Rz. 12
Die grundsätzlich zulässige Rücknahme wird durch den Vertrauensschutz in den wirksamen und bestandskräftigen VA rechtlich begrenzt. Geschützt wird im Interesse der Rechtsbeständigkeit die subjektive Vorstellung des Begünstigten, dass der VA bei unveränderter Sach- und Rechtslage mit dem ihm bekannt gegebenen (§ 39 Abs. 1 Satz 2) oder umgedeuteten (§ 43) Inhalt rechtmäßig war. Das Vertrauen muss dargelegt werden, denn es kommt auf das tatsächliche subjektive Vertrauen in den Bestand des VA an, nicht darauf, vertrauen zu dürfen oder zu können. Das fehlende subjektive Vertrauen muss die Behörde als Voraussetzung für die Zulässigkeit der Rücknahme nachweisen, d. h. sie trägt die objektive Beweislast, wenn der Adressat des VA glaubhaft Vertrauensschutz darlegt und sich diese Einlassung – etwa aufgrund äußerer Umstände – nicht widerlegen lässt. Auch bei einer in dem VA unzulässig enthaltenen auflösenden Bedingung wird in der Regel kein tatsächliches Vertrauen entstehen können.
Rz. 13
Das Vertrauen in den Bestand des VA muss unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse das Interesse an der Rücknahme des VA übersteigen, woraus sich die objektive Schutzwürdigkeit ergibt. Ist Schutzwürdigkeit gegeben, besteht schon kein Recht der Behörde zur Rücknahme. Zu dem öffentlichen Interesse gehört der Grundsatz der Rechtmäßigkeit der Verwaltung (Art. 20 Abs. 3 GG, § 31 SGB I), insbesondere hinsichtlich der ordnungsgemäßen Verwendung der Beiträge der Solidargemeinschaft und der gesetzlichen Gleichbehandlung der Berechtigten und Verpflichteten. Im Rahmen der Abwägung der beiderseitigen Interessen sind die Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen; etwa gleichzeitige Belastung des Begünstigten durch den VA, die seit dem Erlass des VA verstrichene Zeit, soweit nicht ohnehin Abs. 3 eingreift, oder eine zwischenzeitliche Bestätigung des VA. Die Schutzwürdigkeit gehört zu den Tatbestandsmerkmalen. Sie ist ein unbestimmter Rechtsbegriff und daher gerichtlich voll nachprüfbar.
Rz. 14
Als einen Regelfall der Schutzwürdigkeit, also ein überwiegendes Interesse des Betroffenen, nennt das Gesetz den Fall, dass der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht hat. Kein Verbrauch liegt vor, wenn der Begünstigte Rücklagen, die er sonst zu seinem Lebensunterhalt verwendet hätte, nicht angegriffen oder aus der Leistung gebildet hat. Bei laufenden i. d. R. zum Lebensunterhalt erbrachten Leistungen wie Renten, Lohnersatzleistungen etc. wird man davon ausgehen müssen, dass diese zweckentsprechend verbraucht wurden. Bei größeren Nachzahlungen wird man jedoch den Nachweis des Verbrauchs verlangen können, ebenso wie eine unrechtmäßig laufende Sozialleistung zusätzlich zu anderen Einkünften (vorzeitige Renten oder Renten wegen Erwerbsminderung neben Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen) die Prüfung des Verbrauchs oder der Rücklagenbildung gestattet.
Rz. 15
Die Schutzwürdigkeit des Vertrauens ist i. d. R. auch zu bejahen, wenn der Begünstigte eine nicht oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig zu machende Vermögensdisposition im Vertrauen auf den Bestand des VA getroffen hat. Der Begriff der Vermögensdisposition muss weit gefasst werden. So sind darunter auch alle Maßnahmen zu verstehen, die sich auf die wirtschaftliche Lebensgrundlage des Begünstigten auswirken. Eine Vermögensdisposition kommt allerdings als Vertrauenstatbestand nur dann in Betracht, wenn sie nach Erlass und aufgrund des VA getroffen wurde (BSG, Urteil v. 28.11.1985, 11b/7 RAr 128/84, SozR 1300 § 45 Nr. 20). Innerhalb des fürsorgerechtlichen Systems des SGB II besteht eine grundsätzliche Pflicht des Leistungsempfängers, bedarfssteigernde Schuldentilgungen zu unterlassen (BSG, Urteil v. 18.2.2010, B 14 AS 76/08 R unter Hinweis auf BSG, SozR 4-4200 § 11 Nr. 18), so dass die Einlassung, eine verschwiegene Vorschusszahlung zur Tilgung von Schulden verwendet zu haben, nicht ohne weiteres zu einem Vertrauensschutztatbestand führt. Liegt hierbei – wie häufig – grobe Fahrlässigkeit vor, ist der Vertrauensschutz ohnehin ausgeschlossen (BSG, a. a. O.; vgl. auch Rz. 16). Zur Einlassung, eine zwischenzeitlich erhaltene Erbschaft vor dem Fortzahlungsantrag auf Gewährung von SGB II-Leistungen verbraucht zu haben, vgl. LSG Sachsen, Urteil v. 21.2.2011, L 7 AS 725/09.
Die alleinige Verantwortlichkeit des Rentenversicherungsträgers für die Rechtswidrigkeit eines Rentenbescheides (hier: Verdoppelung der Entgeltpunkte) genügt nicht, um das öffentliche Interesse an der Einstellung einer rechtswidrigen Rente als weniger gewichtig anzusehen (LSG Berlin-Brandenburg, Urteil v. 15.5.2013, L 12 R 970/09). Keine Schutzwürdigkeit des Vertrauens hat das LSG Rheinland-Pfalz im Fall einer rechtswidrigen Rentengewährung angenommen, die zu dem Bezug einer Rente geführt hätte, die um fast 87 % über der dem Kläger gesetzlich zustehenden Rente gelegen hätte. Zwar hat das LSG angenommen, der Kläger habe auf die Richtigkeit der rechtswidrigen Entscheidung vertraut, es hat dieses Vertrauen aber unter Abwägung...