Entscheidungsstichwort (Thema)
Rente wegen Erwerbsminderung. Vorliegen der Anpassungs- und Umstellungsfähigkeit eines Versicherten. Begutachtung
Leitsatz (amtlich)
1. Die mangelnde Fähigkeit eines Versicherten, sich auf andere als zuvor ausgeübte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes umstellen und an diese anpassen zu können, führt zur Erwerbsminderung iS von § 43 SGB 6. Dies gilt auch, wenn dem Versicherten wegen seiner beruflichen Qualifikation oder sonstiger Umstände grds keine besondere Verweisungstätigkeit zur Verwertung seines Restleistungsvermögens benannt werden muss.
2. Die Feststellungen eines psychologischen Sachverständigen zur Frage der Anpassungs- und Umstellungsfähigkeit eines Versicherten sind von den Feststellungen medizinischer Sachverständiger unabhängig, da sie nicht die körperliche oder seelische Leistungsfähigkeit anhand medizinischer Befunde beurteilen, sondern allein die psychische Fähigkeit des Versicherten, eine andere als eine zuvor ausgeübte Erwerbstätigkeit verrichten zu können.
Tenor
I. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 21. Oktober 2008 geändert. Die Beklagte wird unter Änderung ihres Bescheides vom 12. Januar 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. April 2005 verurteilt, dem Kläger ab dem 1. Januar 2010 unbefristete Rente wegen voller Erwerbsminderung nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmung zu gewähren. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
II. Die Beklagte hat dem Kläger ein Drittel der Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung nach dem Sozialgesetzbuch sechstes Buch (SGB VI).
Der 1955 geborene Kläger ist als Spätaussiedler am 18. Oktober 1989 von Polen in die Bundesrepublik Deutschland zugezogen. In Polen hat er nach eigenen Angaben den Beruf des Zimmermanns und Tischlers erfolgreich erlernt und bis 1984 ausgeübt (davon ein Jahr als Zimmermann im Kohlebergbau); hiernach war er bis zu seiner Ausreise als Rangierer im Bahnbetrieb beschäftigt. In der Bundesrepublik Deutschland ist er von August 1990 bis August 1992 einer Tätigkeit als Hochbaufachwerker nachgegangen. Im August 1992 erlitt der Kläger einen Arbeitsunfall. Das letzte Arbeitsverhältnis des Klägers wurde nach vorangegangener Arbeitsunfähigkeit mit Aufhebungsvertrag vom 30. Juni 1994 mit Wirkung zum 31. Juli 1994 beendet, wobei sich die Vertragsparteien einig waren, dass die Beendigung des Arbeitsverhältnisses erfolgte, weil der Kläger seiner bisherigen Tätigkeit als Hochbaufachwerker aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr nachgehen könne. Seitdem ist der Kläger einer Erwerbstätigkeit nicht mehr nachgegangen.
Einen im Jahre 1995 vom Kläger gestellten Antrag auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit lehnte die damals zuständige Landesversicherungsanstalt Hessen (nunmehr Deutsche Rentenversicherung - DRV - Hessen) nach medizinischen Ermittlungen und Einholung einer Anfrage an den letzten Arbeitgeber des Klägers - wonach er als Hochbaufachwerker mit einer Anlernzeit von weniger als drei Monaten tätig war - mit der Begründung ab (Bescheid vom 4. Dezember 1995 und Widerspruchsbescheid vom 30. Dezember 1996), ein zeitlich herabgesunkenes Leistungsvermögen sei bei dem Kläger nicht festzustellen. Das nachfolgende Klageverfahren blieb für den Kläger erfolglos (Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 19. März 1998, Az.: S 7 J 115/97). In einem Vergleich der Beteiligten vom 24. April 1999, der das sich anschließende Berufungsverfahren vor dem Hessischen Landessozialgericht beendete, verpflichtete sich die damalige Beklagte, dem Kläger berufliche Leistungen zur Rehabilitation zu bewilligen, bevor über einen Rentenanspruch von der damaligen Beklagten abschließend entschieden werden sollte. Die Teilnahme an der sodann mit Bescheid vom 2. Mai 2000 bewilligten zehnmonatigen beruflichen Integrationsmaßnahme im Berufsförderungswerk ZW. lehnte der Kläger in der Folge jedoch ab, da er sich aus gesundheitlichen Gründen zur Teilnahme nicht im Stande sah. Mit abschließenden Bescheiden vom 5. Juli 2000 und 18. September 2001 lehnte die Landesversicherungsanstalt Hessen die Gewährung von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit bzw. Erwerbsminderung ab; der den gegen die Ablehnungsbescheide gerichteten Widerspruch des Klägers zurückweisende Widerspruchsbescheid vom 19. August 2002 blieb unangefochten.
Mit seinem am 14. Juni 2004 bei der Beklagten gestellten Antrag begehrte der Kläger Gewährung von Rente wegen voller Erwerbsminderung. In einem von der Beklagten in Auftrag gegebenen Gutachten gelangte ihr Sozialmedizinischer Dienst (Dr. U.) am 8. November 2004 nach Untersuchung des Klägers zu der Einschätzung, der Kläger sei noch in der Lage, wenigstens sechs Stunden arbeitstäglich erwerbstätig zu sein. Sein Leistungsvermögen sei lediglich durch ein leichtes degeneratives Hals- und Lendenwirbelsäulen-Syndrom, eine leichtgradige Periarthropathie der linken Schulter, durch eine ...