2.1 Anwendungsbereich der Vorschrift
Rz. 3
Die Vorschrift findet grundsätzlich nur Anwendung auf bereits bei Erlass objektiv rechtswidrige VA, woraus sich die Verwendung des Begriffs der Rücknahme ergibt. Es muss sich um einen wirksamen begünstigenden VA handeln. Bei der Beurteilung der Rechtswidrigkeit kommt es nur auf objektive Umstände, nicht auf den Kenntnisstand der Behörde an (LSG Baden-Württemberg, Urteil v. 16.6.2016, L 10 R 3153/13). Anwendbar ist die Regelung sowohl auf noch wirksame als auch auf bereits erledigte VA, wie die Möglichkeit der auch rückwirkenden Rücknahme zeigt. Sie erfasst VA mit und ohne Dauerwirkung. Die Vorschrift ist bei tatsächlicher bescheidloser Leistungsgewährung, z. B. bei einem nichtigen VA, entsprechend anzuwenden (§ 50 Abs. 2). Die Ersetzung eines VA stellt sich als Aufhebung des ursprünglichen VA und Erlass eines neuen VA dar, wobei auf die Aufhebungskomponente § 45 anwendbar sein kann (Hess. LSG, Urteil v. 14.10.2009, L 6 AL 154/07). Bestandskräftig verbeschiedene Betriebsprüfungszeiträume dürfen nur nach § 45 Gegenstand eines neuen Prüfbescheides werden (Bay. LSG, Beschluss v. 13.8.2012, L 5 R 595/12 B ER). Die Widerrufsregelungen des § 28f Abs. 2 SGB IV verdrängen nicht die Rücknahmeregelung in § 45 SGB X (LSG Schleswig-Holstein, Beschluss v. 25.4.2016, L 5 KR 41/16 B ER).
Rz. 3a
Zwingend ist aber, dass ein VA erlassen worden ist, so dass z. B. ein Scheinverwaltungsakt nicht ausreicht, um ein Vorgehen gemäß § 45 Abs. 1 zu ermöglichen. Unter einem Scheinverwaltungsakt oder auch Nichtakt ist dabei eine Handlung zu verstehen, die von jemandem herrührt, der unter keinem denkbaren Gesichtspunkt zu behördlichem Handeln befugt ist (BSG, Urteil v. 4.9.2013, B 10 EG 7/12 R). Hierzu gehören auch erzwungene Handlungen und Scherzerklärungen. Kein Scheinverwaltungsakt, sondern ein unter § 45 Abs. 1 fallender VA liegt vor, wenn ein Behördenmitarbeiter seine Befugnisse missbraucht und in der Absicht der eigenen Bereicherung Leistungsbescheide über Elterngeld trotz nicht existierender Kinder erlässt. Hatte die Vorinstanz hier noch einen Scheinverwaltungsakt angenommen, weil ein bewusst und gewollt strafbares Handeln der Behörde nicht zurechenbar sei, so ist das BSG dem nicht gefolgt und hat unter Hinweis auf die zivilrechtlichen Regelungen über die Überschreitung der Vertretungsmacht ein der Behörde zurechenbares Verhalten und damit einen Verwaltungsakt angenommen (BSG, Urteil v. 4.9.2013, B 10 EG 7/12 R mit zustimmender Anm. Schneider-Danwitz, SGb 2014 S. 271).
Rz. 3b
Keine Anwendung findet die Vorschrift auf VA, die erst später infolge einer Änderung des Rechts oder des maßgeblichen Sachverhaltes rechtswidrig geworden sind (vgl. hierzu § 48). Die Abgrenzung zwischen § 45 und § 48 kann im Einzelfall schwierig sein, insbesondere, wenn die Leistungsbewilligung auf der Basis einer Prognose erfolgt (vgl. hierzu Stölting/Greiser, SGb. 2015 S. 135, 142). So kann ein Fall von § 48 vorliegen, wenn nachträglich nicht vorhergesehene Umstände eintreten, wie z. B. der Wegfall der subjektiven Bereitschaft zur aktiven Teilnahme an einer Bildungsmaßnahme. Anders wird der Fall liegen, wenn bereits bei Erlass des Bewilligungsbescheides eine fehlerhafte Prognose gestellt wurde und sich etwa aufdrängte, dass von vornherein keine hinreichende Bereitschaft zur Teilnahme an einer Bildungsmaßnahme bestand (dann anfängliche Rechtswidrigkeit und Aufhebung der Bewilligung nur nach § 45). Liegt bei einem Rentenbezug bereits zum Zeitpunkt des Erlasses eines Rentenbescheides ein Hinzuverdienst vor, ist der Bescheid von Anfang an rechtswidrig und nicht erst dann, wenn der für das anzurechnende Arbeitseinkommen einkommenssteuerrechtlich erst nach Ablauf des Kalenderjahres rückwirkend feststand (Jährling-Rahnefeld, SGb 2013 S. 715 Anm. zu BSG, Urteil v. 9.10.2012, B 5 R 8/12). Die vom Rentenversicherungsträger erstellte Prognose hat sich dann als von Anfang an falsch erwiesen. Wird eine Witwenrente auf Dauer und unbefristet bewilligt, obwohl aus Rechtsgründen nach einer anrechnungsfreien ZeitEinkommen anzurechnen ist, so ist der Bescheid von Anfang an rechtswidrig und nach § 45 anstelle von § 48 aufzuheben (LSG Baden-Württemberg, Urteil v. 16.6.2016, L 10 R 3153/13; a. A. LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil v. 9.1.2004, L 13 RJ 115/01; LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil v. 7.3.2008, L 2 R 281/07).
Bewilligt eine Behörde endgültige Leistungen in Gestalt eines Kinderzuschlages, obwohl das anzurechnende Einkommen noch nicht abschließend ermittelbar ist, kommt eine Leistungsaufhebung allein auf der Grundlage des § 45, nicht jedoch auf der Grundlage von § 48 in Betracht (SG Cottbus, Urteil v. 16.12.2013 unter Hinweis auf BSG, Urteil v. 21.6.2011, B 4 AS 22/10 R). Dies führt auch zur Anwendung der Vertrauensschutzregelungen des § 45, die nur dadurch umgangen werden können, dass die Behörde die Regelung ausdrücklich nur vorläufig erlässt (a. A. Jährling-Rahnefeld, SGb 2013 S. 717: nur Vorschusszahlung nach § 42 SGB I möglich). Fehlt der Hinweis auf die Vorläufigkei...