Entscheidungsstichwort (Thema)

Durchführung eines gerichtlichen Verfahrens ohne Vertreterbestellung für einen Prozessunfähigen bei offensichtlich haltlosem Rechtschutzbegehren

 

Orientierungssatz

1. Ist ein Verfahrensbeteiligter prozessunfähig, so ist das Gericht gleichwohl an einer Entscheidung nicht gehindert, ohne einen besonderen Vertreter zu bestellen, wenn das Rechtschutzbegehren offensichtlich haltlos ist.

2. Von einer Vertreterbestellung nach § 72 Abs. 1 SGG kann ausnahmsweise dann abgesehen werden, wenn das Rechtschutzbegehren eines Prozessunfähigen offensichtlich haltlos ist (BSG Beschluss vom 17. 12. 2014, B 8 SO 83/14 B).

3. In einem solchen Fall tangiert das Absehen von einer Vertreterbestellung den Schutzbereich des Art. 19 Abs. 4 GG nicht.

 

Tenor

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Kassel vom 18. Mai 2012 (S 13 AS 90/12 ER) wird als unzulässig verworfen.

Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren wird abgelehnt.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

 

Gründe

I.

Der 1957 geborene Antragsteller bezieht seit längerem Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) und führt seitdem zahllose Gerichtsverfahren gegen den Antragsgegner. In den Jahren 2009 bis 2013 hat er beim erkennenden Senat jährlich ca. 100 neue Verfahren anhängig gemacht, im Jahre 2014 annähernd 200 neue Verfahren und im Jahre 2015 insgesamt 277 neue Verfahren.

Mit dem im Tenor genannten Beschluss hat das Sozialgericht einen Antrag des Antragstellers auf 1. Gewährung von einstweiligem Rechtsschutz im Hinblick auf die Zustimmung zu Ortsabwesenheiten im Zeitraum 30. April 2012 bis 28. Mai 2012 und im Zeitraum 13. Mai 2012 bis 13. Juni 2012, 2. die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen den die Genehmigung der Ortsabwesenheit im Zeitraum 30. April 2012 bis 28. Mai 2012 ablehnenden Bescheid des Antragsgegners vom 26. April 2012 und 3. die Feststellung einer Schadensersatzpflicht abgelehnt.

Das Sozialgericht hat zur Begründung ausgeführt, hinsichtlich des ersten Antrags werde offen gelassen, ob überhaupt ein Rechtschutzbedürfnis bestehe. Jedenfalls sei der Antrag unbegründet, weil es für die beantragten Ortsabwesenheitszeiten von jeweils mehr als drei Wochen keine Rechtsgrundlage gebe. Hinsichtlich des zweiten Antrags fehle es am Rechtsschutzbedürfnis für vorbeugenden Rechtsschutz. Der dritte Antrag falle nicht in die Zuständigkeit des Sozialgerichts.

Gegen diesen Beschluss hat der Antragsteller fristgemäß Beschwerde zum Hessischen Landessozialgericht erhoben und seine erstinstanzlich vorgetragenen Begehren wiederholt. Darüber hinaus hat der Antragsteller die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren beantragt.

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten sowie zur Ergänzung des Sach- und Streitstands im Übrigen wird Bezug genommen auf die gewechselten Schriftsätze sowie den Inhalt der Gerichtsakten. Hinsichtlich des zur Prozessfähigkeit des Antragstellers eingeholten Sachverständigengutachtens des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. med. C. vom 27. Juni 2013 und der nachfolgenden Korrespondenz mit dem Antragsteller wird insbesondere auch auf den Inhalt der Gerichtsakte L 6 AS 397/12 B ER Bezug genommen.

II.

Die Beschwerde ist unzulässig.

Obwohl der Antragsteller prozessunfähig ist, bedarf es im vorliegenden Verfahren keiner Bestellung eines besonderen Vertreters, weil das Rechtsschutzbegehren offensichtlich haltlos ist.

Wie sich aus § 71 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ergibt, ist ein Beteiligter prozessunfähig, soweit er sich nicht durch Verträge verpflichten kann. Dies ist unter anderem der Fall bei Personen, die nicht geschäftsfähig im Sinne des § 104 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) sind, weil sie sich im Sinne von § 104 Nr. 2 BGB in einem nicht nur vorübergehenden, die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befinden und deshalb nicht in der Lage sind, ihre Entscheidungen von vernünftigen Erwägungen abhängig zu machen (vgl. BSG vom 15. November 2012 - B 8 SO 23/11 R = SozR 4-1500 § 72 Nr. 2).

Ausgehend von diesem Maßstab hält der Senat an der Auffassung fest, dass der Antragsteller zumindest seit April 2009 andauernd prozessunfähig ist.

Nach dem im Verfahren L 6 AS 397/12 B ER vom erkennenden Senat eingeholten und auch im vorliegenden Rechtsstreit zu verwertenden Sachverständigengutachten des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. med. C. vom 27. Juni 2013 leidet der Antragsteller jedenfalls seit April 2009 unter einer krankhaften Störung der Geistestätigkeit in Form einer schwer ausgeprägten wahnhaften Störung (ICD 10 F22.0) vom Subtypus Verfolgungswahn. Aufgrund dessen ist er nicht mehr in der Lage, hinsichtlich solcher Handlungen, welche die Führung von Prozessen betreffen, seine Entscheidungen von vernünftigen Erwägungen abhängig zu machen.

Die Ausführungen des Sachverständigen zur Prozessunfähigkeit d...

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