Rz. 2
Die Vorschrift hat nur Hinweisfunktion. Sie enthält zum persönlichen und räumlichen Geltungsbereich einen Vorbehalt für das gesamte über- und zwischenstaatliche Vertragsrecht. Dieses verdrängt das innerstaatliche Recht und reduziert vor allem den Anwendungsbereich der §§ 4 und 5 SGB IV. Inhaltlich wiederholt § 6 den Vorbehalt des § 30 Abs. 2 SGB I. Einen weiteren Vorrang postuliert § 37 Abs. 1 Satz 1 SGB I. Danach gehen abweichende Normen einzelner Versicherungszweige (z. B. § 5 Abs. 1 Nr. 9, Abs. 4 SGB V; § 3 Satz 1 Nr. 1 SGB VI i. V. m. § 56 Abs. 3 Satz 2 und 3 SGB VI, § 3 Satz 6 SGB VI, § 4 Abs. 1 SGB VI, § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB VI, § 232 Abs. 1 Satz 2 SGB VI; §§ 2 Abs. 3, 140 Abs. 2 VII; § 26 Abs. 2 XI) dem SGB I und SGB X vor. Allerdings treten auch diese Vorschriften hinter dem über- und zwischenstaatlichen Recht zurück. Im Ergebnis geht über- und zwischenstaatliches Recht immer vor.
Rz. 3
Die Regelungen des zwischenstaatlichen Rechts haben nach dem Grundsatz der Spezialität Vorrang (Seewald, in: KassKomm SGB IV, § 6 Rz. 1). Auch das Unionsrecht geht vor, und zwar sowohl das Primär- als auch das Sekundärrecht (zu den Rechtsquellen des Unionsrechts vgl. Herdegen, Europarecht, § 8 Rz. 1 ff., und Schroeder, Europarecht, § 6 Rz. 1 ff.). Grundlegend hierzu sind die Urteile des EuGH v. 5.2.1963 (C-26/62 – van Gend u. Loos / Niederländische Finanzverwaltung) in curia.europa.eu und v. 15.7.1964 (C-6/64 – Flaminio Costa / E.N.E.L.) in curia.europa.eu.
Rz. 4
Hierdurch hat der EuGH das Verhältnis zwischen Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht der Mitgliedstaaten bestimmt. Danach binden die Verträge (jetzt EUV und AEUV, dazu Rz. 5) nicht nur die Mitgliedsstaaten (jetzt Unionsstaaten), sondern begründen innerstaatlich unmittelbar subjektive öffentlich-rechtliche Rechte und Pflichten (zur Durchgriffswirkung von VO der EU vgl. auch Rojahn, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 24 Rz. 32). Das heutige primäre und sekundäre Unionsrecht bildet daher, wie zuvor das Gemeinschaftsrecht, eine eigenständige Rechtsordnung, die auch gegenüber später ergangenem nationalen Recht vorgeht. Die Regel "lex posterior derogat legt priori" gilt im Verhältnis zwischen nationalem Recht und Unionsrecht nicht. Obwohl die Unionsrechtsordnung völkervertragsrechtlich zwischen den Unionsstaaten auf der Grundlage der Gegenseitigkeit begründet wurde, ist mit ihr eine autonome Rechtsordnung entstanden (hierzu Herdegen, Europarecht, § 5 Rz. 11 ff.; Schroeder, Europarecht, § 8 Rz. 1 ff.). Die aus der Unionsrechtsordnung folgenden Rechte und Pflichten dürfen nicht einseitig durch später ergehende innerstaatliche Maßnahmen der Unionsstaaten geändert werden.
Rz. 5
Bedeutung erlangt das in § 6 SGB IV fixierte Subsidiaritätsprinzip insbesondere bei der Aus- und Einstrahlung. Die §§ 4 und 5 werden durch die Entsenderegelungen der VO (EG) 883/2004 bzw. der der VO (EWG) 1408/71 (hierzu die Komm. zu §§ 4 und 5 SGB IV) und zwischenstaatlicher Sozialversicherungsabkommen verdrängt. Lediglich wenn es keine über- und zwischenstaatlichen Regelungen gibt, sperrt § 6 SGB IV nicht und der Weg in die Anwendung der §§ 4, 5 SGB IV ist frei (hierzu LSG Hessen, Beschluss v. 5.12.2011, L 3 U 174/10, juris, wonach es im Verhältnis zu Südafrika keine Regelungen des über- oder zwischenstaatlichen Rechts i. S. v. § 6 SGB IV gab).
Rz. 6
Die Regelungen der §§ 4 und 5 SGB IV haben nur eine Auffangfunktion für Fallgestaltungen bezogen auf diejenigen Staaten, gegenüber denen die Bundesrepublik weder durch ein bilaterales Sozialversicherungsabkommen noch durch einen multilateralen Vertrag gebunden ist. Solche Regelungen des über- und zwischenstaatlichen Rechts haben gemäß § 6 Vorrang vor § 5. Es ist deshalb an erster Stelle zu prüfen, ob auf den konkreten Sachverhalt primäres oder sekundäres Gemeinschaftsrecht Anwendung findet, welches eine vorrangige Kollisionsregelung enthält. In einem zweiten Schritt ist zu prüfen, ob der konkrete Sachverhalt von einem zwischenstaatlichen Abkommen erfasst ist.