Entscheidungsstichwort (Thema)

Teilhabe behinderter Menschen am Arbeitsleben. Förderung der beruflichen Weiterbildung. Förderungsfähigkeit einer Weiterbildungsmaßnahme. Ausschluss der Verkürzung der 3jährigen Ausbildungsdauer. Sicherung der Finanzierung durch Eigenmittel. Ermessensausübung. Ermessensreduzierung auf Null. zeitliche Verzögerung durch den Leistungsträger

 

Leitsatz (amtlich)

1. § 85 Abs 2 S 3 SGB 3 verlangt keine institutionelle Sicherung der Finanzierung des dritten Ausbildungsjahres.

2. Den Wünschen und Neigungen des behinderten Menschen kommt bei der Ermessensentscheidung gem § 97 SGB 3 besondere Bedeutung zu.

3. Zur Ermessensreduzierung auf Null bei einer von der Beklagten zu verantwortenden zeitlichen Verzögerung.

 

Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 17. Februar 2010 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die Beklagte der Klägerin die tatsächlichen Kosten für die Ausbildung der Klägerin zur Physiotherapeutin zu erstatten hat.

Die Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die von der Klägerin im Oktober 2009 begonnene Ausbildung zur Physiotherapeutin als Maßnahme der Förderung behinderter Menschen am Arbeitsleben von der Beklagten zu fördern ist.

Die 1981 geborene Klägerin ist ausgebildete Feinoptikerin und arbeitete in diesem Beruf bis Dezember 2008. Ab Januar 2009 war die Klägerin arbeitslos gemeldet und arbeitete als Aushilfe bei einem ambulanten Pflegedienst zu einem Monatsverdienst in Höhe von 400 €. Ferner absolvierte sie Betriebspraktika in der physikalischen Praxis C. und in der Praxis für angewandte Osteopathie D.

Nach Angaben der Klägerin vereinbarte sie im Juni 2009 mit der Beklagten ein Beratungsgespräch und teilte der Mitarbeiterin der Beklagten in E. Frau F. mit, dass sie eine Umschulung zur Physiotherapeutin anstrebe. Frau F. habe sie in dem Glauben gelassen, dass dem nichts entgegenstünde. Allerdings müsse das ärztliche Gutachten bestätigen, dass die Klägerin aus gesundheitlichen Gründen ihren Beruf als Feinoptikerin nicht mehr ausüben könne. Frau F. habe alles Nötige in die Wege geleitet und sie - die Klägerin - habe die erforderlichen Angaben zur beruflichen Rehabilitation gemacht. Am 1. Juli 2009 unterzeichnete die Klägerin einen Antrag auf Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben (Berufliche Rehabilitation) gegenüber der Deutschen Rentenversicherung.

Anfang Juli 2009 schloss die Klägerin mit dem G. GmbH einen Vertrag über die Ausbildung zur staatlich anerkannten Physiotherapeutin. Die Ausbildungsgebühren betragen insgesamt 13.320,- €. Die Klägerin begann diese Ausbildung zum vereinbarten Ausbildungsbeginn (12. Oktober 2009).

Mit Schreiben vom 9. Juli 2009 forderte die Beklagte die Klägerin zur Angabe weiterer Informationen hinsichtlich ihres Antrags auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben auf. Aus einem Aktenvermerk der Beklagten vom 15. Juli 2009 geht hervor, dass die Klägerin den entsprechenden Antrag am 8. Juli 2009 gestellt hatte. In dem am 15. Juli 2009 bei der Beklagten eingegangenen Antragsformular (Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben) gab die Klägerin an, dass sie die Arbeit als Feinoptikerin aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ausüben könne. Sie sei an ihrem alten Arbeitsplatz ständig mit Chemikalien in Kontakt gekommen und habe täglich Kopfschmerzen und Schleimhautprobleme gehabt. Hinzu kämen Nacken- und Rückenschmerzen aufgrund einer angespannten Haltung bei der Tätigkeit sowie eine psychische Belastung.

Im Rahmen eines Beratungsgesprächs mit dem Reha-Berater der Beklagten H. (I. -Stadt) am 16. Juli 2007 gab die Klägerin an, sie strebe eine Umschulung zur Physiotherapeutin an. Sie habe bereits einen Ausbildungsvertrag mit dem Bildungsträger geschlossen. In einem Vermerk zu diesem Gespräch hielt der Berater fest, dass die gewünschte Umschulung nicht förderbar sei.

In dem - am 29. Juni 2009 in Auftrag gegebenen - sozialmedizinischen Gutachten vom 22. Juli 2009 stellte Medizinialdirektor J. fest, dass aus ärztlicher Sicht eine berufliche Neuorientierung der Klägerin notwendig sei. Die Klägerin leide an einer Überempfindlichkeit gegenüber Lösungsmitteln, an häufigen Cephalgien bei bekannter Wirbelsäulenfehlstellung, an wiederkehrenden Sinusitiden sowie erhöhten Leberwerten bei familiärer Belastung. Die Klägerin solle keine körperlich schweren Tätigkeiten, könne aber vollschichtig gelegentlich noch mittelschwere Arbeiten verrichten.

In einem weiteren Gespräch mit dem Reha-Berater K. am 3. September 2009 wurde die Klägerin erneut darüber informiert, dass die Umschulung nicht förderbar sei.

Mit Bescheid vom 4. September 2009 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin auf berufliche Rehabilitation ab. Die Dauer einer Vollzeitumschulung sei nur dann angemessen, wenn sie gegenüber einer entsprechenden Ausbildung um mindestens ein Drittel verkürzt sei. Bei nicht verkürzbaren Ausbildungen ...

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