmeroth e. K.
gegen
Martina Broßonn (C-570/16)
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Kammerpräsidenten J.-C. Bonichot, der Kammerpräsidentin A. Prechal (Berichterstatterin), der Kammerpräsidenten M. Vilaras, T. von Danwitz und F. Biltgen, der Kammerpräsidentin K. Jürimäe, des Kammerpräsidenten C. Lycourgos sowie der Richter M. Ilešič, J. Malenovský, E. Levits, L. Bay Larsen und S. Rodin,
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Stadt Wuppertal, vertreten durch Rechtsanwalt T. Herbert,
- von Frau Broßonn, vertreten durch Rechtsanwalt O. Teubler,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch M. van Beek und T. S. Bohr als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 29. Mai 2018
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (ABl. 2003, L 299, S. 9) und von Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
Rz. 2
Diese Ersuchen ergehen im Rahmen zweier Rechtsstreitigkeiten, in denen sich zum einen die Stadt Wuppertal (Deutschland) und Frau Maria Elisabeth Bauer (Rechtssache C-569/16) und zum anderen Herr Volker Willmeroth als Inhaber der TWI Technische Wartung und Instandsetzung Volker Willmeroth e. K. und Frau Martina Broßonn (Rechtssache C-570/16) gegenüberstehen, über die Weigerung der Stadt Wuppertal und von Herrn Willmeroth, in ihrer Eigenschaft als frühere Arbeitgeber der verstorbenen Ehemänner von Frau Bauer und Frau Broßonn diesen eine finanzielle Vergütung für von ihren Ehemännern nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub zu zahlen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Im vierten Erwägungsgrund der Richtlinie 93/104/EG des Rates vom 23. November 1993 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (ABl. 1993, L 307, S. 18) war ausgeführt:
„In der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer, die von de...