Entscheidungsstichwort (Thema)
Erstattungsstreit zwischen Sozialleistungsträgern. Beharren des erstattungspflichtigen Leistungsträgers auf einer offensichtlich rechtswidrigen Entscheidung. Erstattungsanspruch des Sozialhilfeträgers gegen den Rentenversicherungsträger. Betreibung der Feststellung einer Sozialleistung durch den Träger der Sozialhilfe nach § 95 SGB 12. kein Widerspruch gegen die Leistungsablehnung des Trägers der gesetzlichen Rentenversicherung
Orientierungssatz
1. Im Rahmen eines Erstattungsstreits zwischen Sozialleistungsträgern verletzt ein Beharren des möglicherweise erstattungspflichtigen Leistungsträgers auf einer offensichtlich rechtswidrigen Entscheidung das in § 86 SGB 10 ausdrücklich festgelegte Gebot der engen Zusammenarbeit der Leistungsträger.
2. Hierbei kann sich der ersatzbegehrende Leistungsträger auf eine offensichtliche Unrichtigkeit eines Bescheides über die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente jedenfalls dann nicht berufen, wenn er als Sozialhilfeträger berechtigt war, das Verwaltungsverfahren für den Hilfeempfänger selbst zu betreiben, und dieses auch tatsächlich betrieben hat.
Nachgehend
Tenor
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 13. September 2022 wird zurückgewiesen.
II. Der Kläger hat auch die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
IV. Der Streitwert wird auf 6.162,72 € festgesetzt.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Erstattung der vom Kläger für die Zeit vom 1. September 2017 bis 30. April 2018 erbrachten Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch, Zwölftes Buch (SGB XII) in Höhe von 6.162,72 €.
Dem Versicherten, A., geboren am 1978, sind wegen „geistiger und psychischer Behinderung“ ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 sowie die Nachteilsausgleiche „B“, „G“ und „H“ zuerkannt (Bescheid des Versorgungsamtes Frankfurt am Main vom 26. März 1990). Er wohnt seit dem 1. Juni 2010 in der Wohnstätte B. e.V. (Aufnahmeanzeige vom 2. Juni 2010). Kostenträger dieser Maßnahme der Eingliederungshilfe ist der Kläger, der dem Versicherten entsprechende Leistungen unter anderem durch Bescheid vom 4. Juli 2017 für den Zeitraum vom 1. Juni 2017 bis 31. Mai 2020 gewährte. Anlässlich der Beantragung dieser Sozialhilfeleistungen hatte der Versicherte unter dem 16. April 2010 angegeben, Lohn aus seiner Tätigkeit in einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) zu beziehen. Aus der dem Sozialhilfeantrag beigefügten Stellungnahme des Facharztes für Psychiatrie C. vom Gesundheitsamt des Main-Kinzig-Kreises vom 22. Juni 1999 geht hervor, dass der Versicherte seit September 1998 in den B. Werkstätten arbeite.
Nachdem der Kläger in Erfahrung gebracht hatte, dass der Versicherte bereits seit 1. September 1997 in einer WfbM beschäftigt ist, meldete er mit Schreiben vom 8. Mai 2018 bei der Beklagten einen Erstattungsanspruch nebst Zinsen für den Zeitraum vom 1. September 2017 bis 30. April 2018 an. Mit weiterem Schreiben vom 8. Mai 2018, eingegangen am 9. Mai 2018, beantragte der Kläger bei der Beklagten außerdem formlos Rente nach 20-jähriger Beschäftigung des Versicherten in einer WfbM und meldete vorsorglich ebenfalls einen Erstattungsanspruch auf die Nachzahlung und laufende Rente wegen voller Erwerbsminderung an.
Nachdem sie den Rentenantrag zunächst wegen fehlender Mitwirkung des Versicherten abgelehnt hatte (Bescheid vom 9. Oktober 2018), worüber sie den Kläger mit Schreiben vom selben Tag in Kenntnis gesetzt hatte, teilte die Beklagte mit Schreiben vom 21. November 2018 sodann mit, dass die Rente an den Kläger gezahlt werde. Für die Zeit vom 1. Mai 2018 bis 31. Dezember 2018 betrug die Nachzahlung 6.360,54 €. Ab dem 1. Januar 2019 ergab sich eine monatliche Rentenzahlung von 804,50 €.
Ausweislich einer Aufstellung beliefen sich die Wohnkosten des Versicherten für den Zeitraum vom 1. September 2017 bis 30. April 2018 auf insgesamt 17.207,20 €.
Mit Schreiben vom 27. November 2018 meldete der Kläger abermals bei der Beklagten einen Erstattungsanspruch nebst Zinsen für den Zeitraum vom 1. September 2017 bis 30. April 2018 an. Daraufhin teilte ihm die Beklagte mit Bescheid vom 27. November 2018 mit, über den Antrag vom 9. Mai 2018 am 21. November 2018 entschieden zu haben. Dem mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehenen Bescheid war eine zu seinem Bestandteil erklärte Mehrausfertigung des an den Versicherten adressierten Rentenbescheides vom 21. November 2018 beigefügt, aus der hervorgeht, dass die Anspruchsvoraussetzungen ab dem 31. August 2017 erfüllt seien.
Gegen den bei ihm am 12. Dezember 2018 eingegangenen Bescheid erhob der Kläger mit Schreiben vom 13. Dezember 2018, eingegangen bei der Beklagten am 19. Dezember 2018, Widerspruch. Zur Begründung führte der Kläger aus, dass ein rückwirkender Erstattungsanspruch bereits ab 1. September 2017 bestehe, obwohl die Rente nicht spätestens nach Ablauf von drei Kalendermonaten nach Beginn des Leistungsanspruchs be...