Entscheidungsstichwort (Thema)

Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer beim Aufenthalt zur Arbeitsuche. Nichtvorliegen eines Aufenthaltsrechts zur Arbeitsuche nach FreizügG/EU 2004. keine Ausreisepflicht aufgrund der Freizügigkeitsvermutung für Unionsbürger. Aufenthaltsrecht als Familienangehöriger bei Familiennachzug. Nichtanwendung des Leistungsausschlusses. Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung. verfassungskonforme Auslegung. Unterhalt. Erweiternde Auslegung. Existenzminimum. Einstweilige Anordnung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Unionsbürger, die die Voraussetzungen für das Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche nach § 2 Abs 2 Nr 1a FreizügG/EU (juris: FreizügG/EU 2004) nicht erfüllen, die aber wegen der Freizügigkeitsvermutung nicht ausreisepflichtig sind (§ 7 Abs 1 S 1 FreizügG/EU), haben kein sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergebendes Aufenthaltsrecht. Sie unterfallen daher nicht dem Leistungsausschluss des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2.

2. Zu den Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung bei der Schaffung ungeschriebener Leistungsausschlüsse (Anschluss an BSG vom 19.10.2010 - B 14 AS 23/10 R = BSGE 107, 66 = SozR 4-4200 § 7 Nr 21 - juris, Rn 40).

3. Zu den Voraussetzungen eines Aufenthaltsrechts zum Familiennachzug.

 

Normenkette

SGB II § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2; FreizügG/EU § 2 Abs. 1 Nr. 1a, Abs. 2 Nr. 1, Abs. 3; FreizügG/EU § 3 Abs. 1; FreizügG/EU § 3 Abs. 2 Nr. 2, § 7 Abs. 1 S. 1; RL 2004/38/EG Art. 24 Abs. 2; GG Art. 1 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1; SGG § 86b Abs. 2 S. 2

 

Tenor

I.

Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Kassel vom 22. Dezember 2014 wird zurückgewiesen.

II.

Der Antragsgegner hat den Antragstellern deren außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

I.

Die Antragsteller begehren im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes vom Antragsgegner die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) ohne Kosten der Unterkunft.

Die Antragsteller sind bulgarische Staatsangehörige. Der Antragsteller zu 1) reiste nach eigenen Angaben im April 2012 aus Bulgarien nach Deutschland ein. Gemeldet ist er seit 1. April 2012 in der Wohnung seiner Eltern in A-Stadt, wo er zusammen mit diesen und seiner Schwester lebt. Die Eltern und seine Schwester stehen seit 1. Februar 2014 im Leistungsbezug und wurden bislang von dem Antragsgegner in dieser Zusammensetzung als Bedarfsgemeinschaft geführt (BG 1234). Nach seinen Angaben sind seine Eltern ungefähr 4 bis 5 Monate vor ihm nach Deutschland gekommen; sein Vater hätte zunächst einen Schrotthandel betrieben, diesen aber 2014 aufgegeben. Die Antragstellerin zu 2) ist die Partnerin des Antragstellers zu 1), sie sind nicht verheiratet. Sie reiste nach Angaben des Antragstellers zu 1) erst einige Monate nach ihm nach Deutschland ein und wohnt ebenfalls mit in der Wohnung der Eltern des Antragstellers zu 1). Der Antragsteller zu 3) ist das gemeinsame Kind der Antragsteller zu 1) und 2) und wurde 2014 in A-Stadt geboren. Die Antragstellerin zu 2) erhält in Deutschland Eltern- und Kindergeld für den Antragsteller zu 3). Für das Wohnen bei den Eltern des Antragstellers zu 1) entstehen den Antragstellern keine Kosten.

Den Eltern und der Schwester des Antragstellers zu 1) wurden zuletzt mit Bescheid vom 6. November 2014 Leistungen für den Zeitraum vom 1. November 2014 bis 30. April 2014 bewilligt, wobei die Kosten der Unterkunft - anders als im vorangegangenen Bewilligungszeitraum - nur anteilig wegen der drei weiteren Mitbewohner übernommen wurden (Bl. 165 bis 168 der Verwaltungsakte bezgl. der BG 1234).

Nach Auskunft der Stadt A-Stadt, Bürgeramt, Abteilung für Zuwanderung und Integration, vom 16. Dezember 2014 ist bei den Antragstellern kein Verlust des Freizügigkeitsrechts festgestellt worden. Nach einer telefonischen Anfrage des Berichterstatters vom 26. Februar 2015 liegen beim Antragsgegner zur aufenthaltsrechtlichen Situation keine neuen Erkenntnisse vor.

Der Antragsteller zu 1) verfügt nach eigenen Angaben über kein Einkommen oder Vermögen. Er hat auch kein eigenes Girokonto. Die Antragstellerin zu 2) verfügt über Einkommen in Gestalt von Eltern- und Kindergeld. Der Kontostand ihres Girokontos belief sich am 14. Dezember 2014 auf 204,10 €. Der Vater des Antragstellers verfügt nach den Feststellungen des Antragsgegners nach wie vor über ein Einkommen aus selbständiger Tätigkeit i.H.v. 200,-- € monatlich. Obwohl er seine Reisegewerbekarte bereits im April 2014 zurückgegeben hat, gab er an, zwischen Juni und September 2014 durchschnittlich Einnahmen von 428,84 € bei Ausgaben von 200,15 € erzielt zu haben. Die Mutter des Antragstellers zu 1), Frau F., verfügte am 19. Februar 2014 über ein Vermögen von 224,59 € (Girokonto). Sie erhielt für Ihre Tochter G. 184,-- € Kindergeld monatlich. Hinsichtlich der weiteren Angaben zu Einkommen und Vermögen wird auf die Verwaltungsakte des Antragsgegners zur hiesigen Bedarfsgemeinschaft, zur Bedarfsgemeinschaft BG 1234,...

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