Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesetzliche Unfallversicherung
Leitsatz (amtlich)
Bei einer allenfalls geringfügigen Exposition gegenüber aromatischen Aminen und einer gleichermaßen mit 5 Packungsjahren geringen Exposition gegenüber Tabak erachtet der Senat das Risiko an Harnblasenkrebs zu erkranken für beide Einwirkungsarten gleich hoch. Einen niedrigeren oder höheren Wahrscheinlichkeitsgrad für die eine oder andere Exposition festzumachen, scheidet mangels Quantifizierbarkeit der aromatischen Aminbelastung sowohl bezogen auf die beruflichen Stoffe wie auch die konkreten Tabakingredienzien aus. Weitere Ermittlungs- oder Erkenntnismöglichkeiten bestehen nicht. Bezogen auf die (unterstellte) berufliche Einwirkung und die nachgewiesene außerberufliche Einwirkung ergibt sich insoweit ein Patt, das sich nach Beweislastgrundsätzen zulasten des Klägers auswirkt.
Tenor
I. Auf die Berufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Fulda vom 20. Februar 2023 abgeändert und der Bescheid der Beklagten vom 16. März 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. August 2018 aufgehoben. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
II. Die Beklagte trägt 1/10 der außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Instanzen.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten nur noch darüber, ob die Krebserkrankung des Klägers als Berufskrankheit (BK) nach der Nr. 1301 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung (BKV) anzuerkennen ist. Die BK Nrn. 2402 und 1321 sind nicht mehr streitgegenständlich.
Der 1955 geborene Kläger, von Beruf Kfz-Mechaniker, arbeitete von August 1969 - mit Unterbrechung durch den gesetzlichen Wehrdienst (April 1976 bis Juni 1977) - bis Mai 1993 bei unterschiedlichen Firmen, nach Abschluss seiner Ausbildung ab März 1973 dabei überwiegend im Baugewerbe. Nach einer Umschulung 1993/94 nahm der Kläger im April 1994 eine selbstständige Erwerbstätigkeit als Trockenbauer / Monteur im Bereich Holz, Kunststoff und Metall auf, ohne dass für diese Tätigkeit eine freiwillige Versicherung bei der Beklagten begründet wurde.
Im Oktober 2017 teilte der Kläger der Beklagten mit, seit Aufnahme seiner Berufstätigkeit im Jahr 1969 mit vielen, vielleicht belastenden, Materialen in Kontakt gekommen zu sein: Als Kfz-Schlosser und Maschinenführer mit Benzin, Diesel, Öl; als Monteur mit Farben, asbestbelasteten Wellplatten, Reinigungs-/ Lösungsmitteln. Er habe Kunststoffe geschnitten, Teerpappe usw. verlegt. Was für Inhaltsstoffe enthalten gewesen seien, könne er nach 48 Arbeitsjahren nicht mehr nachvollziehen, es sei sicher nicht alles unbelastet gewesen. Aus einem beigefügten ärztlichen Schreiben der Urologischen Gemeinschaftspraxis C-Stadt, ohne Datum, ergab sich der Hinweis auf eine Blasenkrebserkrankung des Klägers. Unter dem 19. November 2017 machte der Kläger ergänzende Angaben zu den von ihm ausgeübten beruflichen Tätigkeiten. Die Beklagte leitete daraufhin BK- Feststellungsverfahren die BK Nrn. 1301 und 1321 betreffend ein.
Im Rahmen der Sachermittlungen von Amts wegen zog die Beklagte sodann Befundberichte der behandelnden Ärzte des Klägers (Urologische Gemeinschaftspraxis C-Stadt / Dr. D. vom 30. November 2017 nebst Befunddokumentation und diversen Konsiliarberichten) bei. Danach war bei dem Kläger im Juli 2016 ein Urothelkarzinom der Harnblase diagnostiziert worden.
Nachdem die Beklagte die früheren Arbeitsgeber des Klägers ermittelt hatte, äußerte sich deren Präventionsdienst unter dem 15. Januar 2018 zu den arbeitstechnischen Voraussetzungen in einer Stellungnahme zur Arbeitsplatzexposition u. a. die BK Nr. 1301 betreffend. Danach sei der Kläger im Zeitraum von August 1969 bis Februar 1973 während seiner Ausbildung zum Kfz-Mechaniker gegenüber Mineralölprodukten wie Kraftstoffen, Schmierfetten und Ölen sowie Kaltreiniger exponiert gewesen. Ein direkter Kontakt zu aromatischen Aminen habe nicht ermittelt werden können. Es sei jedoch anzunehmen, dass Kontakt zu Mineralölprodukten bestanden habe, die mit Azofarbstoffen eingefärbt gewesen seien. Laut wissenschaftlicher Stellungnahme von 2016 seien Azofarbstoffe, aus denen humankanzerogene aromatische Amine abgespalten werden können, geeignet, Krebs der Harnwege im Sinne der BK Nr. 1301 zu verursachen. Neben den als K1A eingestuften aromatischen Aminen zähle hierzu o-Toluidin. Bei den verwendeten Mineralölprodukten sei nicht bekannt, welche Farbstoffe zum Einfärben verwendet worden seien, zumal mit den Fahrzeugen eine Vielzahl verschiedenster Produkte unterschiedlicher Hersteller in die Werkstätten gelangt seien. Ottokraftstoffe von Aral hätten von 1958 bis 1983 und von Shell bis 1978 den Azofarbstoff Solvent Red 19 enthalten. Einfärbungen seien auch bei anderen Herstellern erfolgt, konkrete Farbstoffe seien nicht bekannt. Häufig seien Solvent-Red-Farbstoffe in sehr niedrigen Konzentrationen zum Einsatz gekommen, die je nach chemischer Struktur 4-Aminoazobenzol, Anilin, p-Phenylendiamin, o-Anisidin, o-Aminoaotoluol, o-Toluidin und a...