Entscheidungsstichwort (Thema)

Zulässigkeit einer Aussetzung des Verfahrens

 

Orientierungssatz

Nach § 114 Abs. 2 S. 1 SGG kann das Gericht bei Vorgreiflichkeit eines anderen Rechtsverhältnisses die Aussetzung des Verfahrens anordnen. Die Frage der Verfassungsmäßigkeit einer Norm ist kein Rechtsverhältnis. Eine analoge Anwendung der Vorschrift ist anerkannt, um eine Überschwemmung der obersten Gerichte mit einer Vielzahl gleichgelagerter Fälle zu vermeiden. Sie kommt wegen der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG nur in eng begrenzten Ausnahmefällen in Betracht. Zur Frage der Verfassungsmäßigkeit von § 20 SGB 2 im Hinblick auf die Regelsatzhöhe ist beim BVerfG nur ein Verfahren anhängig. Dies reicht nicht aus, um die Voraussetzung der Vorgreiflichkeit für eine Verfahrensaussetzung gemäß § 114 Abs. 2 S. 1 SGG analog zu begründen.

 

Tenor

I. Auf die Beschwerde des Klägers zu 1. wird der Beschluss des Sozialgerichts Kassel vom 5. Juli 2012 aufgehoben.

II. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren wird abgelehnt.

 

Gründe

I.

Der Kläger zu 1. (im folgenden Kläger) wendet sich mit seiner Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Kassel vom 5. Juli 2012, mit dem der dort anhängige Rechtsstreit (S 6 AS 641/11) im Hinblick auf den Vorlagebeschluss des Sozialgerichts Berlin vom 25. April 2012 (S 55 AS 9238/12) ausgesetzt worden ist. Das Sozialgericht hat gestützt auf § 114 Abs. 2 S. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ausgeführt, die Kläger rügten die Verfassungsmäßigkeit der Regelleistung nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II), was aufgrund des Vorlagebeschlusses des Sozialgerichts Berlin bereits Gegenstand des bei dem Bundesverfassungsgericht anhängigen Verfahrens sei. Die Aussetzung des Verfahrens sei zur Vermeidung einer Vielzahl von gleichgelagerten Verfahren bei dem Bundesverfassungsgericht sachgerecht (Hinweis auf Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG Kommentar, 10. Aufl., § 114 Rn. 5c). Zur Begründung der Beschwerde macht der Kläger im Wesentlichen geltend, eine unmittelbare Anwendung von § 114 Abs. 2 S. 1 SGG komme angesichts des Wortlauts der Vorschrift nicht in Betracht. Vorliegend verbiete sich aber auch eine analoge Anwendung, denn nach der von dem Sozialgericht zitierten Kommentarliteratur sei diese nur in eng umgrenzten Ausnahmefällen möglich, z.B. um zu verhindern, dass das Bundesverfassungsgericht mit immer gleichen Fällen überschwemmt werde. Eine solche Gefahr des Überschwemmens mit gleichgelagerten Verfahren sei hier nicht gegeben. Das Sozialgericht habe nur auf einen einzigen Vorlagebeschluss verwiesen und im Übrigen keine Ausführungen zur Begründung dieses Beschlusses gemacht, so dass nicht erkennbar sei, inwieweit sich die im vorliegenden Klageverfahren vorgebrachten Angriffsmittel und Argumente im Hinblick auf die geltend gemachte Verfassungswidrigkeit der Regelleistungen auch im Vorlagebeschluss des Sozialgerichts Berlin wiederfinden würden. Dementsprechend sei gar nicht absehbar, ob das Bundesverfassungsgericht mit den Argumenten in der Klageschrift befasst sei.

Auf den Inhalt des angefochtenen Beschlusses sowie der Gerichts- und Verwaltungsakten wird Bezug genommen.

II.

Die form- und fristgerecht erhobene Beschwerde ist begründet. Der Kläger wendet sich zu Recht gegen die von dem Sozialgericht angeordnete Aussetzung des Verfahrens.

Nach § 114 Abs. 2 S. 1 SGG kann das Gericht anordnen, dass die Verhandlung bis zur Erledigung eines anderen Rechtsstreits oder bis zur Entscheidung der Verwaltungsstelle auszusetzen sei, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil vom Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand des anderen anhängigen Rechtsstreits bildet oder von einer Verwaltungsstelle festzustellen ist. Die unmittelbare Anwendung dieser Vorschrift kommt von vornherein nicht in Betracht, weil kein anderes Rechtsverhältnis vorgreiflich abzuklären ist. Insoweit stellt die Frage der Verfassungswidrigkeit oder Nichtigkeit einer Norm, hier des § 20 SGB II, kein Rechtsverhältnis im Sinne des § 114 Abs. 2 S. 1 SGG dar (vgl. BSG, Beschluss vom 1. April 1992, 7 RAr 16/91 m.w.N.). Darüber hinaus ist eine analoge Anwendung in Rechtsprechung und Literatur zwar anerkannt, insbesondere zur Vermeidung einer “Überschwemmung„ der obersten Gerichtshöfe des Bundes und des Bundesverfassungsgerichts mit einer Vielzahl gleichgelagerter Fälle, ohne dass dies einer weiteren Klärung einer vorgreiflichen Frage dient (BSG a.a.O.; Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer a.a.O.). Die Aussetzung des Verfahrens in analoger Anwendung des § 114 Abs. 2 S. 1 SGG steht jedoch in einem Spannungsverhältnis zur Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG), so dass diese nur in eng begrenzten Ausnahmefällen in Betracht kommt. Weiter ist zu berücksichtigen, dass es sich bei der Anordnung der Aussetzung um eine Ermessensentscheidung handelt, so dass diese zu erfolgen hat, wenn alle Erwägungen ausschließlich ode...

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