Rz. 4
Der Zuständigkeitsbereich der Vertreterversammlung im Einzelnen ist breit gefächert und in den verschiedenen Versicherungszweigen vielfach unterschiedlich geregelt. Als Hauptaufgabe weist das Gesetz der Vertreterversammlung jedoch die wichtigste Selbstverwaltungsaufgabe schlechthin zu, nämlich die autonome Rechtssetzung. Autonomes Recht ist damit kein staatlich gesetztes Recht, sondern ein bedeutungsvolles Kernstück der Selbstverwaltung. Jedoch bedarf es immer einer gesetzlichen Ermächtigung, die ebenso wie höherrangiges Recht zu beachten ist. Insoweit ist eine gerichtliche Kontrolle möglich (BSG, SozR 3-2200 § 725 Nr. 2). Das bedeutet gleichzeitig, dass durch satzungsrechtliche Bestimmungen keine neuen Zuständigkeiten für den Versicherungsträger geschaffen werden dürfen. Die Festsetzung von Mindestbeiträgen (in der gesetzlichen Unfallversicherung) dem Vorstand zu übertragen, ist mangels gesetzlicher Ermächtigung unzulässig (BSG, Urteil v. 4.12.2014, B 2 U 11/13 R). Gleichzeitig ist eine staatliche Kontrolle insoweit erforderlich, als die Einhaltung der gesetzlichen Ermächtigungsvorgaben zu überwachen ist.
Die Bedeutung der Rechtsetzung durch die Vertreterversammlung wird dadurch erkennbar, dass das Satzungsrecht im Bereich der Sozialversicherung neben dem Gesetzesrecht die wichtigste Rechtsquelle darstellt. Die Vertreterversammlung ist dabei befugt, Selbstverwaltungsaufgaben weitgehend an sich zu ziehen (sog. Kompetenz-Kompetenz). Allerdings darf dies nicht zu einer Änderung verfassungsmäßig vorgesehener Kompetenzverteilungen führen, die einen Eingriff in den Kernbereich der gesetzlichen Zuständigkeiten von Vorstand, Direktorium und/oder Geschäftsführer darstellen.
Rz. 5
Generell gilt der Grundsatz, dass bei einer Abstimmung in der Vertreterversammlung die Mehrheit der abgegebenen Stimmen entscheidet. Da jedoch der Regelungsbereich der Satzung der Deutschen Rentenversicherung Bund sowohl Trägeraufgaben als auch Grundsatz- und Querschnittsaufgaben und gemeinsame Angelegenheiten der Träger der Rentenversicherung betrifft, ist für die Beschlussfassung gemäß § 64 Abs. 4 eine Mehrheit von zwei Dritteln aller Stimmen erforderlich, soweit Regelungen zu Grundsatz- und Querschnittsaufgaben der Deutschen Rentenversicherung und zu gemeinsamen Angelegenheiten der Träger der Rentenversicherung getroffen werden, da von diesen Regelungen auch die Regionalträger und die Deutsche Knappschaft-Bahn-See betroffen werden. Bei Regelungen zu Trägeraufgaben bedarf der Beschluss der Mehrheit der abgegebenen Stimmen der durch Wahl der Versicherten und Arbeitgeber der Deutschen Rentenversicherung Bund bestimmten Mitglieder (BR-Drs. 430/04 S. 194).
2.2.1 Setzung autonomen Rechts
Rz. 6
Zum autonomen Recht gehören alle Vorschriften, die der Versicherungsträger im Rahmen der Gesetze mit Wirkung für und gegen Dritte erlässt. Kernstück dieser legislativen Tätigkeit, aber anders als im Kommunalrecht nicht ausschließlicher Bereich, ist die Aufstellung der in Abs. 1 ausdrücklich genannten Satzung. Sie ist gleichsam die Verfassung des Versicherungsträgers und enthält alle grundlegenden rechtlichen Bestimmungen, darunter auch solche über die Verteilung der Aufgaben und Befugnisse zwischen den einzelnen Organen (z. B. § 81 Abs. 1 SGB V für die Kassenärztlichen Vereinigungen). Auch jede Satzungsänderung muss die Vertreterversammlung beschließen. Dabei ist die Mitwirkung anderer Organe und Stellen an der Rechtssetzung nicht ausgeschlossen. So wird im Regelfall der Vorstand bzw. der Bundesvorstand bei der Deutschen Rentenversicherung Bund die Satzungsbeschlüsse vorbereiten. Der Satzungsbeschluss erlangt nicht sofortige Rechtswirkung nach außen, da er der Genehmigung durch die Aufsichtsbehörde bedarf (§ 34 Abs. 1 Satz 2 SGB IV). Bei der Errichtung von Betriebs- und Innungskrankenkassen ist die der Aufsichtsbehörde zur Genehmigung vorzulegende Satzung vom Arbeitgeber bzw. der Handwerksinnung zu erstellen (§ 148 Abs. 3 Satz 1, § 158 Abs. 3 SGB V). Weiterhin ist es erforderlich, autonomes Recht zu veröffentlichen (§ 34 Abs. 2).
Rz. 7
Die Befugnis (Ermächtigung) zum Erlass sonstigen autonomen Rechts wird dem Versicherungsträger durch die Regelungen im SGB gewährt.
Als sonstiges von der Vertreterversammlung zu beschließendes autonomes Recht sind beispielhaft zu erwähnen: In der Unfallversicherung die Unfallverhütungsvorschriften (§ 15 SGB VII), der Gefahrtarif (§ 157 SGB VII; BSG, Urteil v. 11.4.2013, B 2 U 4 /12 R) und die Dienstordnung (§§ 144 ff. SGB VII), die nicht wie in der Krankenversicherung vom Vorstand beschlossen wird und lediglich der Zustimmung durch die Vertreterversammlung bedarf (§ 355 Abs. 2 RVO), sondern von der Vertreterversammlung erlassen wird, sowie Richtlinien, soweit sie Außenwirkung haben (z. B. Richtlinien der Krankenkassen über Zahnersatz, Rehabilitationsrichtlinien der Rentenversicherungsträger). Die Rechtsnatur der Beitragsverfahrensgrundsätze Selbstzahler (§ 240 SGB V) ist hingegen umstritten. Überwiegend wird angenommen, dass es sich um Verwaltungsvorsch...