Rz. 15
Auch die für schriftliche oder elektronische oder entsprechend bestätigte VA nach § 35 erforderliche Begründung, die an sich dem VA beizufügen oder auf Aufforderung nachzuholen ist (§ 35 Abs. 3), kann noch nachgeholt werden. Hierbei kann es sich nur um eine Begründung an sich handeln, denn nur diese gehört zu den Form- oder Verfahrensfehlern bei Erlass des VA. Auch eine falsche Begründung genügt grundsätzlich den Formvorschriften, so dass keine Heilungsbedürftigkeit besteht, wenn die Begründung nicht fehlt, sondern inhaltlich falsch ist. Ob der VA materiell rechtmäßig ist, bestimmt allein das materielle Recht. Die Behörde ist nicht gehindert, nach Erlass des VA eine unvollständige oder missverständliche Begründung oder fehlerhaft zitierte Rechtsvorschriften zu ergänzen oder zu berichtigen. Auch kann sie noch im Klageverfahren tatsächliche Gründe nachschieben oder rechtliche Begründungen geben, die die materielle Rechtmäßigkeit des VA zum Zeitpunkt seines Erlasses begründen und stützen. Gründe tatsächlicher Art müssen jedoch bereits bei Erlass des VA vorgelegen haben, wobei es allerdings nicht ausgeschlossen ist, später bekannt werdende objektive Tatsachen als Indiz für schon früher vorliegende Verhältnisse zu werten.
Eine Grenze für das Nachschieben von Gründen besteht darin, dass hierdurch die Regelung des VA selbst in ihrem Wesen nicht verändert werden darf (BSG, Urteil v. 29.6.2000, B 11 AL 85/99 m. w. N. = BSGE 87 S. 8 = SozR 3-4100 § 152 Nr. 9). Eine solche Wesensveränderung kann anzunehmen sein, wenn die Regelung auf einen anderen Lebenssachverhalt gestützt wird (BSGE, a. a. O.), was aber bei einem Austausch der Ermächtigungsgrundlagen nach § 48 und § 45 im Recht der Arbeitsförderung (§ 330 Abs. 2 SGB III) nicht der Fall sein soll (BSG, a. a. O.), obwohl bei § 45 ggf. eine (andere) Verschuldensprüfung zu erfolgen hat. Begründet hat das BSG diese Entscheidung damit, dass bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 45 (grobe Fahrlässigkeit etc.) keine Schutzbedürftigkeit des Adressaten vorliege und es nicht grundsätzlich an einer Begründung mangele, sondern diese nur fehlerhaft sei. Stützt die Behörde ihre Ablehnung von Blindengeld an einen bosnischen Staatsangehörigen zunächst darauf, dass kein rechtmäßiger Aufenthaltsstatus vorliege und schiebt sie dann nach, dass die Ablehnung auf den Leistungsausschluss in § 9 AsylbLG gestützt werde, soll ebenfalls keine Änderung des Wesensgehaltes des VA vorliegen (LSG Sachsen-Anhalt, Urteil v. 18.9.2013, L 7 BL 1/10).
Rz. 16
Besondere Bedeutung hat das Nachholen der Begründung auch bei Ermessensentscheidungen, wenn die Ermessenserwägungen nicht oder nicht ausreichend im Ausgangsbescheid wiedergegeben waren. Nach der bis zum 31.12.2000 geltenden Fassung des Abs. 2 konnten Ermessenserwägungen nur bis zum Abschluss des Widerspruchsverfahrens nachgeholt werden, so dass es der Verwaltung verwehrt war, entsprechende Fehler noch im Gerichtsverfahren zu heilen. Dies führte regelmäßig zur Aufhebung der Bescheide. Nach der zum 1.1.2001 in Kraft getretenen Neufassung des Abs. 2 ist nunmehr eine Ergänzung der Begründung auch um die Ermessenserwägungen für die getroffene Entscheidung bis zum Ende der letzten Tatsacheninstanz möglich. Es besteht jedoch durch diese gesetzliche Neuregelung bei belastenden VAen ein Spannungsverhältnis zum Rechtsstaatsprinzip, dem das BSG in einer früheren Entscheidung noch zum alten Recht die Regelung entnommen hat, der Verwaltung sei es verwehrt, das Fehlen der gesetzlich gebotenen rechtzeitigen Begründung durch einen denselben Regelungsgegenstand betreffenden Bescheid während des Gerichtsverfahrens zu ersetzen (BSG, Urteil v. 15.2.1990, 7 RAr 28/88 = SozR 3-1300 § 45 N. 1). Insbesondere bei ermessensabhängigen Eingriffen der Verwaltung in bestandskräftig zugestandene Rechte müssten die betroffenen Bürger schon für ihre Entscheidung, ob sie dagegen klagen sollen, wissen, von welchen Erwägungen die Verwaltung ausgegangen sei. Andernfalls bestehe die Gefahr, dass die Verwaltung im Einzelfall erst einmal abwartet, ob Klage erhoben wird, und erst danach dem Betroffenen mitteilt, was für die Entscheidung als maßgeblich angesehen wurde. Leidtragende hieraus seien alle Bürger, die auf rechtsstaatliches Handeln der Verwaltung vertrauten und in Unkenntnis der maßgeblichen Gründe für die Aufhebung eines sie begünstigenden VA dessen Aufhebung hinnehmen (BSG, a. a. O.). Über diese Bedenken hat sich der Gesetzgeber bei der Neufassung des Abs. 2 aber offenbar hinweggesetzt und dem Interesse an einer vollständigen Entscheidung des Streitfalles den Vorrang eingeräumt (vgl. auch die Ausführungen des großen Senates des BSG, Beschluss v. 6.10.1994, GS 1/91 = SozR 3-1300 § 41 Nr. 7 zur Möglichkeit der Ersetzung des fehlerhaften VA durch einen neuen VA nach § 96 SGG).
Rz. 17
Fraglich ist, ob ein Gerichtsverfahren auszusetzen ist, um der Verwaltung das Nachschieben von Ermessenserwägungen zu ermöglichen. § 114 Abs. 2 SGG enthält zwar, anders als § 114 Satz 2 VwGO, der a...