Rz. 12
Der besonders schwerwiegende Fehler muss zudem offensichtlich (evident) sein. Da die Nichtigkeit den VA für jedermann unbeachtlich macht, darf es im Interesse der Rechtssicherheit daran keinen Zweifel geben. Soweit sich diese Offensichtlichkeit allerdings erst aus der verständigen Würdigung aller bei und für den Erlass des VA in Betracht kommenden Umstände ergeben kann oder muss, setzt dies die Kenntnis dieser Umstände voraus.
Die Offensichtlichkeit ist nicht von der subjektiven Erkennbarkeit des Fehlers beim Adressaten abhängig. Abzustellen ist vielmehr auf die Erkennbarkeit des Fehlers für den Durchschnittsbürger, der ohne besondere Sachkenntnis (BSG, Urteil v. 23.2.2005, B 2 U 409/04 B) oder zusätzliche Aufklärungs- oder Beweismittel anhand der Umstände im Zusammenhang mit dem Erlass des VA zu dem Schluss kommen muss, dass die getroffene Entscheidung nicht rechtmäßig sein kann. In die gleiche Richtung dürfte die Formel von dem "zwar aufgeschlossenen, aber nicht besonders sach- und rechtskundigen Durchschnittsbetrachter" gehen (LSG Rheinland-Pfalz, Urteil v. 14.06.2007, L 5 KA 42/06). Dabei kommt es also nicht auf die Betrachtungsweise einer spezifisch juristisch geschulten Person an. Vielmehr ist – etwa nach dem Leitbild eines ehrenamtlichten Richters – darauf abzustellen, ob ein urteilsfähiger unvoreingenommener Bürger, der die Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände verständig nachvollzieht, mit Gewissheit zu dem Ergebnis kommen muss, dass ein besonders schwerwiegender Fehler des VA vorliegt (vgl. BSG, Urteil v. 7.9.2006, B 4 RA 43/05 R). Diese Voraussetzungen dürften dann nicht mehr erfüllt sein, wenn erst eine sorgfältige Prüfung zu der Erkenntnis des besonders schwerwiegenden Fehlers führt (a. A. BSG, a. a. O., wobei der Begriff der Offensichtlichkeit jedoch überspannt werden dürfte; im entschiedenen Fall hat das BSG im Ergebnis die Offensichtlichkeit verneint). Das SG Marburg (Urteil v. 11.7.2007, S 12 KA 711/06) meint, dass Regressbescheide, die an einen Vertragsarzt ergehen, der gleichzeitig Gemeinschuldner ist, dann nichtig sind, wenn sie während des laufenden Insolvenzverfahrens ergehen und Zeiträume betreffen, die vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens liegen. Keine Nichtigkeit wegen fehlender Offensichtlichkeit liegt im Vertragsarztrecht vor, wenn ein Prüfungsausschuss mangels Neubildung nicht handlungsfähig ist (LSG Rheinland-Pfalz, Urteil v. 14.6.2007, L 5 KA 42/06, im Ergebnis ebenso nachfolgend BSG, Urteil v. 28.1.2009, B 6 KA 11/08 R). Ein Bescheid, der europäische Kollisionsnormen verkennt und daher rechtswidrig erging, ist mangels Offensichtlichkeit des Fehlers nicht nichtig (BSG, Urteil v. 3.4.2014, B 2 U 25/12 R), wenn ein Durchschnittsbürger ohne besondere Sachkenntnis den Fehler nicht erkennen kann (hier: Jagdpächter, der niederländischem und nicht deutschem Sozialrecht unterliegt).
Bescheide sind nicht bereits deshalb nichtig, weil der Bescheidverfasser nicht aus dem Bescheid hervorgeht, weil ein solcher Mangel bei automatisch erstellten VA nicht offensichtlich ist (BSG, Urteil v. 23.6.1994, 12 RK 82/92). Die Mitwirkung einer Person am Verwaltungsverfahren, bei der die Besorgnis der Befangenheit besteht, begründet nicht die Nichtigkeit eines VA (BSG, Urteil v. 28.9.1993, 1 RR 3/92, SozR 3-1300 § 40 Nr. 1; LSG Baden-Württemberg, Beschluss v. 21.12.2007, L 7 SO 217/07, vgl. aber Komm. zu Abs. 3 in Rz. 22 ff.).
Eine Eingliederungsvereinbarung nach dem SGB II ist unabhängig von der Einordnung ihrer Rechtsqualität nichtig, wenn sie die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts regelt (BSG, Urteil v. 2.4.2014, B 4 AS 26/13 R).