Entscheidungsstichwort (Thema)
Abzweigung von Kindergeld an Sozialhilfeträger bei nur geringem finanziellem Betreuungsaufwand der Eltern für ein schwerbehindertes Kind
Leitsatz (redaktionell)
1. Kommen Eltern ihrer zivilrechtlichen Pflicht zur Übernahme der Kosten für die erforderliche vollstationäre Unterbringung ihres schwerbehinderten Kindes im Pflegeheim abgesehen von geringfügigen Zahlungen (§ 94 Abs. 2 SGB XII) nicht nach, kann das Kindergeld hälftig an den Sozialhilfeträger abgezweigt werden.
2. Die Verpflichtung zur Unterhaltsgewährung bleibt auch dann bestehen, wenn der Unterhaltsanspruch nach § 94 Abs. 2 S. 1 SGB XII beschränkt auf den Sozialhilfeträger übergeht.
3. Eine Abzweigung des Kindergelds an den Sozialhilfeträger (§ 74 Abs. 1 S. 1, 4 EStG) setzt nicht voraus, dass der Kindergeldberechtigte seine Unterhaltspflicht schuldhaft verletzt.
Normenkette
EStG § 74 Abs. 1 Sätze 1, 4; BSHG § 91 Abs. 2; SGB XII § 94 Abs. 2
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits trägt der Kläger. Die Kosten der Beigeladenen werden nicht erstattet.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Abzweigung eines Kindergeldanspruchs zugunsten des Sozialhilfeträgers.
Der Kläger (Kl) ist Vater des am 13. September 1972 geborenen Sohnes X sowie eines weiteren im Jahr 1976 geborenen Kindes. Der Sohn X ist mit einem vom Versorgungsamt A festgestellten Grad der Behinderung von 100 schwerbehindert und lebt in den Wohnheimen der V. in B, einem Wohnheim für behinderte Menschen. Den Aufwand für die dortige vollstationäre Unterbringung, der sich monatlich auf Beträge zwischen 5.270 EUR und 5.550 EUR beläuft, trägt die Stadt C im Rahmen der Leistungen der Sozialhilfe für behinderte Menschen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII). Der Kl zahlt an die Stadt C seit dem 1. Januar 2002 einen monatlichen Unterhaltsbeitrag von 26 EUR gemäß § 91 Abs. 2 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG; hier i. d. F. durch Art. 15 Nr. 17 des Sozialgesetzbuches – Neuntes Buch – SGB IX – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen – vom 19. Juni 2001, BGBl I 2001, 1046, und durch Art. 27 Nr. 3 des Gesetzes zur Gleichstellung behinderter Menschen und zur Änderung anderer Gesetze vom 27. April 2002, BGBl I 2002, 1467) bzw. (seit 1. Januar 2004) gemäß § 94 Abs. 2 SGB XII.
Mit Schreiben vom 27. März 2007, eingegangen am 29. März 2007, beantragte die Stadt C bei der beklagten Familienkasse (der Beklagten – Bekl –) unter Berufung auf das Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 23. Februar 2006 – III R 65/04 (BFHE 212, 481, BStBl II 2008, 753) die Abzweigung des Kindergelds für das Kind X, wobei sie die Prüfung, in welcher Höhe das Kindergeld abzuzweigen sei, der Bekl überließ.
Die Bekl gab daraufhin dem Kl mit Schreiben vom 4. April 2007 Gelegenheit mitzuteilen, ob und gegebenenfalls in welcher Höhe er seinem Sohn gegenüber tatsächlich Unterhaltsleistungen erbringe oder das Kindergeld an den Sohn weiterleite. Der Kl machte hierauf geltend, neben den geleisteten regelmäßigen Zahlungen von 26 EUR monatlich entstünden ihm finanzielle Aufwendungen in Gestalt von Fahrtkosten für eine Fahrt monatlich über 15 km und für Besuche an christlichen Feiertagen wie Weihnachten, Ostern und Pfingsten sowie am Geburtstag des Sohnes. Für das Vorjahr 2006 gab der Kl an, seinen Sohn insgesamt neunmal besucht zu haben.
Mit Bescheid vom 27. Juli 2007 entschied die Bekl, von dem Kindergeldanspruch des Kl für den Sohn X ab Mai 2007 einen Betrag von 77 EUR monatlich an das Sozialamt der Stadt C abzuzweigen. Die Abzweigung in dieser Höhe sei angemessen, weil das Kindergeld insoweit für den Kindesunterhalt bestimmt sei. Der Kl gewähre dem Kind den Unterhalt nicht in vollem Umfang. Zugleich teilte die Bekl der Stadt C durch Bescheid vom gleichen Tag mit, ihr stehe ab Mai 2007 ein Abzweigungsbetrag in Höhe von 77 EUR zu. Nach den Ermittlungen der Bekl leiste der Kl Unterhalt in Höhe von wenigstens 77 EUR.
Mit bei der Bekl am 23. August 2007 eingegangenem Schreiben legte der Kl gegen diese Entscheidung „Widerspruch” mit der Begründung ein, der Gesetzeszweck des § 94 Abs. 2 SGB XII schließe einen Abzweigungsbetrag an den Sozialhilfeträger an sich selbst aus. Er – der Kl – zahle regelmäßig den Unterhaltsbetrag von 26 EUR. Einmal im Monat besuche er seinen Sohn im Wohnheim. Die familiären Beziehungen seien intakt. Als Elternvertreter nehme er seine Aufgabe etwa viermal im Jahr wahr. Wegen seines Hüftleidens könne er den Sohn nicht mehr mit nach Hause nehmen und halte ihm deshalb auch kein Zimmer dort bereit. Er sei für die Gesundheitsfürsorge des Sohnes verantwortlich; so sei der Sohn im Jahr 2007 bereits zehn Tage im Klinikum in B gewesen.
Unter dem 9. Oktober 2007 entschied die Bekl über den als Einspruch behandelten „Widerspruch”, indem sie ihn als unbegründet zurückwies. Die Vorschrift des § 74 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) – betreffend die Zahlung des Kindergelds in Sonderfällen – diene dem Zweck, im konkreten Bedarfsfall schnell und unbürokratisch Hilfe zu le...