Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Erstattungsanspruch des Grundsicherungsträgers gegen den Rentenversicherungsträger bei rückwirkender Rentenbewilligung. Anspruch des vorläufig leistenden Leistungsträgers. Anspruch bei nachträglichem Wegfall der Leistungspflicht. Anspruch des nachrangig verpflichteten Leistungsträgers nach § 40a SGB 2 iVm § 104 Abs 1 SGB 10. Wegfall des Anspruchs gem § 79 Abs 1 SGB 2. Verfassungsmäßigkeit. Rückwirkungsverbot. Grundrechtsfähigkeit des zugelassenen kommunalen Trägers. echte Rückwirkung
Leitsatz (amtlich)
1. § 103 Abs 1 SGB X bietet keine Anspruchsgrundlage für ein Erstattungsbegehren des Grundsicherungsträgers gegenüber dem Rentenversicherungsträger bei rückwirkender Bewilligung einer Alters- oder Erwerbsminderungsrente (vgl BSG vom 31.10.2012 - B 13 R 11/11 R = SozR 4-1300 § 106 Nr 1).
2. Ein Erstattungsanspruch in einem solchen Fall ergibt sich jedoch aus § 40a S 1 und 2 SGB II iVm § 104 Abs 1 SGB X, wobei § 79 Abs 1 SGB II den Anspruch für den Zeitraum vom 31.10.2012 bis 5.6.2014 entfallen lässt.
3. Unkenntnis iS von § 79 Abs 1 SGB II liegt auch vor, wenn der Rentenversicherungsträger von der Leistungsgewährung des Grundsicherungsträgers Kenntnis hatte.
4. § 79 Abs 1 SGB II entfaltet bei der rückwirkenden Bewilligung einer Altersrente echte Rückwirkung, ein Verstoß gegen das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot liegt aber nicht vor.
5. Ein kommunaler Träger iS von § 6a SGB II kann sich auf das Rückwirkungsverbot berufen.
Orientierungssatz
1. Eine vorläufige Leistungsgewährung iS von § 102 Abs 1 SGB 10 liegt nur bei einer Leistungsgewährung zwischen gleichrangig verpflichteten Leistungsträgern vor, nicht jedoch, wenn ein nachrangig verpflichteter Leistungsträger aufgrund eigener Verpflichtung Leistungen erbringt. In einem solchen Fall richtet sich der Erstattungsanspruch stets nach § 104 SGB 10 (vgl BSG vom 1.7.2003 - B 1 KR 13/02 R = USK 2003-106).
2. Ein sozialrechtlicher Leistungsanspruch entfällt iS von § 103 Abs 1 Halbs 1 SGB 10 nur, wenn durch die Erfüllung des (zweiten) Leistungsanspruchs der von einem zuständigen Leistungsträger erbrachte (erste) Leistungsanspruch (durch eine "Wegfallregelung" oder "-bestimmung" - vgl BSG vom 29.11.1985 - 4a RJ 84/84 = SozR 1300 § 103 Nr 5) zum Wegfall kommt (vgl BSG vom 31.10.2012 - B 13 R 11/11 R aaO und B 13 R 9/12 R = SozR 4-1300 § 104 Nr 5).
3. Eine belastende Rückwirkung ist gerechtfertigt, wenn sich kein schutzwürdiges Vertrauen auf den Bestand des geltenden Rechts bilden konnte (vgl BVerfG vom 23.7.2002 - 2 BvL 14/98 = LKV 2002, 569).
Tenor
1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 30. März 2015 wird zurückgewiesen.
2. Der Kläger hat auch die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen. Außergerichtliche Kosten des Beigeladenen sind nicht zu erstatten.
3. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist die Erstattung von gewährten Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) in Höhe von 878,67 Euro wegen der nachträglichen Gewährung einer Altersrente an den Beigeladenen streitig.
Der Kläger ist Leistungsträger nach dem SGB II. Mit Bescheid vom 30. Juli 2013 bewilligte er für den Zeitraum vom 1. Juli bis 31. Dezember 2013 vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II an den Beigeladenen, u.a. für August 2013 in Höhe von 798,67 Euro. Der Kläger gewährte dem Beigeladenen zudem im Monat Juli 2013 einen Lebensmittelgutschein in Höhe von 80,00 Euro, der vom Beigeladenen am 24. Juli 2013 im Wert von 79,97 Euro eingelöst wurde. Der Kläger zahlte dem Beigeladenen sodann am 6. August 2013 die Differenz zum Gutscheinwert in Höhe von 0,03 Euro aus. Die Ehefrau des Beigeladenen bezog bereits eine Altersrente und erhielt nach § 7 Abs. 4 Satz 1 2. Alt. SGB II keine Leistungen nach dem SGB II von dem Kläger.
Bereits mit Schreiben vom 30. Juli 2013 meldete der Kläger bei der Beklagten einen Erstattungsanspruch an. Am 1. August 2013 beantragte der Beigeladene bei der Beklagten sodann die Gewährung einer Altersrente wegen Arbeitslosigkeit. Mit Bescheid vom 4. September 2013 bewilligte die Beklagte dem Beigeladenen eine Altersrente wegen Arbeitslosigkeit oder nach Altersteilzeitarbeit rückwirkend ab dem 1. August 2013 in Höhe von 1.144,84 Euro monatlich. Ein Nachzahlungsbetrag in Höhe von 1.144,84 Euro für den Zeitraum vom 1. bis 31. August 2013 wurde ebenfalls an den Versicherten ausbezahlt.
Mit Schreiben vom 9. September 2013 bezifferte der Kläger gegenüber der Beklagten seinen Erstattungsanspruch zunächst mit 1.327,34 Euro für den Zeitraum August und September 2013.
Mit Schreiben vom 16. September 2013 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass sie unter Verweis auf die Entscheidungen des Bundessozialgerichts vom 31. Oktober 2012 (B 13 R 11/11 R und B 13 R 9/12 R) einen Erstattungsanspruch an den Kläger als Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach den §§ 102 ff. Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) nicht für gegeben...