Entscheidungsstichwort (Thema)
Soziales Entschädigungsrecht. Gewaltopfer. Spätfolgen. GdS-Feststellung. posttraumatische Belastungsstörung. keine Erforderlichkeit von Brückensymptomen. Agoraphobie mit Panikstörung. rezidivierende depressive Störung. ursächlicher Zusammenhang. wesentliche Bedingung. zeitliche Latenz von über fünf Jahren. allmähliche Entwicklung. keine spezifische Ereignisbezogenheit der Erkrankungen
Orientierungssatz
1. Für die Feststellung einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) ist nicht zwingend notwendig, dass die gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Psyche bereits unmittelbar nach dem Ende der Traumatisierung vorgelegen oder seitdem ununterbrochen bestanden haben, da sogenannte "Brückensymptome" weder nach der ICD-10-GM noch nach dem DSM-IV/V zu fordern sind.
2. Zwar ist dann, wenn solche Symptome nicht alsbald nach der Schädigung entstanden und nachweisbar sind, die Zusammenhangfrage besonders sorgfältig zu prüfen und nur anhand eindeutiger objektiver Befunde zu bejahen. Aber diese Frage nach dem ursächlichen Zusammenhang ist erst zu stellen, wenn die Diagnose positiv feststeht (vgl BSG vom 2.12.2010 - B 9 VH 3/09 B = MEDSACH 2013, 87 und vom 16.2.2012 - B 9 V 17/11 B = ZOV 2014, 69).
3. Der ursächliche Zusammenhang zwischen psychischen Gesundheitsstörungen (hier: Agoraphobie mit Panikstörung und rezidivierende depressive Störung) und dem schädigenden Ereignis ist zu verneinen, wenn das Ereignis als Einzelereignis (hier: Stoß von einer Rolltreppe durch einen Tritt in das Gesicht) keine wesentliche Bedeutung für die Entwicklung der Gesundheitsstörungen hat (hier vor dem Hintergrund einer langen zeitlichen Latenz von über fünf Jahren, einer allmählichen "Crescendo-Entwicklung" sowie einer weitreichenden Angst- und depressiven Symptomatik, die weit über eine spezifische Ereignisbezogenheit hinausgeht).
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 30. Januar 2019 wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander auch im Berufungsverfahren keine Kosten zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Gewährung einer Beschädigtenrente nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (Opferentschädigungsgesetz - OEG) i. V. m. dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) und um die Anerkennung weiterer Schädigungsfolgen.
Der 1958 geborene Kläger wurde am 05.09.2004 Opfer einer Gewalttat: Der Täter trat dem Kläger im Bereich einer Rolltreppe zum Aufgang der x-Ebene im Hauptbahnhof C-Stadt mit dem beschuhten Fuß in das Gesicht, worauf der Kläger rückwärts die Rolltreppe hinunterfiel. Infolge des Tritts erlitt der Kläger einen Unterkieferbruch und infolge des Sturzes multiple Schürfwunden. Die Unterkieferfraktur musste operativ versorgt werden; infolgedessen befand sich der Kläger in der Zeit vom 07.09.2004 bis zum 10.09.2004 in stationärer Behandlung im St. M.-Krankenhaus. Das Amtsgericht Frankfurt am Main verurteilte den Täter mit Urteil vom 22.08.2006 wegen vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen (Az. 997 Ds 111 Js 4501/04). Der Täter begründete die Tat damit, er habe vermutet, dass der Kläger, der tatsächlich einen Schlüssel in seiner Socke zurechtgerückt hatte, seiner Freundin unter den Rock habe schauen wollen.
Am 05.07.2007 beantragte der Kläger beim Beklagten die Gewährung einer Beschädigtenversorgung nach dem OEG und machte geltend, dass er fortlaufend Beschwerden infolge des Kieferbruchs habe; der Kiefer lasse sich nur teilweise öffnen, er empfinde ein Taubheitsgefühl und verspüre Krämpfe beim Gähnen. Der Beklagte zog die Strafakte (997 Ds 111 Js 4501/04) sowie Befundberichte des Oralchirurgen Dr. D. und des Orthopäden Dr. E. bei. Ergänzend legte der Kläger Ende 2008 ein Attest der Zahnärztin Dr. F. vom 14.05.2008 sowie eine Aufstellung über seine aktuellen Beschwerden (u.a.: Doppel-Sehen; Bl. 63 der VerwA) vor.
Nach Einholung einer HNO-ärztlichen Stellungnahme des versorgungsmedizinischen Beratungsarztes Dr. G. vom 27.01.2009 zog der Beklagte einen augenärztlichen Befundbericht des Dr. H. vom 29.11.2007, einen ausführlichen Bericht der behandelnden Zahnärztin Dr. F. vom 30.04.2009 sowie eine aktuelle MRT-Aufnahme des Kiefers vom 30.05.2009 bei und beauftragte Prof. Dr. Dr. J. mit einer kieferchirurgischen Begutachtung. Dieser bestätigte im Gutachten vom 22.06.2011 eine Mundöffnungseinschränkung nach Kieferwinkelfraktur und Kronenfraktur (Zahn 42) mit Hypästhesien im Bereich des Nervus mentalis links sowie Okklusionsstörungen und Kieferknacken. Nach Beiziehung eines weiteren Befundberichtes des Zahnarztes K. vom 27.02.2012 stellte der Beklagte mit Bescheid vom 04.05.2012 fest, dass der Kläger durch die Gewalttat am 05.09.2004 eine gesundheitliche Schädigung im Sinne des § 1 OEG erlitten habe. Als Folge der Schädigung werde ab 01.07.2007 anerkannt:
Kraniomandibuläre Dysfunktion, Verlust des Zahns 38, Schädigung des Zahns 42, Sensibilitätsstörung im Unterkieferbere...