Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Unionsbürger. anderes Aufenthaltsrecht. Arbeitsnehmerfreizügigkeit. Vorliegen einer Arbeitnehmereigenschaft. Inanspruchnahme aufstockender Sozialleistungen. kein Missbrauch des Freizügigkeitsrechts
Leitsatz (amtlich)
1. Die Inanspruchnahme von Sozialleistungen, die aufstockend zu einer tatsächlichen und echten Arbeitnehmertätigkeit oder daneben zur (weiteren) Integration in den Arbeitsmarkt gewährt werden, kann, selbst wenn ein entsprechender Bedarf zum Zeitpunkt der Zuwanderung absehbar gewesen ist, nicht per se einen Missbrauch des Freizügigkeitsrechts begründen.
2. Für die Annahme, die Berufung auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit könne sich als missbräuchlich darstellen, bleibt in diesem Fall nach Auffassung des Senats jedenfalls dann kein Raum, wenn der Betroffene durch seine Tätigkeit seinen eigenen Bedarf jedenfalls fast vollständig decken kann.
3. Unter diesen Umständen kann weder dem Arbeitnehmer selbst noch seinen Familienangehörigen die missbräuchliche Berufung auf den Arbeitnehmerstatus des beschäftigten Familienmitglieds und die daran anknüpfende Freizügigkeitsberechtigung auch der anderen Familienmitglieder entgegengehalten werden.
Tenor
I. Der Beschluss des Sozialgerichts Wiesbaden vom 22. Oktober 2019 wird aufgehoben und die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragstellern vorläufig laufende Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) in gesetzlicher Höhe für die Zeit vom 19. August 2019 bis zum 31. Januar 2020, höchstens bis zur Bestandskraft des Bescheides der Antragsgegnerin vom 14. August 2019, zu gewähren.
II. Die Antragsgegnerin hat den Antragstellern die zur Rechtsverfolgung in beiden Instanzen notwendigen Kosten zu erstatten.
III. Den Antragstellern wird Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren unter Beiordnung von Frau Rechtsanwältin E. bewilligt.
Gründe
I.
Die Antragsteller begehren im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes laufende Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II).
Die Antragsteller sind bulgarische Staatsangehörige. Der Antragsteller zu 1. und die Antragstellerin zu 2., seine Ehefrau, sind im Jahre 1996 geboren, die Antragstellerin zu 3. und der Antragsteller zu 4., ihre gemeinsamen Kinder, im Jahre 2014 beziehungsweise 2015. Die Antragsteller reisten im Frühjahr diesen Jahres nach Deutschland ein, der Antragsteller zu 1. offenbar wenige Wochen vor den anderen Familienmitgliedern. Der Antragsteller zu 1. hielt sich nach seinen Angaben bereits im Jahre 2014 für kurze Zeit in Deutschland auf; Deutschkenntnisse haben die Antragsteller nicht.
Seit ihrer (jeweiligen) Einreise leben die Antragsteller in A-Stadt, zunächst bei einer Tante des Antragstellers zu 1. und deren Ehemann. Am 1. April 2019 schloss der Antragsteller zu 1. einen Mietvertrag für die bis heute von den Antragstellern gemeinsam bewohnte, 84 Quadratmeter große Drei-Zimmer-Wohnung, für die eine Kaltmiete von 800,- Euro monatlich und eine Betriebskostenvorauszahlung (einschließlich Heizkosten) von 300,- Euro monatlich anfällt. Wegen der Einzelheiten wird auf den Mietvertrag (Bl. 37 ff. der zu den Antragstellern geführten Leistungsakte der Antragsgegnerin, erster Abschnitt - im Folgenden: LA I -) sowie das vom Vermieter gezeichnete Formular „Mietangebot und Wohnungsbeschreibung“ (LA I Bl. 45) Bezug genommen. Bei Einzug in die Wohnung war eine Kaution in Höhe von 2.400,- Euro zu leisten.
Unter dem 29. April 2019 unterzeichnete der Antragsteller zu 1. einen Arbeitsvertrag mit der Fa. F. GmbH als Landschaftsgärtner. Arbeitsvertraglich waren eine regelmäßige monatliche Arbeitszeit von 80 Stunden und ein Stundenlohn in Höhe von 10,50 Euro vorgesehen. Wegen der Einzelheiten wird auf Bl. 1 der Leistungsakte, zweiter Abschnitt - im Folgenden: LA II - verwiesen. Der monatliche Bruttoverdienst sollte dementsprechend bei 850,- Euro, der Nettoverdienst bei 680,- Euro liegen.
Der Antragsteller zu 1. nahm, wie im Arbeitsvertrag vereinbart, am 2. Mai 2019 die Arbeit auf. Bereits wenige Tage später, am 7. Mai 2019, erlitt er während der Arbeit einen Unfall, bei dem er sich eine Trennscheibenverletzung der Wange sowie eine Jochbeinfraktur rechts zuzog. Seither ist er, abgesehen von jeweils nach wenigen Tagen wieder beendeten Arbeitsversuchen im Sommer, arbeitsunfähig erkrankt und erhält Verletzten- beziehungsweise Krankengeld (vgl. hierzu beispielsweise das Schreiben der AOK Hessen vom 5. Juni 2019, Bl. 35 der Leistungsakte, dritter Abschnitt - im Folgenden: LA III - sowie die im Beschwerdeverfahren vorgelegten Unterlagen, Bl. 163 ff. der Gerichtsakte - im Folgenden: GA -). Gekündigt ist das Arbeitsverhältnis nicht.
Die Antragsteller beantragten sodann am 9. Mai 2019 bei der Antragsgegnerin Leistunge...