Rz. 10
Weitere Ausnahmen von dem Grundsatz, Einnahmen rechtzeitig und vollständig zu erheben, können durch den Abschluss eines Vergleichs mit der Anspruchsgegnerin/dem Anspruchsgegner eintreten. § 76 Abs. 4 und 5 regelt grundsätzlich den Abschluss von Vergleichen.
Rz. 11
Die Änderung von Verträgen zum Nachteil des Bundes, die in § 31 Abs. 1 Satz 1 HGrG thematisiert und in § 58 Abs. 1 Nr. 1 BHO für den Bundesbereich unter bestimmten Voraussetzungen zugelassen ist, ist im SGB IV für die Versicherungsträger nicht vorgesehen, es sei denn, es handelt sich um einen der in den § 76 Abs. 4 und 5 zugelassenen Vergleiche.
Rz. 12
Vergleich ist eine gerichtliche oder außergerichtliche Vereinbarung, die einen Streit oder die Ungewissheit über ein Rechtsverhältnis im Wege des gegenseitigen Nachgebens beendet. Der Ungewissheit über ein Rechtsverhältnis steht es gleich, wenn die Verwirklichung eines Anspruchs unsicher ist (§ 779 BGB). Das Merkmal des gegenseitigen Nachgebens ist durch Auslegung zu ermitteln und zu dokumentieren.
Insoweit ist der Versicherungsträger bei der Ausgestaltung und dem Abschluss von Vergleichen grundsätzlich frei. Der Vergleich muss jedoch in allen zugelassenen Fällen für den Versicherungsträger wirtschaftlich und zweckmäßig sein.
Wirtschaftlich ist der Vergleich, wenn die finanziellen Vorteile des gegenseitigen Nachgebens für den Versicherungsträger größer sind als bei einer streitigen gerichtlichen Entscheidung oder als bei normalem Verlauf des Einziehungsverfahrens zu erwarten wäre. Wirtschaftlich ist ein Vergleich auch dann, wenn mittels einer Einmalzahlung voraussichtlich ein höherer Betrag zu erzielen ist, als wenn die Anspruchsgegnerin bzw. der Anspruchsgegner kleine Raten über einen längeren Zeitraum zahlt. Das Risiko eines kompletten Zahlungsausfalls ist mitzubewerten.
Zweckmäßigkeit geht weiter als Wirtschaftlichkeit. Ein Vergleich kann trotz zu bejahender Wirtschaftlichkeit nicht zweckmäßig sein, wenn er negative präjudizielle Auswirkungen auf ähnlich gelagerte Fälle hat oder der Versicherungsträger aus grundsätzlichen Erwägungen heraus ein Interesse an der gerichtlichen Klärung der Rechtslage hat. Bei Forderungen aus einer vorsätzlich begangenen unerlaubten Handlung ist ein Vergleich aus Gründen der Prävention grundsätzlich nicht zweckmäßig.
Der Vergleich wird mit seinem Abschluss wirksam. Der Vergleich ist erfüllt, wenn der vereinbarte Betrag vollständig und rechtzeitig geleistet wird. Durch den vollständigen und rechtzeitigen Zahlungseingang erlischt die Restforderung.
Rz. 13
Soweit rückständige Beitragsansprüche betroffen sind, kann die Einzugsstelle nach Abs. 4 Satz 1 einen Vergleich schließen, wenn dies für sie, die beteiligten Träger der Rentenversicherung und die Bundesagentur für Arbeit wirtschaftlich und zweckmäßig ist. Obwohl in Abs. 4 Satz 1 nur Beitragsansprüche angesprochen sind, bezieht sich die Bestimmung nach den Gesamtumständen auf den Gesamtsozialversicherungsbeitrag. Die Einzugsstelle darf derartige Vergleiche, wenn deren Höhe die Bezugsgröße nach §§ 18 und 17 Abs. 2 insgesamt übersteigt, nur im Einvernehmen mit den beteiligten Trägern der Rentenversicherung und der Bundesagentur für Arbeit abschließen. Wie dieses Einvernehmen in der Praxis konkret herzustellen ist, ist im Gesetz nicht näher geregelt. Es eröffnen sich damit Gestaltungsspielräume, z. B. in Form eines generellen Einvernehmens. Die Träger der Unfallversicherung und die Träger der Rentenversicherung können Vergleiche über rückständige Beitragsansprüche schließen; Letztere nur, soweit es sich nicht um Ansprüche aus dem Gesamtsozialversicherungsbeitrag handelt (Abs. 4 Satz 3 und 4).
Rz. 14
Für die Bundesagentur für Arbeit ist in Abs. 5 der Abschluss von Vergleichen nicht auf bestimmte Bereiche beschränkt. Die Voraussetzungen der Wirtschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit müssen jedoch ebenfalls vorliegen. Im Übrigen ist für Vergleichsverträge auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts auf § 54 SGB X hinzuweisen. Vergleichsverträge können geschlossen werden, wenn der Abschluss zur Beseitigung der Ungewissheit über das Rechtsverhältnis bzw. über die Erfolgsaussichten einer Realisierung des Anspruchs nach pflichtgemäßem Ermessen für zweckmäßig gehalten wird. Die Voraussetzung der Wirtschaftlichkeit ist in § 54 SGB X nicht genannt. Zweckmäßigkeit setzt jedoch Wirtschaftlichkeit voraus. Die Verpflichtung des Versicherungsträgers zur Beachtung des Grundsatzes der Wirtschaftlichkeit ergibt sich bereits aus § 69 Abs. 2.