Entscheidungsstichwort (Thema)
Übereinkommen von Rom über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht. Arbeitsvertrag. Rechtswahl der Parteien. Zwingende Bestimmungen des mangels einer Rechtswahl anzuwendenden Rechts. Ermittlung dieses Rechts. Arbeitnehmer, der seine Arbeit in mehreren Vertragsstaaten verrichtet
Beteiligte
Tenor
1. Art. 6 Abs. 2 des Übereinkommens über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht, aufgelegt zur Unterzeichnung am 19. Juni 1980 in Rom, ist dahin auszulegen, dass das angerufene Gericht zunächst festzustellen hat, ob der Arbeitnehmer in Erfüllung des Vertrags gewöhnlich seine Arbeit in ein und demselben Staat verrichtet, und zwar dem Staat, in dem oder von dem aus er unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände, die diese Tätigkeit kennzeichnen, seine Verpflichtungen gegenüber seinem Arbeitgeber im Wesentlichen erfüllt.
2. Für den Fall, dass das vorlegende Gericht der Ansicht ist, dass es über den bei ihm anhängigen Rechtsstreit nicht aufgrund von Art. 6 Abs. 2 Buchst. a dieses Übereinkommens entscheiden kann, ist Art. 6 Abs. 2 Buchst. b dieses Übereinkommens wie folgt auszulegen:
- Unter dem Begriff „Niederlassung …, die den Arbeitnehmer eingestellt hat” ist ausschließlich die Niederlassung, die die Einstellung des Arbeitnehmers vorgenommen hat, und nicht die Niederlassung, bei der er tatsächlich beschäftigt ist, zu verstehen;
- der Besitz der Rechtspersönlichkeit ist keine Anforderung, die die Niederlassung des Arbeitgebers im Sinne dieser Bestimmung erfüllen muss;
- die Niederlassung eines anderen Unternehmens als desjenigen, das formal als Arbeitgeber auftritt und zu dem anderen Unternehmen Beziehungen unterhält, kann als „Niederlassung” im Sinne von Art. 6 Abs. 2 Buchst. b dieses Übereinkommens eingestuft werden, wenn sich anhand objektiver Umstände belegen lässt, dass die tatsächliche Lage nicht mit der sich aus dem Vertragstext ergebenden Lage übereinstimmt, und zwar auch dann, wenn die Weisungsbefugnis diesem anderen Unternehmen nicht formal übertragen worden ist.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach dem Ersten Protokoll vom 19. Dezember 1988 betreffend die Auslegung des Übereinkommens über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, eingereicht vom Hof van Cassatie (Belgien) mit Entscheidung vom 7. Juni 2010, beim Gerichtshof eingegangen am 29. Juli 2010, in dem Verfahren
Jan Voogsgeerd
gegen
Navimer SA
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.-C. Bonichot, des Richters L. Bay Larsen und der Richterin C. Toader (Berichterstatterin),
Generalanwältin: V. Trstenjak,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Herrn Voogsgeerd, vertreten durch W. van Eeckhoutte, advocaat,
- der belgischen Regierung, vertreten durch L. Van den Broeck als Bevollmächtigte,
- der niederländischen Regierung, vertreten durch C. Wissels als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch R. Troosters und M. Wilderspin als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 8. September 2011
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 6 des Übereinkommens über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht, aufgelegt zur Unterzeichnung am 19. Juni 1980 in Rom (ABl. L 266, S. 1, im Folgenden: Übereinkommen von Rom), der sich auf Arbeitsverträge und Arbeitsverhältnisse von Einzelpersonen bezieht.
Rz. 2
Das Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Voogsgeerd, wohnhaft in Zandvoort (Niederlande), und der Navimer SA (im Folgenden: Navimer), einem in Mertert (Luxemburg) ansässigen Unternehmen, wegen Zahlung einer Kündigungsentschädigung an Herrn Voogsgeerd aufgrund der Beendigung seines Arbeitsverhältnisses mit diesem Unternehmen.
Rechtlicher Rahmen
Die Vorschriften über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anwendbare Recht
Rz. 3
Art. 1 Abs. 1 des Übereinkommens von Rom sieht Folgendes vor:
„Die Vorschriften dieses Übereinkommens sind auf vertragliche Schuldverhältnisse bei Sachverhalten, die eine Verbindung zum Recht verschiedener Staaten aufweisen, anzuwenden.”
Rz. 4
Art. 3 Abs. 1 des Übereinkommens von Rom legt Folgendes fest:
„Der Vertrag unterliegt dem von den Parteien gewählten Recht. Die Rechtswahl muss ausdrücklich sein oder sich mit hinreichender Sicherheit aus den Bestimmungen des Vertrags oder aus den Umständen des Falles ergeben. Die Parteien können die Rechtswahl für ihren ganzen Vertrag oder nur für einen Teil desselben treffen.”
Rz. 5
In Art. 4 Abs. 1 des Übereinkommens von Rom heißt es:
„Soweit das auf den Vertrag anzuwendende Recht nicht nach Artikel 3 vereinbart worden ist, unterliegt der Vertrag dem Recht des Staates, mit dem er die engsten Verbindungen aufweist. …”
Rz. 6
Art. 6 des Übereinkommens von Rom ...