Entscheidungsstichwort (Thema)

Anforderungen an die Form einer über das elektronische Gerichts- und Verwaltungspostfach nach dem 01.01.2018 eingereichten Klage. Entscheidung des Rechtsmittelgerichts bei Übersehen der Unzulässigkeit der Klageeinreichung durch das erstinstanzliche Gericht. Beginn der 4-jährigen Ausschlussfrist gem. § 21 Abs. 1 VTV

 

Leitsatz (amtlich)

1. Wird ein bestimmender Schriftsatz auf elektronischem Weg über das EGVP nach dem 1. Januar 2018 bei den Gerichten für Arbeitssachen eingereicht und enthält dieser eine sog. Containersignatur, so ist die Prozesshandlung grds. unwirksam (Anschluss an BAG 15. August 2018 - 2 AZN 269/18 - NJW 2018, 2978).

2. Hat das Arbeitsgericht in erster Instanz innerhalb eines ordnungsgemäßen Geschäftsgangs nicht auf die Unzulässigkeit der Klageeinreichung hingewiesen, so ist der Mangel von dem Rechtsmittelgericht als unbeachtlich anzusehen. Dies folgt aus dem Grundsatz des fairen Verfahrens und der Fürsorgepflicht des Gerichts (Art. 2 Abs. 1, 20 Abs. 3 GG). Eine Heilung nach § 295 ZPO ist nicht möglich.

3. Hat das Arbeitsgericht einen rechtlich unzutreffenden Hinweis erteilt, dass es die Containersignatur i.E. als wirksam ansehe, so ist der Partei jedenfalls auch Vertrauensschutz zu gewähren.

4. § 1b AÜG steht entgegen, dass ein Personaldienstleistungsunternehmen gewerblich Arbeitnehmer in den Bausektor verleiht.

5. Die vierjährige Ausschlussfrist des § 21 Abs. 1 VTV, die nach § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB erst ab Kenntnis von dem Beitragsschuldner zu laufen beginnt und auf diesem Weg rückwirkende Beitragsforderungen bis zu 10 Jahren (vgl. § 199 Abs. 4 BGB) ermöglicht, ist mit Rücksicht auf die unternehmerische Handlungsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG der Bauarbeitgeber nicht im Wege einer verfassungskonformen Auslegung einzuschränken.

 

Normenkette

GG Art. 2 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3, Art. 12 Abs. 1; ArbGG §§ 46c ff.; ERVV § 4 Abs. 2; ZPO §§ 233, 295; VTV 2013 § 21 Abs. 1; BGB § 199 Abs. 1 Nr. 2; AÜG § 1b

 

Verfahrensgang

ArbG Wiesbaden (Urteil vom 15.08.2019; Aktenzeichen 4 Ca 375/19 SK)

 

Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Wiesbaden vom 15. August 2019 – 4 Ca 375/19 SK – abgeändert.

Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 36.999,32 Euro (in Worten: Sechsunddreißigtausendneunhundertneunundneunzig und 32/100 Euro) zu zahlen.

Die Kosten des Rechtsstreits hat die Beklagte zu tragen.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten um eine Verpflichtung der Beklagten zur Zahlung von Beiträgen zu dem Sozialkassenverfahren im Baugewerbe.

Der Kläger ist eine gemeinsame Einrichtung der Tarifvertragsparteien im Baugewerbe. Auf der Grundlage des Tarifvertrages über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe (VTV), der in der Vergangenheit regelmäßig für allgemeinverbindlich erklärt worden ist, i.V.m. dem Sozialkassenverfahrenssicherungsgesetz (SokaSiG) nimmt er die Beklagte auf Zahlung von Beiträgen in Höhe von 36.999,32 Euro in Anspruch. Dabei handelt es sich um Beiträge für gewerbliche Arbeitnehmer in dem Zeitraum März 2009 bis November 2016. Die Klageforderung beruht auf Feststellungen anlässlich eines Betriebsbesuchs bei der Beklagten. Hinsichtlich der Einzelheiten der Forderungsaufstellung wird verwiesen auf den Schriftsatz vom 20. Mai 2019 (Bl. 30 - 32 der Akte).

Die Beklagte betreibt ein gewerbliches Unternehmen mit Sitz in A. Sie ist Mitglied der IHK südl. Oberrhein. Als Gegenstand des Unternehmens ist ausweislich des Handelsregisters die Erbringung von Dienstleistungen im Baugewerbe eingetragen.

Geschäftsführerin der Beklagten ist Frau B, der Ehemann C arbeitete auf Baustellen anderer Unternehmen als Maschinenführer. Eigene Baumaschinen bediente er dabei nicht, diese wurden von den Auftraggebern gestellt. Ein schriftlicher Vertrag wurde jeweils nicht geschlossen, die Abrechnung erfolgte auf Stundenbasis.

Gegen den Betrieb der Beklagten hat das Hauptzollamt (HZA) D Ermittlungen geführt. Spätestens durch ein Schreiben vom 22. November 2016 ist dem Kläger der wesentliche Sachverhalt für die Erhebung der Klage zur Kenntnis gereicht worden.

Am 27. November 2018 sowie am 1. März 2019 hat ein Betriebsbesuch bei dem Steuerberater der Beklagten stattgefunden.

Mit bei dem Arbeitsgericht Wiesbaden am 13. Juli 2018 eingegangener Klageschrift hat der Kläger Klage eingereicht. Die Klage ist auf elektronischem Weg über das elektronische Gerichts- und Verwaltungspostfach (EGVP) eingereicht worden. Aus dem Transfervermerk ist zu entnehmen, dass eine qualifizierte Signatur durch Herrn E angebracht war. Dabei handelte es sich um eine sog. Containersignatur. Aus dem Schriftsatz war eine - möglicherweise eingescannte - Unterschrift von einem Bearbeiter F zu ersehen.

Der Vorsitzende beim Arbeitsgericht hat mit Verfügung vom 18. Juli 2018 darauf hingewiesen, dass die Klage mit einer im Prinzip unzulässigen Containersignatur unterzeichnet worden sei. Da die Klage allerdings beim Arbeitsrecht ausgedruckt worden sei, dürfte eine zulässige Klageerhebung vorliegen.

Mit S...

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