Entscheidungsstichwort (Thema)
Assoziierungsabkommen EWG-Türkei. Familienzusammenführung. Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates. Ehegatte einer türkischen Arbeitnehmerin, der mit dieser fünf Jahre lang zusammen gelebt hat. Fortbestehen des Aufenthaltsrechts nach der Scheidung. Verurteilung des Betroffenen wegen Gewaltdelikten gegen seine damalige Ehegattin. Rechtsmissbrauch
Beteiligte
Tenor
1. Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation, der von dem durch das Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei errichteten Assoziationsrat erlassen wurde, ist dahin auszulegen, dass ein türkischer Staatsangehöriger wie der Kläger des Ausgangsverfahrens, der als Familienangehöriger einer dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehörenden türkischen Arbeitnehmerin und aufgrund dessen, dass er fünf Jahre lang ununterbrochen bei ihr seinen Wohnsitz hatte, die mit der Rechtsstellung des Art. 7 Abs. 1 zweiter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 verbundenen Rechte hat, diese nicht aufgrund der nach ihrem Erwerb ausgesprochenen Scheidung verliert.
2. Die Berufung eines türkischen Staatsangehörigen wie des Klägers des Ausgangsverfahrens auf ein nach Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 rechtmäßig erworbenes Recht ist nicht rechtsmissbräuchlich, auch wenn der Betroffene, nachdem er dieses Recht von seiner früheren Ehefrau abgeleitet hat, gegen diese eine schwere Straftat begangen hat, für die er strafrechtlich verurteilt wurde.
Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 steht jedoch der Ausweisung eines türkischen Staatsangehörigen, der strafrechtlich verurteilt wurde, nicht entgegen, sofern dessen persönliches Verhalten eine gegenwärtige, tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Es ist Sache des zuständigen nationalen Gerichts, zu beurteilen, ob das im Ausgangsverfahren der Fall ist.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht vom Bundesverwaltungsgericht (Deutschland) mit Entscheidung vom 24. April 2008, beim Gerichtshof eingegangen am 8. Juli 2008, in dem Verfahren
Land Baden-Württemberg
gegen
Metin Bozkurt,
Beteiligter:
Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Tizzano, der Richter J.-J. Kasel (Berichterstatter), A. Borg Barthet und E. Levits sowie der Richterin M. Berger,
Generalanwältin: E. Sharpston,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- des Landes Baden-Württemberg, vertreten durch M. Schenk als Bevollmächtigten,
- der deutschen Regierung, vertreten durch M. Lumma und N. Graf Vitzthum als Bevollmächtigte,
- der dänischen Regierung, vertreten durch J. Bering Liisberg und R. Holdgaard als Bevollmächtigte,
- der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von W. Ferrante, avvocato dello Stato,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch V. Kreuschitz und G. Rozet als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 8. Juli 2010
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 7 Abs. 1 zweiter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrats vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation (im Folgenden: Beschluss Nr. 1/80). Der Assoziationsrat wurde durch das Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei errichtet, das am 12. September 1963 in Ankara von der Republik Türkei einerseits und den Mitgliedstaaten der EWG und der Gemeinschaft andererseits unterzeichnet und durch den Beschluss 64/732/EWG des Rates vom 23. Dezember 1963 (ABl. 1964, Nr. 217, S. 3685) im Namen der Gemeinschaft geschlossen, gebilligt und bestätigt wurde.
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Land Baden-Württemberg (im Folgenden: Land) und dem türkischen Staatsangehörigen Bozkurt in einem Verfahren über dessen Ausweisung aus Deutschland.
Rechtlicher Rahmen
Rz. 3
Art. 59 des am 23. November 1970 in Brüssel unterzeichneten und durch die Verordnung (EWG) Nr. 2760/72 des Rates vom 19. Dezember 1972 (ABl. L 293, S. 1) im Namen der Gemeinschaft geschlossenen, gebilligten und bestätigten Zusatzprotokolls lautet:
„In den von diesem Protokoll erfassten Bereichen darf der Türkei keine günstigere Behandlung gewährt werden als diejenige, die sich die Mitgliedstaaten untereinander aufgrund des Vertrages zur Gründung der Gemeinschaft einräumen.”
Rz. 4
Abschnitt 1 des Kapitels II („Soziale Bestimmungen”) des Beschlusses Nr. 1/80 trägt die Überschrift „Fragen betreffend die Beschäftigung und die Freizügigkeit der Arbeitnehmer”. Er umfasst die Art. 6 bis 16 des Beschluss...