[1] In § 6 SGB IV wird klargestellt, dass abweichende Regelungen des über- und zwischenstaatlichen Rechts unberührt bleiben, das heißt vorrangig zu beachten sind. Unter überstaatlichem Recht sind in erster Linie die Regelungen des europäischen Gemeinschaftsrechts für den Bereich der Sozialen Sicherheit und unter zwischenstaatlichem Recht in erster Linie die von der Bundesrepublik Deutschland mit anderen Staaten geschlossenen Sozialversicherungsabkommen zu verstehen.
[2] Bei Entsendungen in oder aus einem anderen Mitgliedstaat der EU, des EWR oder der Schweiz sind insbesondere
- der Art. 12 VO (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.4.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit,
- die Art. 14 und 15 VO (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der VO (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit vom 16.9.2009,
- der Beschluss Nr. A2 der Verwaltungskommission für die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit zur Auslegung des Art. 12 VO (EG) Nr. 883/2004 vom 12.6.2009 und
- der von der Europäischen Kommission herausgegebene "Praktische Leitfaden zum anwendbaren Recht in der EU, im EWR und in der Schweiz"
zu beachten.
[3] Bei Entsendungen in oder aus einem Staat, mit dem Deutschland ein Sozialversicherungsabkommen geschlossen hat, sind die Regelungen des jeweiligen Abkommens einschließlich etwaiger Protokolle bzw. Schlussprotokolle zum Abkommen vorrangig zu beachten.
[4] Die §§ 4 und 5 SGB IV sind uneingeschränkt nur in solchen Fällen anzuwenden, in denen über- oder zwischenstaatliche Regelungen über das anzuwendende Versicherungsrecht (im Folgenden: Zuständigkeitsregelungen) nicht greifen. Dies ist der Fall, wenn es entsprechende Zuständigkeitsregelungen nicht gibt oder aber der sachliche, persönliche oder gebietliche Geltungsbereich der jeweiligen Zuständigkeitsregelung eingeschränkt ist. Soweit ein Abkommen nicht greift, weil beispielsweise die Krankenversicherung nicht von dessen sachlichem Geltungsbereich erfasst wird, sind insoweit die §§ 4 und 5 SGB IV anzuwenden. Dies kann für den betroffenen Entsendefall unterschiedliche Ergebnisse in den einzelnen Versicherungszweigen zur Folge haben (Beispiel 6.3 – Arbeitnehmer E).
2.1.1 Sachlicher Geltungsbereich
Von den Regelungen des europäischen Gemeinschaftsrechts werden alle Zweige der Sozialversicherung erfasst, von den Sozialversicherungsabkommen dagegen in der Regel nur einzelne Versicherungszweige. Aus den Übersichten der Anlage 1 sind die Staaten, mit denen Sozialversicherungsabkommen geschlossen wurden, und der jeweilige sachliche Geltungsbereich des Abkommens – differenziert nach Entsendungen aus Deutschland (Ausstrahlung) und nach Deutschland (Einstrahlung) – ersichtlich (Beispiel 6.3 – Arbeitnehmer E).
2.1.2 Persönlicher Geltungsbereich
a) Europäisches Gemeinschaftsrecht
[1] Die Zuständigkeitsregelungen der VO (EG) Nr. 883/2004 gelten für
- die Staatsangehörigen der EU-Mitgliedstaaten. (Belgien, Bulgarien, Dänemark, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Irland, Italien, Kroatien, Lettland, Litauen, Luxemburg, Malta, Niederlande, Österreich, Polen, Portugal, Rumänien, Schweden, Slowakei, Slowenien, Spanien, Tschechien, Ungarn und Zypern) – siehe Art. 2 VO (EG) Nr. 883/2004 –,
- Staatenlose im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Staatenlosen sowie für Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention, die in einem EU-Mitgliedstaat wohnen – siehe Art. 2 VO (EG) Nr. 883/2004 –,
- die Staatsangehörigen der EWR-Staaten Island, Liechtenstein und Norwegen – siehe Beschluss Nr. 76/2011 des Gemeinsamen EWR-Ausschusses –
- die Staatsangehörigen der Schweiz – siehe Art. 1 Abs. 2 des Anhangs II Personenfreizügigkeitsabkommen –
- britische Staatsangehörige uneingeschränkt bis 31.12.2020 – siehe Art. 126 des Abkommens über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der EU und der Europäischen Atomgemeinschaft – sowie
- Drittstaatsangehörige, die ihren rechtmäßigen Wohnsitz in einem EU-Mitgliedstaat haben und in der EU von einem grenzüberschreitenden Sachverhalt betroffen sind – siehe VO (EU) Nr. 1231/2010 (Beispiel 6.1 – Arbeitnehmer A).
[2] Bei Entsendungen aus Deutschland nach Dänemark und aus Dänemark nach Deutschland ist zu beachten, dass die VO (EG) Nr. 883/2004 nicht für Drittstaatsangehörige gilt. Aufgrund des Vorläufigen Europäischen Abkommens über Soziale Sicherheit ist ausschließlich für türkische Staatsangehörige das deutsch-dänische Abkommen über Soziale Sicherheit anwendbar, das Regelungen zur Kranken-, Renten-, Unfall und Arbeitslosenversicherung enthält. Für andere Drittstaatsangehörige gelten die § 4 Abs. 1 und § 5 Abs. 1 SGB IV.
[3] Bei Entsendungen aus Deutschland in das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland (im Weiteren: Großbritannien) und aus Großbritannien nach Deutschland sind ab 1.1.2021 (Ende des in Art. 126 des Austrittsabkommens festgelegten Übergangszeitraums: 31.12.2020) die Regelungen des Titels III d...